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Bemerkungen zum Prozess religiöser Evolution

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Das Christentum war immer verflochten mit dem Kulturprozess. Doch blieb seine evolutionäre Seite unbemerkt. Denn Evolution ist nicht Revolution. Evolution ist ein schleichender Prozess, der, besonders wenn er langsam vorankommt, sich im Verborgenen vollziehen kann. Sicher hat die Überzeugung von der ewigen Wahrheit der christlichen Lehre auch retardierend gewirkt und jedenfalls den Blick für Veränderungen getrübt. Dazu kommt, dass das Grundlagenbuch Bibel Entwicklung weder dem Begriff noch der Sache nach kennt. Die katholische Kirche steht zwar von Hause aus dem Entwicklungsgedanken aufgeschlossener gegenüber als die bibelorientierte evangelische Kirche, weil sie drei Offenbarungsquellen (Hl. Schrift, Tradition und Lehramt) annimmt. Aber sie kann aufgrund ihres Wahrheitsbegriffes, der eine von Anfang des Christentums an gegebene unveränderliche Wahrheit postuliert, die Entwicklung ihrer Glaubenslehre eigentlich nur als Entfaltung der ursprünglichen Wahrheit verstehen1. Es geht also nicht um eine Entwicklung im Sinne der Evolutionstheorie, die annimmt, dass Neues entsteht, aber auch Altes vergeht.

Freilich ist die Evolutionseinsicht noch jung, und der Prozess ihrer Durchsetzung auf allen Ebenen braucht Zeit. Das gilt auch für die angemessene Relativierung des statischen religiösen Wahrheitsbegriffs. Der kulturelle Beschleunigungsprozess der Neuzeit hat erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Erkenntnis der Naturevolution geführt und es erst zuletzt immer wahrscheinlicher werden lassen, dass strukturelle Analogien zwischen biotischer und kultureller Evolution bestehen.

Geistige Strömungen korrespondieren dem jeweiligen Stand der Weltbemächtigung. Auch die europäische Aufklärung ist nur denkbar auf dem Hintergrund der Weltbildveränderung, der Zunahme des Tatsachenwissens und der daraus resultierenden besseren Beherrschung und Nutzung der natürlichen Bedingungen und Ressourcen. Nur so wurden mehr Freiheit und Eigenverantwortung möglich. Das wird von Kant in seiner berühmten Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei, nicht berücksichtigt, wenn er die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definiert2. Erst ab einem gewissen Grad an Weltbeherrschung konnte das allgemeine Selbstbewusstsein wachsen und führte dann zur Infragestellung älterer Lebens- und Gesellschaftsentwürfe.

Religionsentwicklung ist der Spezialfall der kulturellen Evolution. Mit der Aufklärung gerät die christliche Religion unter starken Veränderungsdruck. Die Gedankenwelt der Menschen verändert sich in Richtung auf ein säkulareres Welt- und Lebensverständnis und drängt klassische christliche Denkfiguren zurück. Die sprunghafte Zunahme von Sachwissen seit dem 18. Jahrhundert hat die Lebensbedingungen immer weiter und zum Besseren verändert. Wer anders lebt, denkt auch anders, was wiederum Auswirkungen auf die religiöse Vorstellungswelt hat. Heute fügt ein Heer von Wissenschaftlern in den Industriestaaten täglich neue Wissensmengen hinzu, die niemand mehr überblicken kann. Aber die Auswirkungen spüren alle. Fortschreitende Technisierung, neue Medikamente, preiswerte Massenproduktion, vermehrte Freizeit usw. haben zwar nicht nur Vorteile gebracht, aber verglichen mit früheren Zeiten das Leben um einiges sicherer, leichter und vielgestaltiger gemacht. Natürlich haben die Menschen die Welt auch heute nicht voll im Griff, das Lebensrisiko bleibt, aber es konnte verringert werden. Vieles, was früher Angst machte, viele Phänomene, denen man hilflos ausgeliefert war, haben ihre Schrecken verloren, weil man natürliche Erklärungen fand und daraufhin Gegenmaßnahmen ergreifen konnte.

Die immer umfassender und exakter werdenden Kenntnisse von den Bedingungen dieser Welt und die sich auf dieser Grundlage verändernde Lebenswelt konnten nicht ohne Auswirkungen auf die überlieferte Religion bleiben:

1. Je mehr man sich mit der Welt beschäftigte und ihre Möglichkeiten nutzen konnte, desto wertvoller wurde das Leben auf ihr. Gedanken an eine jenseitige Welt und eine Erlösung, die den Eintritt in die jenseitige Welt ermöglichen sollte, traten zurück, verschwinden aber nicht völlig, weil Fragen wie ‚Wo komme ich her?‘ oder ‚Was kommt nach dem Tod?‘ allgemeinmenschlich sind und immer wieder gestellt werden.

2. Je besser man die Welt aus sich selber verstehen und ihre Gesetze anwenden konnte, desto weniger war man auf die Hilfe Gottes angewiesen. Und je besser man die lebensfeindlichen Kräfte bannen konnte, desto mehr verlor der Glaube, die Übel der Welt seien Strafen Gottes, an Zustimmung. Auch ein wunderhaftes Eingreifen Gottes wurde und wird immer weniger erwartet. Aber weil Leid und unzeitiger Tod sich trotz allen menschlichen Erfindungsgeistes nicht ausschalten lassen, stellt sich die Theodizeefrage umso dringlicher.

3. Der Gottesgedanke tritt schon rein quantitativ zurück. Die Erfordernisse und Chancen modernen Lebens verlangen volle Aufmerksamkeit, so dass es in Alltags- und Freizeitbetätigungen oft gar nicht möglich ist, an Gott zu denken. Gleichwohl verschwindet die Frage nach Gott, weil sie allgemeinmenschlich ist, nicht völlig, verlangt aber nach neuen Antwortmodellen. Der Lebensstil ist weltlicher geworden. Denn auch für breite Schichten ist das Leben sorgloser und leichter geworden, und es bietet immer mehr Abwechslung. Da ist es kein Wunder, dass die Religionsausübung nachgelassen hat. Es wird weniger gebetet, weniger am Kultus teilgenommen, weil die Notwendigkeit regelmäßiger Frömmigkeitsübung nicht mehr einsichtig ist. Vielfach werden nur die Kasualien der Kirchen in Anspruch genommen. Oder der Einzelne kann den Lebensbereich Religion ganz aus seinem Leben ausklammern. Trotzdem verschwindet Religion nicht. Doch welchen Stellenwert, welche Bedeutung soll sie haben? Die Antwort, das müsse jeder selbst wissen, greift zu kurz. Jeder Mensch ist auf Modelle und Vorschläge, mindestens auf allgemeine Trends angewiesen, auch wenn er seine Entscheidung selber treffen will und muss3.

4. Das Menschenbild veränderte sich. Die von der christlichen Tradition verkündigte Auffassung, nach der der Mensch vor allem Sünder sei, der der Erlösung bedarf, verlor an Boden. „Das Böse“ im Menschen wird zwar nicht geleugnet, aber anders erklärt und nicht einseitig als Wesen des Menschen gesehen. Das Wissen um die menschliche Bestimmtheit durch Gene und Umwelt hat das Bewusstsein von der Notwendigkeit gestärkt, die positiven Seiten des Menschen zu entwickeln und zu fördern. Die menschliche Existenz wird weniger im Zweierschema von Diesseits und Jenseits verortet gedacht. Die Menschen streben vor allem nach Ausschöpfung der irdischen Lebensmöglichkeiten. Die Frage ‚Was ist der Mensch?‘ ist damit aber nicht überholt.

Es sind vor allem die dogmatischen Setzungen des Christentums, die ihre Bedeutung für das Lebensverständnis der Bevölkerung weithin eingebüßt haben und häufig gar nicht mehr bekannt sind.

Diese allgemein bekannte, hier nur ganz grob skizzierte Entwicklung hat die gerichtete Tendenz der Lebensoptimierung. Dahinter steht die unübersehbare Fülle von Auseinandersetzungen im Großen wie im Kleinen bis hin zu den Entscheidungen in der Ontogenese des Einzelnen. Doch daneben gibt es die Schiene des ganz unspektakulären Schwindens traditioneller Auffassungen bzw. des Einsickerns angepassteren Gedankenguts. Es scheint, dass diese Schiene heute besonders mächtig ist, während die große Zeit des Ringens der christlichen Tradition mit der Moderne offenbar vorbei ist. Dies gilt gerade auch für kirchliche Milieus. In seiner Untersuchung katholischer eschatologischer Predigten konstatiert Ebertz, dass für die meisten neueren Predigten nicht „die offensive Distanzierung vom traditionellen eschatologischen Code typisch“ ist, „sondern eine defensive Distanz“. „Registrierbar ist … stillschweigendes Unterlassen: Das Weg- und Ausschweigen traditioneller eschatologischer Code- oder Diskursmerkmale“4.

Religiöse Evolution lässt sich nur als Trend beschreiben. Auch wenn die Traditionsverhaftung stark rückläufig ist, so ist sie doch nicht völlig überwunden. In der Feinbetrachtung lassen sich graduelle Unterschiede der Zustimmung zu traditionellem Glaubensgut feststellen. Und natürlich gibt es fundamentalistische und biblizistische Gruppen, die ein voraufklärerisches christliches Denken pflegen. Aber es sind in Mittel-West-Europa kleine Minderheiten, während die Mehrheit, wenn auch mit unterschiedlich stark ausgeprägtem Säkularisierungsprofil, dem großen Trend folgt. Er wird von den zahlreichen religionssoziologischen Umfragen der vergangenen Jahrzehnte wissenschaftlich untermauert5. Das Christentum hat seinen Charakter als Erlösungsreligion weitgehend verloren. Dass man sich die Heilstatsachen Tod und Auferstehung Christi im Glauben aneignen müsse, der Rechtfertigungslehre zustimmen müsse oder die Gebote Gottes erfüllen müsse, um die ewige Seligkeit zu erlangen, das sind Gedankenfiguren, die im Leben der allermeisten Mitteleuropäer keine Rolle mehr spielen. Die Hinwendung zum Diesseits hat aber auch, wie die Erhebungen zeigen, traditionelle Glaubenstopoi in Richtung Unanschaulichkeit verändert. Betroffen sind vor allem die Gottesvorstellung und die Eschatologie. Die personale Gottesvorstellung verliert an Boden. Und die Vorstellungen von Transzendenz, ewiger Seligkeit oder Gericht sind, sofern sie aufrechterhalten werden, unkonkret geworden.

Die Veränderungen in der religiösen Vorstellungswelt machen nicht an der Kirchentür Halt. Auch die mit den Kirchen enger verbundenen Mitglieder unterliegen dem Evolutionstrend. Vor allem aber sind die Geistlichen selbst, evangelische wie katholische, nicht nur vom „Modernisierungsstress“6 betroffen, sondern distanzieren sich auch in ihren Überzeugungen zunehmend von traditionellen Lehraussagen. Die Untersuchungen von Klaus-Peter Jörns u. a. belegen zwar, dass unter evangelischen Pfarrern und Theologiestudierenden von Berlin-Brandenburg traditionelle dogmatische Positionen noch weit mehr Zustimmung finden als in der Gesamtbevölkerung7, doch gibt es auch hier signifikante Rückläufigkeiten. Vor allem hat die klassische Vorstellung von Erlösung als Erlösung „von unserem sündigen Wesen“ an Überzeugungskraft verloren, und nur 21–28% der befragten Theologen sagen ausdrücklich, dass Gott für eine solche Erlösung nötig sei8.

Die Erosion traditionellen religiösen Gedankenguts erfolgt sicher häufig von außen nach innen. Kirchlich weniger oder gar nicht gebundene Bevölkerungsgruppen öffnen sich früher und leichter anderen Vorstellungen als der kirchliche Kern und das theologisch gebildete Personal. Im Einzelnen müssen die Dinge freilich differenziert gesehen werden. Erhellend sind hier die Forschungen von Ebertz zur Entwicklung eschatologischer Verkündigung in katholischen Predigten des 19. und 20. Jahrhunderts9. Dass erst im 20. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, „der traditionelle eschatologische Code“ von Hölle, Fegfeuer, Gottes Zorn und göttlichem Gericht aus katholischen Predigten nach und nach auswandert10, scheint verglichen mit der in breiten Bevölkerungskreisen längst erfolgten Distanzierung von solchem Gedankengut extrem spät. Andererseits erweisen sich die gleichen Predigten insofern als zeitkonform, als sie die zunehmende gesellschaftliche Tabuisierung von Gewalt in eine „Überakzentuierung der göttlichen Liebe, Güte und Barmherzigkeit“ transformieren11. Die „gewaltmetaphorischen Züge“ „aus den traditionellen Gottes- und Jenseitsvorstellungen“ werden weitestgehend „getilgt“12. „Der ‚liebe Gott‘ ist zur Leitformel, zur Basisorientierung in der eschatologischen Verkündigung geworden“13. Das entspricht dem evangelischen Predigttrend, wenn auch dort traditionelle eschatologische Vorstellungen schon länger emeritiert worden sind. Methodische Vorgänge der Anpassung hatte schon Schelsky beobachtet. Er nennt die Kategorien des Einbaus, des Funktionswechsels und der Emeritierung oder Neutralisierung14. Der auffälligste Einbau in die evangelische Kirche des 20. Jahrhunderts ist nach ihm das allüberall praktizierte Gespräch. Einen Funktionswechsel sieht er vor allem im Bedeutungswandel der Predigt. Sie hat sich von autoritativer Verkündigung des Wortes Gottes immer mehr zu einem Deutungs- und Reflexionsprozess gewandelt. Es ist wohl immer von einer Wechselwirkung von Strukturen und Inhalten auszugehen. Gesellschaftlich angepasste kirchliche Arbeitsformen wirken auf das religiöse Gedankengut ein und umgekehrt beeinflusst verändertes religiöses Denken die Strategien. Auch Ebertz gebraucht den Begriff der „Anpassung“ vor allem im Blick auf kirchliche strukturelle Maßnahmen15. Der inhaltliche Anpassungsvorgang vollzieht sich kirchlich oft weniger bewusst, einfach durch den Zeitgeist vermittelt, und provoziert dann allerdings auch kirchliche Strukturreformüberlegungen. Zutreffend ist jedenfalls, dass es sich auch bei den Veränderungen des religiösen Denkens um Prozesse der Anpassung an die veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit handelt, und dass diese Prozesse, die sich auf verschiedenen Ebenen innerhalb und außerhalb der Kirche abspielen, in einen Trend münden. Dem Wandel religiöser Anschauungen liegt keine offiziöse Revision der kirchlichen Lehre zugrunde, sondern er erfolgt auf der Grundlage gesamtgesellschaftlicher Veränderungen. Die dogmatischen Hauptstücke der Kirchen sind nie kirchenamtlich geändert worden. Theologen versuchen zwar, sie durch Interpretation an die heutige Lebenswelt anzupassen, jedoch mit sehr geringem öffentlichkeitswirksamem Erfolg. Viel verbreiteter ist „das Weg- und Ausschweigen“ (Ebertz) traditioneller Dogmen in der Verkündigung. Die in der Vergangenheit erfolgte Festschreibung kirchlicher Lehren kann die Evolution christlichen Gedankenguts in den Köpfen nicht aufhalten.

Evolution des Glaubens

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