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Die biotische und die kulturelle Evolution

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Der Evolutionsbegriff ist inhaltlich bestimmt durch die Mechanismen oder – in Darwin’scher Diktion – die „Gesetze“, die Darwin für die Entwicklung der Lebewesen erkannt und beschrieben hat. Die schon ältere Naturerkenntnis, dass der Kosmos kein statisches, sondern ein bewegtes Gebäude ist, wird um die Einsicht erweitert, dass die heute lebenden Arten nicht am Anfang fertig geschaffen wurden, sondern sich in langen Prozessen entwickelt haben.

Die moderne Evolutionsbiologie hat zwar zu zahlreichen neuen, auch von Darwin abweichenden Einsichten geführt, zugleich aber die Grundpfeiler Darwin’schen Denkens eindrucksvoll bestätigt: Evolution kommt durch Variabilität (Mutation) und Selektion voran. Durch Selektion kann die optimale Anpassung an die Umwelt erreicht werden. Die besten Überlebenschancen haben die Populationen, die am besten an die Lebensbedingungen angepasst sind, während andere zurückgedrängt werden und aussterben. Die Auswahlprozesse werden initiiert durch die Veränderlichkeit des Erbgutes. Die im Gefüge der Erbfaktoren auftretenden, meist geringfügigen Variationen sind dem Selektionsdruck ausgesetzt. Bestand können sie nur haben, wenn sie sich im Ausleseverfahren behaupten, und das können nur wenige.

Die biotische Evolution arbeitet aber stets mit einer Fülle von Varietäten, an vielen Fronten und innerhalb jeder Art. Auch wenn es überall und immer wieder um das eine Prinzip der bestmöglichen Anpassung geht, so vollzieht sich der Ausleseprozess doch stets im Rahmen einer Vielzahl von Bedingungen und Möglichkeiten und macht Evolution zu einem komplexen Vorgang, in dem die Arten miteinander, aber auch mit der nicht belebten Natur vernetzt sind. Survival of the fittest führt nicht zur Artenarmut, wie sie durch menschliche Eingriffe bewirkt werden kann, sondern hält die Populationsdichte der Arten, ja die Natur insgesamt im Gleichgewicht.

Die Natur lässt sich Zeit. Evolution ist ein gemächlicher Prozess. In Zeiträumen von Millionen Jahren haben sich die Arten von einfachen Urformen bis zu den heute existierenden Formen entwickelt. Der Evolutionsprozess muss also vor allem rückschauend anhand von Fossilien erschlossen werden. Mutationen können selbstverständlich in der Gegenwart festgestellt werden und gegebenenfalls auch in kurzer Zeit von Züchtern genutzt werden. Auch natürliche Bedingungen können relativ schnell Abweichungen bewirken. Aber die Ausleseprozesse, die zu größeren Veränderungen und neuen Arten führen, sind Langzeitprozesse.

Evolution wird schon von Darwin als offener Prozess verstanden. Weder wird ein vorgegebenes Programm entrollt, noch erfolgt die Entwicklung auf ein vorgegebenes Ziel hin. Wer ausstirbt und wer sich behauptet, ist nicht im Vorhinein festgelegt, sondern ergibt sich aus dem Spiel der verschiedenen Möglichkeiten, unter denen sich die für das Überleben günstigste behauptet.

Der Prozess ist aber insofern gerichtet, als er stets die Optimierung der Lebens- und Überlebensmöglichkeiten vorsieht. Die durch Mutation gewissermaßen zufällig auftretenden Variationen werden dem Mechanismus der Selektion unterworfen und dienen so dem Erreichen des Nahzieles besserer Anpassung oder dem Bewahren des Erreichten. Die Optimierung der Lebensformen ist aber kein kontinuierlich fortschreitender Prozess, sondern wird durch grundlegende Veränderungen der natürlichen Bedingungen wie Naturkatastrophen, Klimaschwankungen usw. auch unterbrochen. So hat die Veränderung der Lebensverhältnisse einst zum Aussterben der Saurier geführt und der biotischen Evolution eine andere Richtung gegeben, die die Entwicklung der Säugetiere begünstigte und letztlich zur Entstehung des Menschen führte. Aber dass der Evolution der Natur von Anfang an ein „anthropisches Prinzip“ innewohnte und der Mensch das Endziel der Evolution sei, ist unwahrscheinlich.

In der Evolution der Natur unterliegt jede lebende und unbelebte Spezies zeitlicher Begrenzung. Alles, selbst die Sterne, hat im Strom der Entwicklung seine Zeit und wird allmählich durch Anderes abgelöst. In der biotischen Evolution wird es jedenfalls auch nachmenschliche Verhältnisse geben. Gut angepasste Arten bzw. deren Organe können durchaus auch über lange Zeiträume konstant bleiben oder sich nur geringfügig ändern, zu absoluten Größen aber werden sie nicht.

In seiner Anwendung auf Kultur und Gesellschaft hat der Evolutionsbegriff eine Fülle von Theorien hervorgebracht1, doch blieb das Darwin’sche Verständnis von Evolution zunächst weitgehend außen vor. Vielmehr verstanden die Erklärungsmodelle der Soziologie und Geschichtsphilosophie des 19. und noch des frühen 20. Jahrhunderts die Evolution der Menschenwelt als Entfaltung von inhärenten Eigengesetzlichkeiten. Noch Ernst Troeltsch sah die Besonderheit der historischen Entwicklung „in dem logisch-teleologischen Charakter der die Einzelheiten verbindenden und durchwaltenden Sinn-Zusammenhänge und Tendenzen“ und wendet sich gegen „eine Unterwerfung der Historie unter die ihr ganz fremdartige Biologie“2. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet sich die Überzeugung, dass sich auch die Entwicklung der Zivilisation/Kultur nach Mechanismen analog denen der Natur vollzieht. Weil die Entwicklung des menschlichen Gehirns Teil der biotischen Evolution ist, ist anzunehmen, dass auch die Entwicklung der (gehirnbedingten) menschlichen Kultur nicht völlig anderen Prinzipien folgt. Die kulturelle Evolution erfolgt auf einer Art „Parallelgleis“3. In der Tat lassen sich die Darwin’schen Prinzipien so analogisieren, dass sie den soziokulturellen Wandel plausibel erklären.

Die Kulturevolution beruht auf Erkenntnismehrung. „Die Evolution selbst“ – so Carl Friedrich v. Weizsäcker – „ist erkenntnisförmig. Evolution akkumuliert Information. Erkenntnis aber kann man ebenfalls als Akkumulation von Information betrachten“4.

Das Wissen nimmt zu, unterliegt aber auch der Auslese. Die Erkenntnistheorie von Karl R. Popper legt die Darwin’sche Theorie der Auslese durch Anpassung zugrunde. „Die Erkenntnistheorie, die ich vorschlagen möchte, ist weitgehend eine darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts. Von der Amöbe bis Einstein ist der Erkenntnisfortschritt immer derselbe: Wir versuchen unsere Probleme zu lösen und durch Auslese zu einigermaßen brauchbaren Lösungen zu kommen“5. Das Problemlösen aber „geht stets nach der Methode von Versuch und Irrtum vor sich“6. Ähnlich wie Popper versteht Friedrich A. v. Hayek die kulturelle Evolution als einen Prozess des Wachstums von Wissen. Entscheidend dabei ist, dass das gesellschaftlich genutzte Wissen zunimmt. Kulturelle Evolution ist nach Hayek „ein Prozess sozialen oder kollektiven Lernens“, „in dem die Problemlösungskapazität in der Gesellschaft zunimmt“7. Unsere „Gewohnheiten und Fertigkeiten, unsere gefühlsmäßigen Einstellungen, unsere Werkzeuge und unsere Einrichtungen – sie alle sind Anpassungen an die vergangene Erfahrung, die sich durch selektive Ausmerzung weniger geeigneten Verhaltens ergeben haben“8. Hayek legt großen Wert auf die Feststellung, dass die allgemeinen Werte und Regeln unserer Gesellschaft nicht einfach auf Entscheidungen der Vernunft beruhen, sondern „das Ergebnis eines Prozesses der Evolution und Selektion“ sind, „ähnlich demjenigen, den wir im biologischen Bereich finden“9. Sie sind das Ergebnis langer Versuchs- und Irrtumsprozesse, die heute lebenden Menschen meist gar nicht mehr bewusst sind. Vor einzelnen Vernunftentscheidungen liegt immer schon eine Grundlage, die der Evolutionsprozess hervorgebracht hat und die von den Lebenden „weder geplant, noch verstanden“ ist10. „Wir können unsere Ansichten und Glaubenssätze nur innerhalb eines Rahmens von Meinungen und Werten beurteilen und verändern, die sich zwar allmählich wandeln werden, für uns aber ein gegebenes Resultat dieser Evolution sind“11.

Auch für Donald T. Campbell ist kulturelle Evolution ein Prozess der „selektiven Akkumulation von Fähigkeiten, Technologien, Vorschriften, Überzeugungen, Bräuchen, Organisationsstrukturen und ähnlichem“12. Der Autor ist überzeugt, dass „Analogien“ zwischen biologischer und kultureller Evolution bestehen und die „mechanisms“ der biologischen Evolution, „blind variation and selective retention“ auch in der soziokulturellen Evolution wirksam sind13. Im Darwin’schen Sinn verstanden ist die Evolution hier wie dort ein „meandering process“14. In der Menschenwelt gibt es immer reichlich „raw material“ für Selektionsprozesse, wobei die Quellen für Variationen sowohl dem Zufall entstammen als auch aus Überlegung heraus kommen können. Allerdings konzentriert sich die Sicht des Soziologen Campbell auf die Entwicklung des Gruppenverhaltens. Als „selective systems“ werden Diffusion, Imitation und Promotion herausgestellt15. Wissenschaft als Motor des neuzeitlichen Evolutionsprozesses wird nicht ausdrücklich genannt.

Die Fülle menschlicher Erkenntnisse und Hervorbringungen unterliegt jedenfalls der gesellschaftlichen Selektion. Behaupten kann sich nur das, was sich durchsetzt, und nur so lange, bis es durch Besseres oder auch nur vermeintlich Besseres abgelöst wird. Die Ausdrucksformen der Menschenwelt, zusammenfassend mit Begriffen wie Kultur, Zivilisation, Geschichte oder Gesellschaft benannt, wandeln sich so, wie sie die Ergebnisse des Ausleseprozesses integrieren. Der Motor der Kulturentwicklung ist der Drang zur Optimierung, also zur Verbesserung der Lebensverhältnisse, zur Erweiterung des Wissens, zur Erhöhung des Komforts usw. Er ist der Menschheit eingestiftet.

Dem Rückgang und Aussterben von Arten in der Natur wiederum entspricht das Ausgemustertwerden von als überholt empfundenen Kulturelementen. Das Erscheinen des Neuen und Verschwinden des Alten erfolgt jedoch nicht im Verhältnis eins zu eins. Denn die Kulturgeschichte vermehrt Wissen, bewahrt es, kombiniert es, bringt es zur Anwendung und bewirkt so eine Steigerung vom Einfachen zum Komplexen. Es sammeln sich immer mehr gesicherte und verfügbare Fakten oder Faktoren an, die aufeinander einwirken. Das hat moderne Gesellschaften zu hoch komplizierten Organismen werden lassen. Ebenso baut Kultur zwar auf langlebigen moralischen Grundwerten auf, die aber infolge von Differenzierung und Fallbezogenheit ebenfalls eine starke Tendenz zur Komplexität aufweisen. Kulturtheoretiker betonen, dass Kultur aus statischen und dynamischen Elementen besteht und nur in dieser Zweiheit existieren kann. In der Tat basiert Evolution immer auf „Konstanten“, die zwar nicht ewig, aber doch von längerer oder langer Dauer sind16. Nur auf stabilen Grundlagen können Veränderungen erfolgen. Deshalb „muß jeder Fortschritt auf Tradition gegründet sein“17. Vielleicht gibt es auch hier eine Tendenz: Je sicherer sich Menschen fühlen, desto mehr Neues wagen sie.

Die Entwicklung der Kultur kann nicht als kontinuierliche Höherentwicklung beschrieben werden. Denn wie in der Evolution der Natur wird auch die Kulturentwicklung immer wieder durch Rückschläge unterbrochen und durch Fehlentwicklungen gestört, so dass das Gerichtetsein auf Verbesserung dann wieder auf niedrigerem Niveau einsetzen muss.

Die kulturelle Evolution unterscheidet sich aber von der Evolution der Natur hinsichtlich des Faktors Zeit. Obwohl sie ein langsam gewachsenes Fundament allgemeiner Richtlinien voraussetzt, kommt sie doch so rasch voran, dass das Individuum einzelne Veränderungsprozesse während seiner Lebenszeit beobachten und erleben kann. Als Ganzes ist kulturelle Evolution freilich in jedem Augenblick ein äußerst komplexer und schwer durchschaubarer Vorgang.

Die Kulturevolution hat sich im neuzeitlichen Europa enorm beschleunigt. Das ist vor allem der raschen und enormen Zunahme wissenschaftlich gesicherten Wissens geschuldet. Das menschliche Wissen über die Welt hat zwar immer zugenommen, in frühen Zeiten der Menschheit jedoch nur langsam, seit der Neuzeit in Europa aber in immer rasanterem Tempo, was in kurzer Zeit zu erheblichen Veränderungen der Lebenswelt und als Folge davon auch der Lebensauffassung geführt hat.

Viele Traditionen, die lange in Geltung standen, haben ihre Verbindlichkeit verloren. Dennoch gilt, dass auch in der modernen Welt Kulturveränderungen nicht urplötzlich erfolgen, sondern neben entsprechenden Voraussetzungen auch ihre Durchsetzungszeit brauchen, auch wenn diese Zeit kürzer geworden ist.

Neues braucht Zeit, um gesellschaftlich akzeptiert und integriert zu werden. Und zurückgedrängte Kulturformen können sich in Nischen vielleicht noch längere Zeit halten. Auch wenn kulturelle Evolution Optimierung erstrebt, so verläuft sie doch als offener Prozess. Das bedeutet konkret, dass auch kulturelle Evolution nur in der Retrospektive genauer analysiert und beschrieben werden kann, aber nur sehr beschränkt oder allgemein zur Prognostizierung der Zukunft taugt.

Religion ist kein eigenständiger dritter Bereich neben Natur und Kultur, der aus Eigenem evolvieren könnte. Manifeste Religion ist immer Teil der Kultur. EKD-Texte Nr. 64 bezeichnet Religion als „eine elementare Dimension jeder Kultur“18. Der Zusammenhang ist beim Thema Glaubensevolution stets vorauszusetzen. Der Wandel religiöser Vorstellungen erfolgt in Verbindung mit der gesamtkulturellen Evolution.

In frühen Kulturen mit geringem Weltwissen dominiert die spekulativ-religiöse Welt- und Lebensdeutung. Auf die Länge führt die Kulturentwicklung jedoch zu einer Stärkung der Profanaspekte. Der natürliche Drang, die Lebensverhältnisse zu verbessern, lässt die Kenntnisse von den realen Lebensbedingungen anwachsen, was im christlichen Bereich schließlich zur Etablierung neuer Weltbilder geführt hat.

Bessere Lebensverhältnisse aufgrund vermehrter Erfahrung und vermehrten Weltwissens bewirken wiederum einen Wandel des Lebensverständnisses. Würde sich Religion nicht mitentwickeln und nur auf älteren Welt- und Lebensdeutungsmodellen beharren, geriete sie immer mehr in Widerspruch zum herrschenden Denken. Sie würde zunehmend bedeutungslos und unverständlich und schließlich aussterben.

Die Überlebensstrategie von Religion besteht daher in der Anpassung an die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse. Hier mögen Selbststeuerungskräfte am Werk sein. Aber auch bewusste Strategien, wie man sie in den Kirchen durchaus finden kann, können Einfluss auf die Entwicklung nehmen19.

Evolution der Religion ist also wesentlich als Anpassungsbewegung innerhalb der gesamtkulturellen Entwicklung zu verstehen. Wichtig ist die Einsicht, dass nicht nur die Sozialstrukturen von Religionsgemeinschaften Anpassungsprozessen unterliegen20, sondern auch die Glaubensinhalte. Religion ist umso überzeugender, je besser ihre Welt- und Lebensdeutung dem Entwicklungsstand der Kultur entspricht. Das heißt konkret, wenn sie überzeugende Antworten auf die Sinn- und Lebensfragen ihrer Zeit geben kann.

Anpassung bedeutet auch in der Kirchen- und Dogmengeschichte Selektion. Ältere Praktiken werden aufgegeben, aber auch Lehrgehalte verlieren ihre Bedeutung, wenn sie dem allgemeinen Bewusstseinsstand nicht mehr gerecht werden. Eine Religion könnte auf Dauer nicht überleben, wenn ihre Anpassung an die Kulturentwicklung nur in der fortschreitenden Ausdünnung ihrer Traditionen bestünde. Richtig ist, dass es religiöse Elemente gibt, die sich im Wandel der Kultur lange behaupten. Aber darauf aufbauend muss Religion auch neue Formen und Gedanken im mühsamen Prozess von trial and error integrieren. Gewiss können religiöse Gruppen, die einseitig die Treue zur Überlieferung pflegen, in Nischen lange Zeit überdauern. Öffentliche Bedeutung kann Religion jedoch nur haben, wenn sie im positiven Sinn evolviert, sich also aufgrund der Kulturveränderungen auch neuen Strukturen und Inhalten öffnet.

Evolution des Glaubens

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