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Pfingstsonntag

»Hoffentlich hält das Wetter bis Dienstag«, sagte Thomas Huber, der am Nachmittag des Pfingstsonntags vor dem Café »il2« in Pfarrkirchen mit seinem Freund Helmut Drexler den herrlichen Tag in der niederbayerischen Kreisstadt genoss. Von ihrem Platz aus hatten die beiden Freunde einen direkten Blick auf eines der Wahrzeichen der malerischen 12.000-Einwohner-Stadt: das »Wimmer-Ross«. Diese überlebensgroße Bronzeplastik thronte auf einem Backsteinsockel inmitten des Stadtplatzes, genau gegenüber dem Kult-Café. Einer der größten Söhne der Stadt, der Künstler und Bildhauer Hans Wimmer, schenkte das Kunstwerk Mitte der 1960er-Jahre seiner Heimatstadt Pfarrkirchen.

Thomas, dem das Wetter der kommenden zwei Tage besonders am Herzen lag, betrachtete die imposante Statue. »Weißt du, Helmut, dass die Bauern zwischen Rott und Inn die Bedeutung des Pferdes in einem besonderen Sprichwort zusammeng’fasst haben?«

Helmut folgte dem Blick seines Freundes zum Wimmer-Ross und schüttelte den Kopf.

»›Weibasteam is koa Vadeam, as Rossvaregga tuat den Bauern schregga!‹«

Helmut wandte sich wieder seinem Gegenüber zu. »Ich hab kein Wort verstanden.«

»Soweit kommt’s noch, dass wir für unsern eigenen Dialekt einen Dolmetscher brauchen«, erwiderte Thomas, zeigte sich jedoch gnädig und bot eine hochdeutsche Version an: »›Der Tod der Frau ist kein Verderben, stirbt aber das Pferd, trifft es den Bauern hart.‹«

Dem ungläubigen Staunen Helmuts war zu entnehmen, dass sich ihm der Sinn des Spruches immer noch nicht erschloss.

»Wenn die Frau eines Bauern g’storben ist, hat er sich einfach eine Neue g’sucht, und die hat vielleicht eine Mitgift mit’bracht und den Besitz vermehrt. Ist ein Pferd verend’t, drohten oft Schulden und Elend«, gab Thomas seine geschichtlichen Kenntnisse zum Besten.

Gerade in der Zeit, als Hans Wimmer sein Ross auf dem Pfarrkirchner Stadtplatz aufgestellt hatte, waren in den zahlreichen Bauernhöfen dieser Region die Pferde von den Traktoren verdrängt worden. Der Künstler wollte ein Zeichen setzen, damit die lange Tradition des Nutztieres nicht vergessen wird. Sogar eine eigene Rasse wurde im 19. Jahrhundert nach dieser Gegend benannt: das Rottaler Pferd. Heute ist dieses Warmblut, das sich als Reit- und Zugpferd eignet und dem ein ausgeglichener und gutmütiger Charakter nachgesagt wird, vom Aussterben bedroht. Das Rottaler Pferd wurde im Jahr 2000 sogar hochoffiziell zur »Gefährdeten Nutztierrasse des Jahres« erklärt. Vielleicht hat das Wimmer-Ross tatsächlich einige niederbayerische Rossnarrische motiviert, diese alte Pferderasse zu erhalten.

Es waren bestimmt auch Rossnarrische, die Ende des 19. Jahrhunderts die erste Trabrennbahn Bayerns in Pfarrkirchen erbaut haben. Mittlerweile ist das 1.000-Meter-Oval an der Rott das älteste in Bayern. Keine andere bayerische Rennbahn, die sich heute noch in Betrieb befindet, weist eine längere Historie auf. Allerdings beschränkt sich seit Jahrzehnten der Rennbetrieb im Gegensatz zu den anderen deutschen Trabrennbahnen ausschließlich auf Pfingstmontag und Pfingstdienstag. Diese beiden Tage gehören zweifelsohne zu den Jahreshöhepunkten im Rottal. Dann herrscht in Pfarrkirchen Ausnahmezustand. Die Hotels sind ausgebucht, am Pfingstdienstag haben die meisten Geschäfte nachmittags geschlossen und viele Menschen aus der Gegend freuen sich schon Wochen vorher auf dieses Spektakel, auf spannende Pferderennen und auf gesellige Stunden an der historischen Trabrennbahn.

Genau wie die beiden Freunde Thomas Huber und Helmut Drexler, die gemeinsam den Wettergott beschworen, denn auf der Pfarrkirchner Rennbahn gab es keine geschlossenen Tribünenhäuser. An der altehrwürdigen Bahn spielte sich fast alles unter freiem Himmel ab, weswegen freundliches Wetter ein wichtiger Erfolgsfaktor für diese Veranstaltung war.

Auf dem Tisch vor den Freunden im »il2« lag das Traberjournal, welches die beiden ausgiebig studierten. In dem Programmheft waren die Startpferde mit ihren Fahrern aufgeführt. Darüber hinaus wurden die Ergebnisse ihrer letzten Starts dokumentiert und die Chancen für die Rennen beim Pfarrkirchner Pfingstmeeting bewertet.

»Hut ab, die Pfarrkirchner haben wieder ein ordentliches Programm auf d’Füß g’stellt. Für jeden Renntag zehn Rennen, das ist respektabel«, urteilte Helmut Drexler nach dem ersten flüchtigen Durchblättern des Rennprogramms. Der Bankangestellte verfolgte schon seit vielen Jahren die deutsche Traberszene, deshalb konnte er gut beurteilen, dass 20 Rennen mit durchschnittlich zehn Pferden pro Rennen ein großer Erfolg für den hiesigen Veranstalter waren. In der Regel sah sich Drexler die deutschen Trabrennen über den Live­stream eines Wettanbieters an, doch hin und wieder fuhr er nach München-Daglfing oder nach Straubing zu den zwei verbliebenen bayerischen Trabrennbahnen.

»Warum werden die Startpferde im deutschen Trabrennsport immer weniger?«, hakte Thomas Huber nach, der sich nur zu Pfingsten in Pfarrkirchen zum Fan dieses Sports wandelte.

»Gute Frage. Meiner Einschätzung nach hängt das mit dem stetig steigenden Wettangebot im Internet zusammen. Früher hat ein Wetter entweder Toto g’spielt oder er ist auf eine Pferderennbahn ’gangen. Heute kannst du im Internet oder in den vielen Wettbüros auf sämtliche Sportarten in der ganzen Welt wetten«, erklärte sein Freund.

»Und was hat das mit den Startpferden auf der Trabrennbahn zu tun?« Thomas Huber hatte die Zusammenhänge noch nicht ganz verstanden.

»Wenn die Wettumsätze auf den Pferderennbahnen rückläufig sind, müssen automatisch auch die Rennpreise g’senkt werden. Das schreckt viele Pferdebesitzer ab und sie investieren ihr Geld lieber woanders. Deswegen haben einige Trabertrainer aufg’hört und diverse Rennbahnen ihre Pforten schließen müssen, wie die in Mühldorf und Pfaffenhofen«, ergänzte Helmut Drexler.

»Das leucht’ ein«, bestätigte der Teilzeit-Traberfan Thomas Huber, der sich sogleich Sorgen um die Traditionsveranstaltung in seiner Heimatstadt machte. »Was meinst’, bleibt Pfarrkirchen von dieser Entwicklung verschont?«

»Nicht ganz. Bei uns werden die Startpferde auch weniger, aber dank unserer zahlreichen Sponsoren können die Rennpreise hoch g’halten werden. Und die wiederum locken Trabrennpferde aus Westdeutschland, Österreich und sogar aus Tschechien an. Heuer kommen zum Beispiel Deutschlands Traberlegende Heinz Wewering und der aktuelle Champion der Republik, Michael Nimczyk, nach Pfarrkirchen zum Zuchtrennen.«

Zuerst begutachteten die beiden Mittdreißiger, die schon gemeinsam das örtliche Gymnasium besucht hatten, die Starter des »Bayerischen Zuchtrennens«. Dieses Rennen, das früher ausschließlich dreijährigen Pferden vorbehalten war, spricht seit dem Jahr 2010 die gesamte internationale Klasse aller Jahrgänge an. Der Name jedoch ist geblieben, und mit einer stattlichen Gesamtdotation von 20.000 Euro bildet es am Dienstag den Höhepunkt des Pfarrkirchner Pfingstmeetings.

»Wer ist denn dein Favorit im Zuchtrennen?«, fragte Thomas seinen Freund, von dem er wusste, dass er besonders in den letzten Wochen die Rennen auf Deutschlands Trabrennbahnen verfolgt hatte.

Helmut Drexler grübelte, aber wie es bei sogenannten Experten ist, vermied auch er eindeutige Aussagen. »Der Wewering und der Nimczyk haben schon sehr gute Pferde am Start. Da werden es die anderen ziemlich schwer haben«, orakelte der Traberinsider.

Thomas Huber, Beamter bei der Kriminalpolizei in Pfarrkirchen, gab sich, wie in seinem Beruf, mit vagen Antworten nicht zufrieden. »Und was ist mit den Pferden von unseren Rottaler Trabertrainern?«

»Dem Pangraz vom Schwarz Georg geb ich eine Chance, aber der Kilian vom Staudinger Sepp, der hat es richtig schwer.«

»Der Staudinger trainiert doch seine Pferde auf der Pfarrkirchner Bahn. Den seh ich ab und zu auf der Bahn, wenn ich beim Fußballspielen im Stadion bin.«

»Genau, der Sepp hat seine Vierbeiner im Rennbahnstall unterg’stellt und trainiert sie auf der Bahn.«

»Dann hat der quasi einen Heimvorteil?«

»Ja, das hat er schon, aber irgendwie ist beim Staudinger Sepp der Faden g’rissen. Der hat seit Wochen kein Rennen mehr g’wonnen.«

»Und der Schwarz, wo trainiert der seine Pferde?«

»Der hat einen Bauernhof in der Nähe von Eggenfelden gepachtet und trainiert auch dort.«

»Und du meinst, der Pangraz hat wirklich eine Siegchance im Zuchtrennen?«

»Der Pangraz ist ein sehr gutes, trabsicheres Pferd, und sein Trainer und Fahrer ist gut in Form, aber die Pferde vom Wewering und vom Nimczyk sind noch eine Klasse besser. Wir müssen die Rösser beim Aufwärmen beobachten, dann wissen wir mehr«, schlug Helmut Drexler vor, den schon seit einer Weile eine ganz andere Frage beschäftigte. Es ging um Thomas’ Frau Marion. Sie war letztes Jahr am Pfingstdienstag zum ersten Mal auf der Rennbahn dabei gewesen und hatte die übliche, immer sehr gemütliche Runde gehörig aus dem Tritt gebracht. Man könnte auch sagen, dass sie die Partycrasherin war. Bereits nach dem dritten Rennen hielt sie es vor Langeweile nicht mehr aus und wollte samt ihrem Gatten, der sich wie jedes Jahr zusammen mit seinen Freunden im Wettfieber befand, nach Hause gehen. Ständig musste sich die Runde Kommentare anhören, dass sie beim Wetten das ganze Geld zum Fenster rausschmeißen würden und sie doch besser in ihre Ehefrauen investieren sollten. Der Höhepunkt war erreicht, als sie sagte, dass sie die Trabrennen als reine Tierquälerei betrachte, und das ganze wettende Publikum schaue dabei zu und unterstütze diese »Schweinerei«. Die Stimmung am Tisch sank, im Gegensatz zu den anderen Jahren, in den Keller. Auch im Hause der Eheleute Huber hatte sich die Stimmung noch einige Tage nach dem letztjährigen Pfingstfest in Grenzen gehalten, bis sich das Eheleben schließlich wieder normalisiert hatte.

Helmut Drexler zögerte lange, aber dann traute er sich zu fragen: »Kommt eigentlich deine Marion auch wieder mit auf die Rennbahn?«

Thomas Huber verdrehte die Augen. »Nein, das tu ich mir heuer nicht mehr an. Die Marion ist gestern mit einer Schulfreundin zum Wellnessen nach Bad Griesbach ins Hotel Maximilian g’fahren. Wir können also störungsfrei die Rennen genießen. Sie kommt erst am Mittwoch zurück.«

Der Junggeselle Helmut Drexler atmete, ohne es seinem Gegenüber zu zeigen, erleichtert auf. Weil er diese Geschichte vom letzten Jahr nicht weiter vertiefen wollte, wechselte er sofort das Thema. »Sag mal, Thomas, wer von den Kumpeln ist morgen alles dabei?«

»Ich hoffe, dass die ganze Gruppe kommt, genauso wie im Vorjahr. Bei mir hat sich noch keiner abg’meldet, mit Ausnahme der Marion natürlich«, antwortete Thomas, dem bei seinem letzten Satz eine gewisse Erleichterung anzumerken war. Die beiden Pfingsttage wurden von den ehemaligen Schulkameraden als eine Art Klassentreffen genutzt. Viele der früheren Schüler ihres Abiturjahrgangs, die es mittlerweile beruflich in die Fremde gezogen hatte, kamen an diesen Tagen in ihre Heimatstadt zurück, um die beiden Renntage an der Rott zu genießen.

Als Thomas Huber am späten Nachmittag heimkam, begrüßte ihn niemand in seinem Haus in der Stifterstraße des Stadtteils Galgenberg in Pfarrkirchen. Häufiger als er war seine Frau alleine daheim und wartete auf ihn. Denn Thomas hatte immer wieder auch am Abend dienstliche Einsätze bei der Polizei. Marion dagegen arbeitete zu festen Zeiten als Arzthelferin in einer Praxis in ihrer ehemaligen Heimatstadt Eggenfelden. Wenn er nicht zum Dienst musste, fehlte Thomas bei keiner Spielübertragung seines Lieblingsclubs, dem FC Bayern München, die im Vereinslokal des TUS Pfarrkirchen gezeigt wurde. Außerdem verbrachte er nahezu jeden Dienstagabend beim Fußballtraining. Egal wann er nach Hause kam, immer wartete seine Frau auf ihn.

Nicht so an diesem herrlichen Frühsommerabend. Marion war seit gestern in diesem Wellness-Hotel, und er genoss die kurze Zeit der wiedergewonnenen Freiheit. Da es noch nicht allzu spät und der Sonnenuntergang noch ein paar Stunden entfernt war, setzte er sich auf sein Motorrad, eine weißblaue BMW R 1150 GS. Er überlegte kurz, ob er seine Frau im nahen Bad Griesbach besuchen sollte, doch er verwarf den Gedanken wieder, da er den Mädelsabend nicht stören wollte. Weil er noch nicht gegessen hatte, zog er es vor, in den herrlichen Biergarten des »Brunner-Bräus« in Spanberg bei Eggenfelden zu fahren.

Er nahm nicht den Weg über die viel befahrene B388, sondern die Nebenstraße über Postmünster entlang des Rottauensees nach Hebertsfelden, überquerte den Stadtplatz Eggenfeldens, bis er wenige Kilometer später am Weiler Spanberg unweit des Eggenfeldener Flughafens ankam. Wenn er mit dem Motorrad unterwegs war, trank er grundsätzlich keinen Alkohol, obwohl ihm das süffige Brunner-Bier heute sehr geschmeckt hätte.

Im Biergarten des Brauerei-Gasthofs bestellte er sich ein Wasser und ein Schnitzel mit Kartoffelsalat, auf das er sich schon während der Fahrt gefreut hatte. Thomas genoss das deftige Schnitzel, das die Wirtin genau wie seine Oma noch in der Pfanne gebraten hatte, und freute sich seines Lebens, insbesondere auf die beiden Tage auf der Pfarrkirchner Rennbahn.

Ausgetrabt

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