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2. Poldergeist

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Das Wetter war noch unangenehmer geworden, da der Nieselregen in einen heftigen Graupelschauer übergegangen war. Diese angefrorenen Wassertröpfchen, die es bei uns in der Rheinebene bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt recht häufig gab, raubten jedem recht schnell die Orientierung. Mir war es egal, Gerhard fuhr.

Mein Kollege trommelte nervös auf dem Lenkrad herum. »Das hatte ja irgendwann einmal passieren müssen.«

»Was hätte irgendwann einmal passieren müssen?«, wiederholte ich fragend.

»Na, dass ein Deich bricht. Rund um Altrip gibt’s immerhin ein paar Kilometer von diesen Dingern. Und wie du wissen solltest, haben wir seit zwei Wochen steigendes Hochwasser, die Hochwassermarke 1 wurde gestern erreicht. Wenn das so weitergeht, und danach sieht es aus, wird in den nächsten Tagen auf dem Rhein die Schifffahrt eingestellt.«

»Das verstehe ich nicht. Die Deiche sind doch für das Hochwasser da. Oder habe ich in der Schule etwas verpasst?«

Gerhard zog sich seine Krawatte ebenfalls aus. »Ja, das stimmt schon. Aber eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Gerade die Altriper Gegend bis hin nach Waldsee und Rheingönheim ist bei Hochwasser immer potenziell gefährdet. Denke nur an das Jahr 1999. Da waren wir nahe dran, große Teile des Gebietes zu evakuieren, weil das Hochwasser an mehreren Stellen überschwappte, beziehungsweise von unten das Druckwasser in die niedrig gelegenen Felder drückte. Und das sogar ohne einen Deichbruch.«

Ich konnte mich gut daran erinnern. Äcker und Waldgebiete waren teilweise nur noch per Boot zu erreichen. Altrip, das im Innern eines Rheinknicks lag, war fast komplett von Wasser umgeben. Südlich und westlich von Altrip lagen mehrere Campingplätze von gigantischen Ausmaßen, zehntausende Camper konnte man hier jeden Sommer zählen. Aus polizeistatistischer Sicht waren diese Leute eine Katastrophe. Nicht nur, dass sich durch sie die Einwohnerzahl des Landkreises im Sommer beträchtlich erhöhte, es wurden hier stets überproportional viele Straftaten von Eigentumsdelikten bis hin zur Körperverletzung aktenkundig. Im Grunde müssten wir in der warmen Jahreszeit mehrere Beamte vor Ort nur für diese Camper abstellen, was personalpolitisch nicht durchzusetzen war.

Ich winkte ab. »Solange es nur Sachschaden gibt, ist mir der Deichbruch allemal lieber als die Weihnachtsfeier. Ein Abend ohne KPD ist ein guter Abend.«

Der Parkplatz unserer Inspektion war bereits gut gefüllt. Der Sozialraum noch viel mehr. In der Eile hatte man einfach die Stühle an der Rückseite gestapelt, um mehr Personen stehend in dem Raum unterbringen zu können. Hier trafen wir auch auf unsere Kollegin Jutta Wagner. Jutta war unser guter Geist, der alle Besprechungen organisierte und Protokoll führte. Ihr Organisationstalent war fulminant. Auch sie war eine der Glücklichen, die von der Weihnachtsfeier befreit war. Von KPD selbst wurde sie für diese Schicht zum Polizeiführer vom Dienst der Schifferstadter Kriminalinspektion befördert. Er hätte keine bessere Wahl treffen können. Jutta schien Frau der Lage zu sein. Die komplette Vorderfront inklusive der Fensterscheiben des Sozialraums war mit Flipchartpapier beklebt. Als sie uns erkannte, winkte sie kurz. Mehr Zeit blieb ihr nicht, da mehrere Personen gleichzeitig auf sie einredeten.

Es war chaotisch. Zwischen den Polizeibeamten der Kripo und unseren Kollegen von der Schutzpolizei wuselten leitende Rettungssanitäter, Feuerwehrleute und Leute von der Katastrophenschutzbehörde herum. Gerhard und ich hatten uns ins hintere Eck verdrückt. Dort gab es einen kleinen Nebenraum mit einer eingerichteten Teeküche. Mein Kollege hätte am liebsten sofort seinen geliebten Sekundentod angerührt, der sich aus annähernd 100 Prozent Kaffeepulver und einer homöopathischen Dosis Wasser zusammensetzte. Zu meinem Glück waren andere Kollegen schneller gewesen und hatten einen normalen Kaffee gekocht.

»Meine Damen und Herren«, vernahmen wir aus dem Sozialraum die Stimme unserer Jutta. Wir verließen die Küche und sahen, dass inzwischen per Beamer ein Luftbild der Altriper Region auf eine Leinwand übertragen wurde.

»Bevor wir zu den Einzelheiten kommen«, begann Jutta ohne Begrüßung, »zeige ich Ihnen zunächst die räumlichen Gegebenheiten auf dem Luftbild.« Mit einem Laserpointer deutete sie auf Altrip. »Sie sehen hier den Rhein, der von Süden kommend direkt hinter dem ufernahen linksrheinischen Altrip um 90 Grad nach Westen abknickt. Altrip ist über zwei Kreisstraßen zu erreichen. Einmal ist es die Kreisstraße 7 von Ludwigshafen, die in West-Ost-Richtung verläuft, zum anderen ist es die Kreisstraße 13, die vom südlich gelegenen Waldsee nördlich nach Altrip führt. Beide Straßen verlaufen mehr oder weniger parallel zum Rhein.«

Unsere Kollegin fuhr die Kreisstraßen mit ihrem Laserpointer nach. Das ganze Gebiet hatte etwa die Ausmaße eines Quadrates mit sechs Kilometer Kantenlänge. Nördlich und östlich bildete der Rhein die Grenze, im Süden lag Waldsee, im Westen Neuhofen und im Nordwesten der Ludwigshafener Stadtteil Rheingönheim. Das Ganze war ein großes Naturschutzgebiet, zumindest wenn man die hohe Besiedlungsdichte der Rheinebene als Maßstab berücksichtigte.

»Auf halber Strecke zwischen Waldsee und Altrip befindet sich der Campingplatz ›Auf der Au‹. Er liegt fast komplett westlich der K13. Östlich der K13, also auf der anderen Straßenseite, befinden sich ein paar weitere Parzellen sowie der einen Kilometer lange Marx’sche Weiher. Dieser Weiher ist im Osten durch einen Deich vom Otterstadter Altrhein beziehungsweise dem Rhein getrennt.«

Selbst von hinten konnten wir gut erkennen, dass der Otterstadter Altrheinarm just an dieser Stelle in den Rhein mündete.

Jutta sprach weiter. »Dieser Deich ist an drei Stellen gebrochen. Das Rheinwasser strömt seit etwa einer Stunde direkt in das Gebiet des Marx’schen Weihers. Das Tragische dabei ist Folgendes: Durch Druckwasser hat der oberirdisch autarke Weiher nach ein paar Tagen annähernd den gleichen Wasserstand wie der Rhein. Aus diesem Grund sind seit drei Wochen die etwa 100 Campingplätze rund um den Marx’schen Weiher geräumt. Doch das reicht nicht mehr. Die K13, die den Marx’schen Weiher von der großen Campingplatzanlage trennt, liegt geringfügig tiefer als der Deich und ist in der Stabilität nicht mit einem solchen vergleichbar. Das bedeutet, bedingt durch den plötzlichen Wasserdruck, ist jederzeit damit zu rechnen, dass der Campingplatz mit seinen 3.600 Parzellen überschwemmt wird. Unsere erste Aufgabe ist daher, die Anlage zu evakuieren. Wir rechnen zu dieser Jahreszeit mit höchstens 1.000 Bewohnern. Allerdings werden einige dieser Zeitgenossen und auch die, die gerade nicht dort wohnen, versuchen, ihre Campingwagen in Sicherheit zu bringen. Sie werden unseren Rettungskräften die Evakuierungswege verstopfen. Es ist folglich mit aggressivem Verhalten zu rechnen. Ein Notlager für die Camper wird zurzeit in der Sommerfesthalle Waldsee errichtet, die technische Einsatzleitung wird bei uns in Schifferstadt installiert. Der Landrat als erster Ansprechpartner für Katastrophen-Notfälle hat dafür grünes Licht gegeben. Funk für alle beteiligten Dienste wird in einer Stunde zur Verfügung stehen, die Relais werden gerade geschaltet. Von der Situation an den Deichbruchstellen liegen uns keine verwertbaren Informationen vor. Ob es Verletzte gibt, wissen wir auch noch nicht. Es ist bei den momentanen Licht- und Wetterverhältnissen sehr schwierig, an die betreffenden Stellen zu kommen.«

Jutta hatte die Situation im Griff. Fast so, als hätte sie Wochen Zeit gehabt, alles zu planen. Nachdem sämtliche Schritte für die Evakuierung besprochen waren, strömten die operativen Einsatzleiter der verschiedenen Organisationen zu ihren Einsatzorten und den dort wartenden Mitarbeitern in das Katastrophengebiet. Es waren jetzt noch etwa 20 Personen anwesend, für die in aller Eile Schreibtische, Computer und weitere Hilfsmittel angefahren wurden. Für Katastrophenfälle wurden in fast jedem Landkreis für die zentrale Kommunikation und Abstimmung die entsprechenden Geräte und Utensilien bereitgehalten. Da die Lagerung sowie weitere Details dieser vorbeugenden Maßnahme als VS-nfD, also als ›Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch‹, galten, darf ich die Einzelheiten nicht näher beschreiben.

Als stellvertretender Dienststellenleiter der Kriminalpolizei und aufgrund der Tatsache, dass KPD mutmaßlich noch weinend vor seinem Buffet in dem Restaurant stand, wäre es meine Aufgabe gewesen, die Kollegen zu koordinieren und in den Kampf mit den Campern zu schicken. Auch wenn für diese Dinge normalerweise die Schutzpolizei zuständig war, in solchen Notsituationen galt die Trennung als aufgehoben. Jeder Mann und auch jede Frau konnte gebraucht werden.

Ich kann meine Kollegin Jutta nicht häufig genug loben. Trotz des unsäglichen Stresses, den sie in der letzten Stunde erlitten hatte, kam sie lächelnd auf mich zu. »Ich denke, dir ist es nicht unangenehm, dass ich Jürgen beauftragt habe, die Koordination mit uns und der Schutzpolizei zu regeln. Du kannst folglich direkt mit Gerhard losfahren und dir ein Bild von der Lage vor Ort machen. Es wäre gut, wenn ihr beide euch zu den Stellen der Deichbrüche begeben könntet, wir haben zur Stunde immer noch kein klares Bild, wie es dort aussieht. Der Bagger, der als Erstes losgeschickt wurde, ist im Schlamm stecken geblieben. Das THW ist unterwegs, um das Gebiet auszuleuchten. Leider ist die Funkverbindung abgebrochen. Irgendwie scheint dort der Wurm drin zu sein.«

Gerhard und ich machten uns auf den Weg. Wir fuhren direkt in den Weltuntergang hinein. Zu dem Graupelregen war inzwischen ein ziemlich starker Wind gekommen. Das Mondlicht hatte nicht den Hauch einer Chance. Waldsee war wie ausgestorben. Das einzige Lebenszeichen waren die Glockenschläge einer Kirche, die martialisch verstärkt durch die Dunkelheit bellten. Am Ortsausgang wurde es plötzlich hell. Das Technische Hilfswerk hatte schnell reagiert und auf dem großen Parkplatz vor der Sommerfesthalle eine Flutlichtanlage installiert. Wir fuhren ohne anzuhalten weiter. Ein paar Meter weiter war die Straße gesperrt. Gerhard ließ seine Scheibe herunter. Bevor er etwas sagen konnte, wurde er bereits angeschnauzt: »Können Sie nicht lesen? Die Straße ist gesperrt. Sie dürfen hier nicht weiter.«

Dem Kollegen von der Schutzpolizei war deutlich seine Frustration anzumerken, bei diesem Wetter auf Posten stehen zu müssen. Wahrscheinlich musste er alle paar Minuten Camper zum Umdrehen bewegen, die noch schnell ihren Wagen von der Parzelle retten wollten. Gerhard zeigte ihm den Dienstausweis und der Kollege von der Straßensperre ließ uns passieren.

Die kurvenreiche Strecke war nicht angenehm zu befahren. Als wir in die Nähe des Campingplatzes kamen, ließ der Graupel etwas nach. Dadurch erhöhte sich die Sichtweite auf mindestens 50 Meter.

»Halt an«, sagte ich hastig zu Gerhard. »Schau mal nach links, da bewegt sich etwas.«

Unsere Augen benötigten einen Augenblick, um das Wohnmobil auszumachen, das kurz vor der Mündung zur Kreisstraße diagonal in einem Nebenweg festzustecken schien. Eine Person, eingehüllt in einen fledermausartigen Regenumhang, machte sich an einem der Vorderräder zu schaffen.

Gerhard parkte am Straßenrand, um die Rettungs- und Evakuierungskräfte nicht zu behindern. Bevor wir ausstiegen, schaltete er das Warnblinklicht ein. Unsere Neugier wurde sofort bestraft. Bereits mit dem ersten Schritt auf den nicht befestigten Nebenweg sanken wir knöcheltief ein. Die Situation erinnerte mich an den Schlamm im Rheingönheimer Wildschweingehege, in dem wir im Sommer einen toten Erntehelfer fanden. Die unbekannte Person im Fledermaus­cape war dabei, Fußmatten unter die Vorderräder zu legen, um ein Durchdrehen der Antriebsachse zu vermeiden. Sie bemerkte uns erst, als wir unmittelbar vor ihr standen. Mit der Taschenlampe, die ich aus Gerhards Dienstwagen mitgenommen hatte, leuchtete ich in das wild zuckende Gesicht von Doktor Metzger. Ausgerechnet hier musste uns dieser Notarzt über den Weg laufen.

»Was soll das?«, maulte er uns an. Seine langen feuerroten Haare fielen seitlich aus dem Regenumhang. »Nehmen Sie die Lampe weg, Sie blenden mich.«

»Guten Abend, Herr Doktor Metzger. Was machen Sie denn hier?«

Metzger schaute mich verwirrt von oben bis unten an. »Ach, Sie sind’s, Herr Palzki. Kommen Sie gerade von einem Kostümfest? Ich habe Sie noch nie in einem Anzug gesehen. Denken Sie, dass dies das richtige Outfit bei dieser Witterung ist?« Er stimmte in sein mir hinlänglich bekanntes Frankensteinlachen ein. »Was ist eigentlich da drüben los?« Er zeigte in Richtung Marx’scher Weiher, der allerdings von unserem Standort aus nicht zu sehen war. »Zuerst diese Explosionen, dann jede Menge Feuerwehr und der THW, jetzt sogar Sie. Ist mal wieder jemand über die Wupper gegangen? Ich meine natürlich über den Rhein!« Wieder dieses unmenschliche Lachen.

»Welche Explosionen?«, riefen Gerhard und ich fast synchron.

»Woher soll ich das wissen? Das ist schon fast zwei Stunden her. Erst dachte ich an ein Feuerwerk. Aber um diese Jahreszeit in dieser Gegend?«

»Was ist genau passiert?«

»Es hat halt gekracht. Mensch, Palzki, irgendetwas hat da fürchterlich geknallt. Zweimal, dreimal, keine Ahnung. Ich konnte nicht nachschauen gehen, ich hatte noch einen Kunden.«

Einen Kunden? Ich erschrak. Mit Kunden meinte Doktor Metzger üblicherweise Patienten. Ich vermutete eher Selbstmordkandidaten.

»Wo waren Sie, als Sie diese Explosionen gehört haben?«

»Na hier, in meiner mobilen Klinik. Bei dem Sauwetter gehe ich doch nicht freiwillig nach draußen.«

Ich starrte das Reisemobil an. »Wie nannten Sie das? Eine mobile Klinik?«

»Ja, ja«, nickte Metzger eifrig. »Wussten Sie nicht, dass ich hier wohne und arbeite?«

»Wie bitte? Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass Sie hier Ihren Hauptwohnsitz haben und Ihre sogenannten kleinen Operationen in diesem Gefährt durchführen.«

»Doch, Herr Palzki, Sie haben es schon richtig verstanden. Ist selbstverständlich alles legal. Auch ein Gewerbe habe ich angemeldet. ›Mobile Gesundheitsberatung und Prophylaxe – Doktor Metzger‹. Die Geschäfte laufen gut. Selbst im Winter bin ich so gut wie ausgebucht. Auf dem Campingplatz gibt es immer etwas zu tun. Von kleinen Messerstechereien über Blinddarm bis zum Bypass. Das volle Programm eben.«

Ich musste unbeschreiblich dämlich aus der Wäsche geschaut haben. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie in diesem Wohnmobil als Arzt praktizieren? Dafür gibt’s doch mit Sicherheit keine Genehmigung!«

»Na ja, wie man es nimmt, Herr Palzki. Eine stationäre Arztpraxis würde hier mit Sicherheit nicht genehmigt werden. Meine mobile Gesundheitsberatung ist eine Marktlücke. Und eine Gesetzeslücke zugleich. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Sie wohnen doch in Schifferstadt im Neubaugebiet. Versuchen Sie dort einmal, eine Baugenehmigung für eine kleine Holzhütte zu bekommen. Das ist fast aussichtslos. Und wenn Sie es dennoch versuchen wollen, dann müssen Sie mithilfe eines Architekten einen förmlichen Bauantrag stellen, selbstverständlich mit Statik und Pipapo. Wenn Sie auf Ihr Grundstück aber einen Bauwagen stellen und ihn als Gartenhaus nutzen, brauchen Sie nichts dergleichen, solange Sie die Räder dranlassen. Dann ist es keine Immobilie, sondern ein Fahrzeug. Genauso ist es hier. Meine mobile Gesundheitsberatung ist genehmigt. Wenn mein Reisemobil an 360 Tagen im Jahr auf meiner Parzelle des Campingplatzes steht, ist das folglich in Ordnung. Ich kann ja, wenn ich will, jederzeit wegfahren. Somit ist das durchaus gesetzeskonform.«

Das war unglaublich harter Tobak für mich. »Sie haben tatsächlich eine Erlaubnis, in Ihrem Fahrzeug Operationen durchzuführen?«

Ich bemerkte, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Metzger wandte sich und war verlegen. Schließlich antwortete er: »Ich muss zugeben, manches lege ich durchaus individuell aus. Prophylaxe bedeutet für mich auch so etwas wie Vorbeugung gegen den Tod. Daher sehe ich Operationen als legitime Prophylaxe an. Als ehemals zugelassener Arzt darf ich selbstverständlich in Notfällen operieren. Alles andere wäre ja unterlassene Hilfeleistung. Bisher ging es in den meisten Fällen übrigens gut aus.« Und wieder das eklige Lachen.

Ich konnte es nicht fassen. Während mir das eben Gehörte durch den Kopf ging, erkundigte sich mein Kollege Gerhard: »Herr Doktor Metzger, wohin sind Sie eigentlich unterwegs? Die Evakuierung betrifft nur die sich hier aufhaltenden Menschen, Wohnwagen dürfen nicht mitgenommen werden.«

»Welche Evakuierung?«, fragte der Notarzt erstaunt. »Davon ist mir nichts bekannt. Ich habe einen Termin in Speyer bei einem Stammkunden, der von einer Leiter gefallen ist. Soll nichts Dramatisches sein, aber dummerweise bin ich in das Schlammloch reingefahren. Bei jedem Hochwasser die gleiche Scheiße. Das Grundwasser drückt nach oben und alles wird matschig. Ich überlege schon länger, meine Parzelle zurückzugeben und mich woanders niederzulassen. Und da bin ich nicht der Einzige auf diesem Platz, über 700 Stellplätze sind bereits unbesetzt. Sogar ein paar Bauern aus der Umgebung wollen ihr Gelände verkaufen, Angebote haben sie schon vorliegen. Wenn Sie mich fragen, würde ich das genauso machen, jetzt, nachdem der Polder gebaut wird. Irgendwann ist das alles ein riesengroßer See.« Metzger schimpfte noch ein Weilchen weiter, bevor ihm ein anderer Gedanke kam. »Äh, Sie haben von einer Evakuierung gesprochen. Klären Sie mich mal auf. Was ist denn passiert? Hat es mit den Explosionen zu tun?«

»Das könnte gut sein«, antwortete ich. »Der Deich ist an mehreren Stellen gerissen. Im Moment läuft der Marx’sche Weiher voll und wir rechnen damit, dass danach dieser Campingplatz dran ist.«

»Scheiße!«, schrie Metzger. »Mensch, gehen Sie mal zur Seite, ich muss mit meinem Reisemobil auf die Straße.«

Das hätten wir besser sein lassen. Der Arzt setzte sich hinter das Lenkrad und gab vorsichtig Gas. Gerhard und ich betrachteten die Befreiungsversuche von einer Seite des Wohnmobils aus. Es kam, wie es kommen musste. Die Vorderräder ruckelten über die Fußmatten, um danach erneut in den schlammigen Untergrund zu rutschen. Dreckfontänen spritzten uns entgegen und sauten uns, und was noch schlimmer war, unsere Anzüge ein. Auweia, das würde Ärger mit Stefanie geben. Doktor Metzger drückte gefühllos das Gaspedal nieder, was normalerweise ein tieferes Einsinken zur Folge gehabt hätte. Er hatte Glück. Unter dem Schlamm, der zum Großteil auf uns niedergegangen war, befand sich fester Untergrund. Metzgers Wohnmobil machte einen erneuten Satz und befand sich wieder auf dem Weg. Hupend und durch das Seitenfenster winkend fuhr er davon. Zwei Päckchen Taschentücher für unsere Säuberung waren alles, was Gerhard in seinem Dienstwagen fand.

Inzwischen war der Graupel wieder in Regen übergegangen. Im Schritttempo fuhren wir weiter in Richtung Altrip. Wir waren nicht mehr allein. Einige Streifen- und Krankenwagen waren während unseres Gesprächs mit Doktor Metzger auf der Kreisstraße vorbeigefahren und kurvten jetzt wahrscheinlich auf dem weiträumigen Campingplatz herum. Ich konnte mir gut vorstellen, dass bei diesem Morast nicht alle Fahrzeuge problemlos zur Straße zurückfinden würden.

Da der lang gezogene Marx’sche Weiher nur wenige Baumreihen vom rechten Straßenrand aus entfernt lag, konnte ich sein Ende gut erkennen. Etwa 200 Meter weiter knickte rechts die Rheinauen­straße ab. Sie führte um die kurze Seite des Weihers und mündete als Rampe für kleine Boote direkt im Wasser des Altrheins. Eine schmalere Verlängerung der Rheinauenstraße bildete den Deich zwischen Altrhein und Marx’schem Weiher. Die Deichkrone war asphaltiert und ausschließlich für Fahrräder und Fußgänger zugelassen. Kurz bevor die Straße einen Knick in Richtung Altrhein machte und als Rampe endete, stand rechts das Restaurant Rheinblick. Das Gebäude wirkte wie ein zu klein geratenes Wasserschloss. Mit Ausnahme des Zufahrtsweges war es komplett von Wasser umgeben. Der Deich, der den Altrhein und den Marx’schen Weiher trennte, ragte nach meiner Schätzung höchstens 1,50 Meter aus dem Wasser heraus. Gerhard fuhr auf den Rheinblick-Zufahrtsweg und parkte.

»Pass auf, wo du hintrittst«, warnte mich mein Kollege beim Aussteigen. »Hier gibt’s zwar keinen Matsch wie drüben bei Metzger, dafür aber sehr tiefes Wasser.«

In der Tat war neben der Deichstraße nur ein kleiner Teil der Böschung zu sehen, der Rest war Land unter. Wir liefen die Deichkrone entlang. Schemenhaft konnten wir in einiger Entfernung einen mobilen Kran ausmachen, an dessen Ausleger starke Strahler befestigt waren. Den dazu benötigten Dieselgenerator konnten wir deutlich hören. Einen Bagger, dessen Silhouette etwas seltsam auf uns wirkte, konnten wir ebenfalls ausmachen. Als wir näher kamen, erkannten wir, dass er mehr als zur Hälfte im Weiher versunken war. Untätig standen ein paar Männer an der 15 Meter breiten Deichbruchstelle herum. Ich zeigte meinen Ausweis. Nachdem er unsere Kleidung kritisch gemustert hatte, stellte sich einer der Herren als Franz Mangold vor.

»Haben Sie keine Schutzkleidung? Wir sind hier nicht im Büro!«, ereiferte er sich.

Ohne ihm darauf eine direkte Antwort zu geben, bat ich ihn, mir die Situation zu beschreiben.

Er deutete mit seiner Hand auf die starke Strömung, die in Richtung Marx’scher Weiher verlief. »Als wir hier ankamen, war der Bruch nur halb so breit. Die Strömung ist so stark, dass ständig weiteres Material des Deiches abgeschwemmt wird. Mit dem Bagger wollten wir eine kleine Barriere aufstellen, doch den hat’s sofort in die Fluten gerissen. Der Baggerführer konnte sich gerade noch retten.«

»Und was haben Sie als Nächstes vor?«, fragte ich wissbegierig.

»Solange es regnet und das Pegelniveau zwischen Altrhein und Weiher unterschiedlich ist, können wir nicht viel machen. Bis morgen Abend wird das bestimmt noch andauern. Dann müssen wir mit Lkws neues Deichmaterial anschaffen. Und das auf diesem kleinen asphaltierten Radweg. Können Sie sich vorstellen, wie lange das dauert? Jeder Lkw muss rückwärts über die Deichkrone fahren und dann abladen. Einer nach dem anderen. Überholen geht ja nicht.«

»Wie sieht’s an den anderen Bruchstellen aus? Es sollen insgesamt drei sein.«

»Ähnliches Bild. Den mittleren Bruch hat die Wasserschutzpolizei unter Aufsicht. Die kurvt da draußen mit ihrem Boot herum. Diese Stelle können wir erst reparieren, wenn die beiden äußeren wieder okay sind. Das wird wahrscheinlich Mitte nächster Woche sein.«

»So lange?«, fragte ich erstaunt.

»Sie haben ja keine Ahnung. Es reicht nicht, ein paar Tonnen Sand hinzukippen. Die würden sofort wieder wegschwemmt werden. Das Zeug muss verdichtet werden. Versuchen Sie mal, nassen Sand zu verdichten.«

»Wir haben eine Meldung bekommen, dass es vor zwei Stunden ein paar Explosionen gab. Wissen Sie davon?«

»Nur vom Hörensagen«, antwortete Herr Mangold. »Es muss aber nicht zwangsläufig hier geknallt haben. Der Camper, der uns das mitteilte, war ziemlich betrunken.«

»Können Sie uns etwas zu den Ursachen des Deichbruchs sagen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, so etwas wie hier habe ich noch nie erlebt. An drei Stellen gleichzeitig und das bei der Hochwassermarke 1. Vielleicht liegt ein Konstruktionsfehler vor, wer weiß?«

»Kann der Deich auch gesprengt worden sein?«

»Das würde ich verneinen. Warum sollte das jemand tun? Terroristisch lohnende Ziele gibt’s hier nicht. Ferner bräuchte man da schon eine Menge Sprengstoff und an so etwas ist nicht leicht ranzukommen. Das müsste eigentlich auch jemand gesehen haben. Es reicht schließlich nicht, den Sprengstoff auf den Deich zu legen. Da müssen Bohrungen gemacht werden, um das Zeug möglichst tief zu versenken. Sonst spritzt nur ein bisschen Sand in der Gegend herum. Aber wenn Sie möchten, können wir gerne einen Sprengstoffspürhund anfordern.«

Ich bat ihn, das möglichst bald zu tun. »Was meinen Sie, werden die Campingplätze hinter der Kreisstraße etwas abbekommen?«

Mangold starrte mich an. »Sie wollen von der Kripo sein? Dann sollten Sie wissen, dass die Evakuierung bereits auf vollen Touren läuft. Es ist nur eine Frage der nächsten Stunden, bis die Straße unter dem plötzlichen und ungeheuren Druck bricht. Wenn sich dann drüben noch jemand aufhält, hat er keine Chance mehr. Die Strömung wird alles mitreißen. Und am Deichbruch werden wir es auch spüren. Bevor nicht alles Land unter ist, brauchen wir mit der Reparatur nicht anzufangen. Das überflutete Gebiet wird annähernd die Größe des geplanten Polders haben.«

Ja, der Polder, dachte ich. Nordwestlich, direkt angrenzend an diese Campingplatzanlage und in direkter Nachbarschaft zu Altrip, wird ein 300 Hektar großes Überlaufbecken mit neun Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen als Teil des rheinland-pfälzischen Hochwasserschutzkonzeptes gebaut. Die Bürger der umliegenden Gemeinden gingen seit Jahren auf die Barrikaden, hatten aber schlussendlich vor Gericht den Kürzeren gezogen. Gemeint war wohl: Gemeinwohl geht vor Gemeindewohl.

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