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KAPITEL 4 Der Fünfte im Zimmer

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Dabei war er der Erlösung kurzfristig sehr nahe gekommen. Eine schwere Erkrankung, die blitzartig in Albrechts Leben getreten war (was nicht heißt, dass sie nicht in seinem Körper geschlummert hatte), hat alles verändert. Wer ein Foto von ihm, elf Monate vor seinem Krankenhausaufenthalt gesehen hätte, wäre erschrocken. Es waren zwei verschiedene Menschen. Albrecht war auf jeden Fall für kurze Zeit mehr tot als lebendig und in den wenigen wachen Momenten gar nicht unglücklich über sein Schicksal. Im Gegenteil. Im Spital wurde er gut versorgt, er hatte Gespräche mit seinen Pflegern und mit Ärzten, er bekam sein Essen und die Abläufe in einer Klinik gestalteten einen runden und kontinuierlichen Lebensalltag. So hatte er es gerne. Er war felsenfest davon überzeugt, nicht mehr aus dem Spital zu kommen und zelebrierte seine letzten Tage zunehmend mit einer gewissen Vorfreude. Er freute sich auf jeden Besuch der Schwestern und Ärzte und genoss jede Tablette und jeden Schluck Kontrastmittel beim Röntgen wie einen edlen Burgunder. Das wird Viele erstaunen, weil Spitalsaufenthalte, ja sogar der eigene Geruch dort aus Desinfektionsmittel den meisten Menschen einem Horror gleichkommt. Selbst jemanden zu besuchen ist grauenvoll, weil man von einer Welt voller Vogelgezwitscher, Wärme und Sonne in die Katakomben des Leidens eintauchen muss. Albrecht hatte früher ebenso empfunden, doch die Zeiten hatten sich geändert. War früher ein Schnittlauchbrot oder eine Gemüsesuppe der Höhepunkt des Tages gewesen, wurde ihm jetzt Suppe, ein ausgewogenes Hauptgericht und Obst zur Nachspeise serviert. Wenn man jung ist, wundert man sich oft, warum alte Menschen regelmäßig Ärzte konsultieren oder oftmals der Eindruck entsteht, dass sie sogar ihre Krankheiten hofieren. Albrecht hatte im Krankenhaus sozialen Anschluss, konnte mit anderen Patienten plaudern, Kartenspielen, hatte auch Kontakt mit deren Besucher. Er selbst bekam nur ein Mal Besuch. Ein alter Jugendfreund, der schon erwähnte ehemaliger Sportbetreuer der »Stadt des Kindes«, der nun als Leiter eines Jugendwohnhauses kurz vor der Pensionierung stand, brachte ihm Zeitschriften und Pralinen. Dabei hatte Albrecht gar nicht so viel Kontakt mit ihm gehabt und war sehr verwundert. Meist erweisen sich die Menschen als Freunde in der Not, denen man es gar nicht zugetraut hätte. Damals im Krankenhaus wurde Albrecht Teil einer Geschichte, die sein Verhältnis mit dem Tod beeinflusste. Das Erlebnis prägte ihn. Eines Tages wurde ein dreiundsechzigjähriger Mann, blass und hüstelnd im letzten Stadium einer Tumorerkrankung aus der Notaufnahme in die Station für Innere Medizin überwiesen, in der auch Albrecht lag. Man hatte dem jungen Stationsarzt angeraten, den Patienten in einem Einzelzimmer unterzubringen, doch die waren alle belegt. Nur in Albrechts Sechsbettzimmer war ein Platz frei. Der junge Stationsarzt zögerte. Konnte er den anderen Patienten den Unheilbaren zumuten? Schweren Herzens begab er sich in das Zimmer und führte ein Gespräch mit den Patienten. Ein langes Gespräch. Am Ende beschlossen alle fünf, den Sterbenden aufzunehmen.

»Was wäre, wenn wir Krebs im Endstadium hätten und keiner wollte uns haben« sagte einer von ihnen.

»Wir nehmen ihn, Herr Doktor« sagten die anderen. Albrecht hatte sich dafür stark gemacht, ihm den Fensterplatz zu überlassen. Die Patienten des Zimmers organisierten untereinander für den Todkranken eine 24-Stunden-Betreuung. Sie saßen an seinem Bett, fütterten und wuschen ihn und lasen ihm aus der Zeitung vor. Es war das erste Mal seit Langem und das letzte Mal in seinem Leben, dass er kollektive Herausforderung empfunden hatte. Albrecht zeigte dem Mann auch seinen Zaubertrick: das Verschwinden einer Münze. Das Publikum reagierte nicht besonders euphorisch, es gab keine Standing Ovations und keinen tosenden Applaus. Wahrscheinlich bekam der Sterbende es gar nicht mehr mit. Doch die Anwesenheit und die geballte Sorge seiner Mitbewohner registrierte er bestimmt. Fünf Tage später starb er, in ihrer aller Anwesenheit. Die Übriggeblieben beschrieben diese fünf Tag als die wichtigste Erfahrung ihres Lebens, denn es hätte jeden von ihnen treffen können. Es würde jeden von ihnen treffen und jeder von ihnen hatte wohl die Hoffnung, dass dann jemand da war, der an ihrem Bett saß. Von diesem Tag an hatte Albrecht noch weniger Angst vor dem Sterben. Und doch machte er eine Erfahrung, die ihn zu Tode erschreckte. Als sie den Alten aus dem Zimmer rollten, dämmerte es draußen. Albrecht stand am Fenster und sah die Stadt im Licht des neuen Morgens. Die Sonne erhellte das Leben, die Vögel zwitscherten und der nie endende Autostrom schob sich in die Stadt und wieder hinaus. Es war tatsächlich niemandem aufgefallen, dass die Erde nicht mehr komplett war. Sie drehte sich einfach weiter, als wäre gar nichts passiert. Albrecht verstand nicht, dass ein neuer Tag beginnen konnte, obwohl einer fehlte. Als er diese Eindrücke verarbeitet hatte, verflog die positive Energie, welche ihre Pflege ausgelöst hatte und er verfiel zunehmend in Lethargie. Bei Umfragen gaben sechsundsechzig Prozent der Befragten an, sie würden am liebsten im eigenen Heim sterben, nur neunzehn Prozent nannten das Krankenhaus als gewünschten Ort für das Sterben. Dieser Wunsch erfüllt sich für die Wenigsten, stattdessen sterben mindestens sechzig Prozent im Krankenhaus und weniger als neunzehn in ihren eigenen vier Wänden. Je länger man in einer Klinik war und je schwerer die Erkrankung war, desto wichtiger war für die Meisten der Wunsch, heimzukommen. Einer von Albrechts Zimmerkollegen packte jeden zweiten Freitag seine Reisetasche und freute sich auf seine Tochter und die Enkel, die ihn gelegentlich für ein Wochenende mitnahmen. Gerade Krankheiten wie Krebs haben neben Unannehmlichkeiten wie Schmerzen, Übelkeit und manchmal auch das Sterben. Das normale Leben wurde praktisch ausgeschalten. Alles dreht sich um die neue Situation und alles ordnet sich der Krankheit unter. Ein Besuch im eigenen Heim oder bei der Familie kann das Gefühl kurzfristig wiederherstellen, so wie im gesunden Leben eine ganze Weltreise. Es gab aber viele Freitagabende, wo sein Zustand so schlecht war, dass die Reisetasche neben dem Bett stehenblieb, bis sie am nächsten Morgen wieder ausgeräumt wurde. Albrecht hörte ihn nachts weinen und manchmal weinte er mit. Es gab Tage, da hätte Albrecht stundenweise die Klinik verlassen können. Doch das tat er nicht. Das Krankenhaus wurde zu einem Ort, den er schätzte. Nichts zog ihn zurück in seine einsame Wohnung und es gab nichts, was ihm hier Angst machte. Im Gegenteil. Wenn man raus in den Park gehen wollte, war das in Ordnung und wenn man umfiel, war jemand da, der einen reinbrachte. Die Fragebögen der Ärzte, wer im Fall seines Ablebens zu verständigen sei, hatte er sarkastisch mit »meine Genossenschaft« und »meine Bank« ausgefüllt. Sarkasmus war überhaupt eine völlig neue Seite auf dem Planeten Albrecht, die damals entdeckt wurde. Als die Raumfahrer in Ärztekluft auf dem Planeten Albrecht landeten, drehte sich dieser Himmelskörper unermüdlich weiter um seine eigene Achse und brachte ständig unbekannte Seiten zum Vorschein, wie ein Zauberkünstler Münzen aus der Luft holte. Sarkasmus ist aber der bucklige Bruder des Humors, kein offenes, herzliches Lachen oder eine wortgewandte Pointe – nur der bittere Spott oder Hohn einer Enttäuschung. So wurde das Krankenhaus zu einem Ort, an dem Albrecht gut zurechtkam und sich sehr gemütlich einrichtete. Eine neue Zeitschrift lag jeden zweiten Tag auf seinem Nachttisch und auch eine Flasche des neumodischen, mit Geschmack verstärkten Mineralwassers stand daneben. In seiner Schublade lag ein Bild von jenem Menschen, der ihm so viel bedeutet hatte. Damals fragte ihn niemand, warum er es versteckte. Man kann also erahnen, wie schlimm diese Situation gewesen sein musste, wenn Albrecht wie ein barocker König im Krankenhaus thronte und darauf wartete, ja sich sogar einredete, dass er bald sterben würde. Sein eigener Tod stand nun im Vordergrund und die mentale Phase sich darauf vorzubereiten, veränderte seine Einstellung zu den Dingen. Ja, er genoss die Zeit im Krankenhaus, da gab es gar keinen Zweifel. Die schlimmen Nächte in seiner Wohnung waren vorbei, er erwartete schon früh am Morgen die Visite und freute sich über das rege Treiben zwischen Untersuchungen und die abwechslungsreichen Mahlzeiten und er stand gerne am Gang herum, wo er gelegentlich sogar zu guten Gesprächen kam. Er half auch gerne anderen Patienten, denn Albrecht war ein guter Mensch und er stürzte sich mit Freude auf jede Aufgabe, die ihm gestellt wurde. Für einen Augenblick, nur einem winzigen Hauch der Zeit schien es so, als würde sein Leben ein ertragbares Ende finden und als Krönung der Party sein eigenes Sterben auch dafür sorgen, dass er keine Last mehr auf sich laden musste. Das Dumme ist nur, dass man oft so sehr von etwas überzeugt ist, dass man nicht erkennt, dass man sich irrt. Gleichzeitig passierte etwas, das ihn warnen sollte. Seine Sinne schärften sich und er fühlte sich immer besser.

Er verbrachte so viel Zeit, wie er konnte, unterwegs im Krankenhaus oder draußen im Park. Er nahm die Gerüche auf, er studierte die Farben der Welt, so als schien es ihm wichtig, sie zu konservieren und mitzunehmen. Er verbrachte den ganzen Herbst in der Klinik und die Farben, die diese Jahreszeit erfüllen, malten ein Zauberland. Das fallende Laub und die kräftigen Rottöne verwandelten den kleinen Park des Krankenhauses in ein wunderschönes Gemälde. Der Schleier hatte sich gelichtet und die Welt wirkte intensiv auf ihn. Zuerst dachte er, es sei das letzte Aufkeimen vor dem Tod, aber in Wirklichkeit kämpfte sich sein Körper zurück ins Leben. Der Planet Albrecht widersprach seinem Gebieter, dem allmächtigen Gehirn und hatte eine Richtung eingeschlagen, die weit weg von einer Kollision mit der Sonne führte. Anfang Dezember zogen in seiner Welt erstmals dunkle Wolken auf, denn er bemerkte, dass die Ärzte ihn anders behandelten und hinter seinem Rücken munkelten. Ja, sie tuschelten. Sie verschworen sich gegen ihn. Sie raunten und tuschelten und knisterten mit heimlichen Befunden, die seine Gesundung dokumentierten. Nicht, dass er die immer besseren Untersuchungsergebnisse und die Freude der Ärzte über seine Genesung nicht lange ignoriert hätte. Den Raumfahrer in Ärztekluft blieben Neuigkeiten am Planeten Albrecht natürlich nicht verborgen und die Gesteinsproben, die sie sammelten, sprachen Bände! Er klagte weiter über dieses und jenes, doch es dauerte nicht lange, bis die Götter in Weiß dem Urteil der Medizin und der Ergebnisse seiner Blutwerte mehr glaubten, als seinem schauspielerischen Geschick. Der Gedanke, Weihnachten alleine in seiner Wohnung zu verbringen, rief Panik in ihm hervor. Immer schwächer wurden seine Ausreden und sich selbst überzeugende Argumente, um die Lage anders darzustellen. Er ignorierte die Tendenz, dass die Ärzte ihn abschließenden Untersuchungen unterzogen, weil er sicher war, dass sie etwas finden würden. Ärzte finden doch immer etwas. Genau deshalb war er nie gerne zu einem Arzt gegangen, weil die Angst, dass sie etwas finden würden, viel größer war, als die möglichen Konsequenzen, es nicht zu behandeln. Tatsächlich lebten in Albrechts Generation und auch danach Menschen bis in die neunziger Jahre oft mit schweren Erkrankungen sehr lange, weil sie nicht zum Arzt gingen. Er selbst kannte eine Frau, die neunzig Jahre alt war, als man den Krebs entdeckte. Man operierte sie, verteilte die Metastasen und sie starb. Bei manchen Krebsarten wie Darmkrebs, konnte die Früherkennung die Sterberate verringern, bei anderen, wie der Brustkrebsuntersuchung, der Mammografie, ist die Vorsorge höchst umstritten. Auch hier wird getuschelt. Das viel mehr Menschen behandelt wurden, bei denen der Krebs gar nicht ausgebrochen wäre, Falschdiagnosen passieren und die Anzahl der tatsächlich durch die Früherkennung Geheilten gar nicht nachweisbar ist. Zwar war Albrecht kein Brustkrebskandidat, aber er war sich sicher, dass in seinem Alter bei seiner mentalen Situation furchtbare Krankheiten in ihm schlummerten. Doch er irrte sich. Nun war er schon mal im Krankenhaus und sie fanden nichts. Eines Tages brach seine Welt zusammen. Er wurde mit einem Stapel Papieren für die Krankenkassa entlassen, in denen stand, dass er sich aktenkundig prächtig fühlte. Wie in einem schlechten Film stand er plötzlich um sieben Uhr morgens vor der Klinik und war ausgestoßen. Nach einer anfänglichen Panik, die nicht ausreichte, um sein Herz zum Stillstand zu bringen, war er ausgesetzt worden. In einer Welt, die bedeutungslos schien. Albrechts Reise nach Hause war eine Irrfahrt. Er hatte sich sogar verfahren. Anders als Odysseus Irrfahrten, endete Albrechts Reise in seiner Wohnung. Isoliert vom Leben, in einem Warteraum, empfand er die leere Wohnung wie die Insel von Robinson Crusoe. Obwohl der Vergleich hinkt, denn Crusoe fand zuerst sich selbst, dann den Hund Skipper und schließlich einen Eingeborenen namens Freitag, die ihm Gesellschaft leisteten. Albrecht stand niemand bei, als er seine Wohnung aufsperrte. Er durchschritt das Tor zur Hölle. Seine Mitfahrgelegenheit zur Erlösung war abgelehnt worden. Nicht mal der Tod wollte ihn. Andere gingen und er blieb alleine zurück. Zwei Tage soll er regungslos in seiner Wohnung gesessen sein, nicht mal die Kraft in sich, etwas einzukaufen. Es war der größte Zusammenbruch seiner dreiundsiebzig Jahre, seine gemarterte Seele war zerschmettert. Damals muss ihm zum ersten Mal klar geworden sein, dass er auch vor einem Freitod nicht zurückschrecken würde.

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