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Das Medizinstudium

Physikum 1969

Endlich geschafft! Die erste Prüfung des Medizinstudiums mit all ihren chemischen und physikalischen Klippen hatte ich bewältigt, über Farne und Moose berichtet und die Entwicklungsstadien der Würmer an ihren verschiedenen Orten abgehandelt.

Ich war eine fröhliche und nachdenkliche junge Frau von mittlerer Größe, nicht dick, aber von meinem jahrelangen sportlichen Training gekräftigt und zäh.

In meinem Leben hatte ich bereits einige zwischenmenschliche Hürden überwinden müssen. Daher bestand ein erhebliches Nachholbedürfnis, was Freiheit und Austoben betraf. Obwohl ich schon mit zehn Jahren Ärztin werden wollte, um Menschen zu helfen, gelang es mir nicht, richtig dafür zu pauken. Ich fand einfach keine Zeit dafür. So war es kein Wunder, dass ich immer das Gefühl behielt, die anderen seien schlauer als ich. Vielleicht war ich überhaupt zu dumm für dieses Studium.

Ich stand jetzt vor dem ausschließlich mündlichen Physikum. Viel zu spät, nämlich drei Wochen zuvor, hatte ich ernsthaft begonnen, mich hinter die Bücher zu klemmen. Das war eine zu kurze Zeit, wenn man bedenkt, dass sich andere dafür ein Jahr hinsetzen. Hinzu kam noch die Prüfungsangst.

Das erste Fach war Anatomie. Mir graute davor, weil Professor Todt dafür bekannt war, dass er Frauen gern durchfallen ließ. Diese gehörten seiner Ansicht nach nämlich an den Herd. Und es ging das Gerücht um, dass verlobte und verheiratete Frauen gut daran täten, dies auf jeden Fall zu verschweigen und ohne Ring zu erscheinen. Deren Durchfallquote lag nämlich noch höher.

Erst vor der Tür des Prüfers lernte ich Fritz Merker, einen Mitprüfling, kennen. Ich hatte gerade noch Zeit festzustellen, dass ich anscheinend wenigstens mehr wusste als er. Dann wurden wir hereingerufen.

Wir waren insgesamt vier und wurden in Zweiergruppen aufgeteilt. Fritz und ich wurden gebeten, zur Befragung Platz zu nehmen, während Todt die anderen beiden zu den feingeweblichen Schnitten am Mikroskop in einen Nebenraum führte.

Todt kehrte zurück und setzte sich. Er leitete die Prüfung mit einigen Floskeln ein und sagte schließlich: „Da hatten wir mal eine, die sollte sich habilitieren. Und was tat sie? Heiratet die doch einen Kartoffelhändler!“

Gemeint war, das wussten wir, eine Privatdozentin der Anatomie, die einen Ausländer geheiratet hatte. Das aus dem weißen Kittel hager herausragende Gesicht des Professors wurde von zwei ziemlich abstehenden, riesig erscheinenden Flatterohren eingerahmt und wirkte mit einem Anflug von Häme unangenehm. Es verzog sich bei dieser Bemerkung zu einem verächtlichen Grinsen. Der Blick stach mich aufreizend, als wollte er fragen, ob ich das auch vorhabe. Ich rutschte etwas unsicher auf meinem Stuhl herum und versuchte, ein verwundertes Gesicht zu machen. Ich fand diese Bemerkung unverschämt, gleichzeitig bekam ich einen Druck im Magen, denn ich begriff, dass die bekannten Gerüchte wohl begründet waren.

„Nun wollen wir mit der Prüfung beginnen“, sagte Todt und wandte sich mir freundlich, fast kollegial zu. „Denken Sie erst einmal über die Muskeln des Schultergelenks nach, während ich Ihren Kollegen befrage.“

Mein Gehirn begann zu rattern und suchte die Namen der Muskeln zusammen. Ich fühlte mich danach recht sicher und hörte der Prüfung meines Leidensgenossen zu. Todt leitete Fritz aus einem Wissensloch nach dem anderen heraus und beendete die Befragung jedes Mal mit dem Wort „gut“. Wenn das so lief, brauchte ich keine Angst zu haben.

Er wandte sich wieder an mich: „Fräulein Birk, nun erzählen Sie mir mal, welche Muskeln auf den Schultergürtel wirken.“

Ich stutzte einen Moment. Er hatte doch nach den Muskeln am Schultergelenk gefragt. Das war eine Falle! Dieser Mistkerl! Ich schwenkte gedanklich um und zählte tatsächlich alle Muskeln mit Wirkung auf den Schultergürtel richtig auf.

Es folgte kein „Gut!“. Es folgten Fragen über die Nerven dieser Muskeln, über die Muskeln und ihre Nerven im Brustkorbbereich und von da systematisch abwärts bis in den Unterbauch, wo ich schließlich zwei Nerven nicht wusste.

„Hab ich’s doch gewusst!“, sagte der mitleidig verächtliche Blick auf mich, der sich nun wieder Fritz zuwandte und ihm die nächste Frage stellte. Wieder folgte ich dem Spiel des kollegialen Gesprächs, das Fritz mit gütiger Geduld Schrittchen für Schrittchen schließlich zur Benennung der gewünschten anatomischen Teile führte.

Dann drehte sich Todt in seinem Stuhl wieder mit der Miene eines stillen Seufzers zu mir und holte tief Luft: „Fräulein Birk, ich möchte von Ihnen nun gerne wissen, wie das so ist bei der Befruchtung.“ Er machte eine kleine Kunstpause und sah mich herausfordernd an. „Was geschieht, wenn bei der Vereinigung Spermien auf die Eizelle treffen? Was entsteht, wenn ein Spermium in die Eizelle eindringt?“

Mir wurde es ungemütlich. Ich hatte eben dieses Buch des vor mir sitzenden Profs über die Entwicklungsgeschichte nicht mehr zu Ende lesen können. Außerdem gab es da die „Himbeere“, ein Zellteilungsstadium, das in seinem Buch nicht abgebildet war, das er sich aber immer aufzeichnen ließ. Ich hatte nirgends die richtige Darstellung finden können. Ich wusste auch, dass üblicherweise kaum einer dem Prof dieses Zellteilungsstadium zufriedenstellend beschrieb, weil er darauf bestand, dass es eben doch nicht wie eine Himbeere aussah, obwohl es in anderen Büchern immer damit verglichen wurde. Ich machte Ausführungen bis zu diesem Stadium und erklärte, warum ich nur die Himbeere anführen konnte. Professor Todt lächelte auf mich herab. Die Befragung ging weiter bis ins Aus, meine letzte gelernte Seite in seinem Buch. Und ich bekannte, dass ich das folgende Entwicklungsstadium nicht erklären könne.

„Na ja“, seufzte er, „dann frage ich Sie etwas anderes …“ Wieder machte er eine Kunstpause. „Stellen Sie sich vor, zu Ihnen kommt eine Patientin und sagt: ‚Ach, wissen Sie, mein Mann ist Fernfahrer …‘“ – erneute Kunstpause – „‚Und er ist immer unterwegs und nur selten zu Hause.‘“ Todt bekam amüsiert sehnsüchtige Züge bei dieser Ausführung. „Und Sie werden gefragt, was sie denn nur tun solle.“

Ich zögerte, doch die Frage schien beendet. Er sah mich erwartungsvoll an.

Was wollte er denn wissen? Sollte die Patientin ein Kind wollen oder nicht? Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, in der Hoffnung, dass er seine Frage noch präzisieren würde. Aber er wartete nur auf meine Antwort.

„Ich würde ihr sagen, sie soll erst einmal genau feststellen, wie viele Tage ihr Zyklus dauert.“

„Der Zyklus ist 28 Tage“, warf der Prof harsch ein. „Was würden Sie ihr sagen?“

Es war wohl am besten, ihm alle Möglichkeiten im Zusammenhang mit einer Befruchtung auszubreiten. „Es kommt darauf an, ob die Patientin ein Kind möchte oder nicht. Ich würde ihr erklären, dass sie vom ersten bis zum neunten Tag …“

„Falsch!“

„… bis zum neunten …“

„Falsch!“

„Vom 12. bis zum 16. Tag ist Konzeptionszeit.“

„Falsch!“

Das lederfaltige Gesicht des Profs spähte bösartig. „Sie haben ja keine Ahnung!“

Beklemmende Spannung spreizte die Stille. Ich wagte zu sagen: „Aber die Konzeptionszeit habe ich doch wenigstens gesagt.“

„Nein, haben Sie nicht!“

Da fiel zu meinem Erstaunen und zur Verblüffung des Profs Fritz mit sanfter Stimme ein: „Doch, Herr Professor, das hat sie gesagt.“

Der Kopf drehte sich zu Fritz, dann zurück zu mir, und er platzte heraus: „Können Sie jetzt das Entwicklungsstadium von vorhin erklären?“

„Nein.“

Ich saß zwar aufrecht da, innerlich fand ich aber keinen rechten Halt mehr, weil ich sah, aber nicht glauben konnte, dass Todt tatsächlich nur hören wollte, dass ich etwas falsch sagte oder nicht wusste. Meine Inquisition war vorläufig beendet. Ich folgte der letzten Prüfungsfrage für Fritz, der sich bei speziellen Fragen nach dem Zwölffingerdarm völlig verhaspelte, offensichtlich kaum Ahnung hatte und vom Prüfer mit sicheren Sätzen durch alle Darmschichten hindurchgeführt wurde, mit dem Ergebnis: „Sehr gut, Herr Kollege!“

Professor Todt erhob sich, würdigte mich keines Blickes mehr und verschwand im Nebenraum. Nach kurzer Zeit kam er mit den anderen beiden zurück und führte Fritz und mich hinüber, wo wir beide je vier Präparate aus einem Kasten voller Gewebeschnitte ziehen und uns an die Mikroskope setzen mussten. Er blieb noch einen Moment hinter uns stehen.

„Sie wissen, Sie dürfen nicht miteinander reden“, sagte er und fügte beiläufig hinzu: „Sie können sowieso nichts von ihr erben.“

Ich hatte mich nicht verhört. Zunehmende Wut ließ mich nachfragen: „Meinen Sie, er von mir oder ich von ihm?“

„Er von Ihnen natürlich! Oder was dachten Sie?“ Mit diesen Worten verließ der Prof den Raum.

Kaum war er aus dem Zimmer gegangen, jammerte Fritz: „Du, ich hab noch nie ein Präparat gesehen!“

„Ich guck sie mir gleich mal an. Aber erst mal sehe ich meine durch.“

Ich schob die Präparate unters Mikroskop und erkannte drei von vieren. Fritz war verzweifelt. Ich sah mich um, voller Angst, entdeckt zu werden, schob schnell seine Präparate unter mein Mikroskop und erkannte hiervon ebenfalls drei. Beim vierten war ich wie bei meinen eigenen unsicher. Dann warteten wir, jeder auf seine Weise bange, auf das Ende der Prüfung der anderen beiden.

Der Professor betrat den Raum. Er setzte sich zuerst hinter Fritz’ Mikroskop und forderte ihn auf, die Gewebe zu identifizieren. Alle stimmten, bis auf das letzte. Wie ein Sohn in den Armen des Vaters schwimmen lernt, so schwamm Fritz in den rettenden Fragen des Profs durch völlig falsche Gewebe zum übrig gebliebenen richtigen und wurde gelobt.

Der Professor erhob sich und trat zu mir. Ich machte das Mikroskop für ihn frei. Während er sich setzte und das erste Präparat einschob, zählte ich die Gewebe der ersten drei Präparate auf und fügte hinzu, dass ich beim letzten Präparat nicht sicher wisse, welches von zwei einander ähnlichen Geweben es sei.

„Falsch!“, rief Todt und drückte seine Augen ans Mikroskop.

Ich war verunsichert: „Was ist falsch?“

„Falsch!“, wiederholte er. „Das Präparat ist kein Schnitt der Schilddrüse!“ Er sah weiterhin ins Mikroskop, ich sah ihn noch immer das erste Präparat fixieren.

„Nein, das, was Sie gerade ansehen, ist quer gestreifte Muskulatur, aber das zweite ist Schilddrüse und das dritte Rückenmark. Nur beim vierten bin ich mir nicht sicher, ob es Harnröhre ist.“

Fast unverwandt ins Mikroskop starrend legte Todt wortlos die nächsten beiden Präparate zur Betrachtung darunter und stellte schließlich beim unbekannten vierten die größte Vergrößerung ein.

„So, Sie haben dieses Präparat nicht erkannt!“ Wieder kam eine seiner Kunstpausen. „Dann sagen Sie mir mal“, er löste sich von Mikroskop und Stuhl, „was für eine Zelle das ist, die ich Ihnen hier eingestellt habe.“

Ich schaute entmutigt durch das Mikroskop auf das einzige Präparat, das ich nicht erkannt hatte, und sah eine deutlich größere Zelle mit dickem Kern im Zentrum. Mir fiel nichts dazu ein. Er wollte mich einfach reinlegen. Ich war hilflos.

„Ich weiß nicht, was für eine Zelle das ist.“

Der Prof hatte das erwartet und sich schon in Richtung Tür begeben. „Ich muss nun den beiden anderen ihre Bewertung mitteilen. Anschließend kommen Sie dann dran. Übrigens –“, er drehte sich mit einer auffordernden Geste zu mir um, „Sie können inzwischen schon mal die Präparate aufräumen, als Hausfrau müssen Sie auch aufräumen.“

Ein triumphierendes Lächeln spannte sich über sein Gesicht, als er den Raum verließ.

Ich fühlte mich wütend, ohnmächtig benommen, ausgeliefert. Ich war sprachlos vor Wut und Angst. Mit Fritz, der schuldlos ein schlechtes Gewissen zu haben schien, tauschte ich nur einige vielsagende Blicke. Ob ich die Präparate tatsächlich aufräumte, weiß ich nicht mehr.

Wir wurden hereingerufen und erfuhren, dass Fritz seine Prüfung mit „befriedigend“, ich meine natürlich nur mit „ausreichend“ hinter uns gebracht hatten.

Ich fiel durchs Physikum. Ich hatte eben zu wenig gelernt. Physiologie war für mich das schwierigste Fach. Der Prüfer mühte sich zwar redlich, Wissensinseln aufzutun, er fand jedoch keine, weil ich, schon völlig verzweifelt, das wenige, was ich wusste, nicht mehr herausbrachte. Zwei Vieren bedeuteten: durchgefallen. Zur letzten Prüfung brauchte ich daher gar nicht erst anzutreten.

Ein Semester später wiederholte ich die Prüfung. Diesmal würde das Scheusal von Anatomieprofessor Todt in jeder Prüfung Beisitzer sein und mich in Anatomie erneut selbst prüfen, wie ich zu meinem Entsetzen erfahren hatte. Allerdings würde ein Beisitzer die vorigen Spielchen nicht einfach mitmachen – hoffte ich zumindest. Ich hatte wie besessen gepaukt, aber meine Angst war unbeschreiblich groß.

Die Prüfungen in Physiologie und physiologischer Chemie hatte ich trotz des ledergesichtigen Beisitzers im Hintergrund bei netten Prüfern erfolgreich hinter mich gebracht. Einer der beiden Prüfer saß als Beisitzer in Anatomie dabei. Die Anwesenheit eines Zeugen tat der Willkür des Anatomieprofessors erheblich Abbruch. Doch obwohl ich alle Fragen beantwortet hatte, ließ er die Bewertung „gut“, die vom Beisitzer empfohlen wurde, nicht zu. Es könne keine Note übersprungen werden.

Mir war das jetzt völlig egal. Die erfolgreiche Prüfung lag endlich hinter mir, ich war erleichtert und zufrieden. Aber ich habe diese Vorfälle nie vergessen und bin hellhörig geblieben.

Ich studierte ein klinisches Semester im Ausland und kehrte dann wieder nach Deutschland zurück.

Wenige Medizinstudenten hatten sich in den „68ern“ politisch betätigt. Dennoch stieß ich in der ersten Augenvorlesung auf zwei Vertreter des SDS, Studenten, die zwar einerseits begründete Kritik an unseriösen Prüfmethoden während der Klausuren vorbrachten, andererseits aber auch konstruktive Vorschläge zu einer sinnvollen Wissensüberprüfung statt einer Klausur sogleich als reaktionär abtaten. Damit war mein Interesse an weiteren Diskussionen sofort abgewürgt. Es tat sich im Übrigen auch nichts Politisches mehr.

Ich durchlitt, wie fast alle Medizinstudenten, jede neue Krankheit, die ich in den Vorlesungen kennenlernte. Besonders litt ich an denen, die mit Müdigkeit und Abgeschlagenheit beginnen – und das war eine ganze Reihe –, denn ich genoss neben dem Studium noch immer eine großzügige Freiheit, die wenig Zeit für ausreichenden Schlaf ließ.

Staatsexamen 1972

Zum Staatsexamen fand man sich in einer Gruppe von meist vier Studienkollegen zusammen, mit denen man sich verstand und mit denen man alle 16 mündlichen Prüfungen innerhalb eines halben Jahres, die Anspannung der Zeiten davor und die ausgelassenen Feiern danach durchhalten konnte.

Ich hätte aufgrund meiner Physikumserfahrungen eine schriftliche Prüfung vorgezogen, denn ich fürchtete die Willkür der Professoren und fühlte mich bei mündlichen Prüfungen sehr unsicher. Und noch immer war meine Lerndisziplin nicht die eines Strebers.

In der Gruppe, in der ich zur Prüfung antrat, waren außer mir drei Männer, zwei Rudis und ein Steffen.

Bei der Chirurgieprüfung war ich erkältet und wurde sogleich vom ersten Prüfer gefragt, wo ich meine „sexy voice“ herhabe. Der Gynäkologe fragte mich, ob ich die Nacht durchgemacht hätte. Nach der Prüfung erkundigte er sich in einem lockeren Gespräch, welche Gebiete wir vier später anstreben wollten. Er war etwas verwundert, dass sich keiner meiner Mitprüflinge sein geliebtes gynäkologisches Fach aussuchen wollte, und wandte sich schließlich direkt an mich: „Werden Sie ja nicht Gynäkologin! Frauen sind immer so grob, haben mir meine Patientinnen gesagt.“

In Pathologie stand wiederum die Erkennung verschiedener, diesmal krankhaft veränderter Gewebe, fein geschnitten zwischen Plättchen, unter dem Mikroskop an. Man konnte sie vor der Prüfung ausleihen, um den Histologiekurs noch einmal für sich zu wiederholen. Zwei aus unserer Gruppe hatten die Präparate seit dem Kurs nicht wieder angesehen. Wir wussten, dass wir bei unserem Prüfer Zeit haben würden, die Präparate auszutauschen. Also waren die beiden anderen, darunter ich, in Abwesenheit des Professors emsig damit beschäftigt, die nicht erkannten Präparate der Faulpelze anzusehen. Natürlich kam der Professor herein, als unter meinem Mikroskop das einzige nicht erkannte Präparat lag.

Nach einer der Prüfungen in innerer Medizin diskutierte der Professor noch ein bisschen mit uns. Wir kamen auf den Unterschied zwischen Theorie und Praxis in der Medizin zu sprechen. Rudi 2 erklärte dem Prüfer, er habe bei Prüfungen immer einen Knoten im Kopf. Der Prüfer schüttelte wenig verständnisvoll den Kopf: „Wie wollen Sie denn bei einem Notfall richtig reagieren, wenn Sie schon bei der Prüfung einen Knoten im Kopf haben?“ Ich wandte ein: „Ich habe auch Prüfungsangst. Nach meiner Vorstellung ist es aber ein riesiger Unterschied, ob ich vor einem Prüfer stehe und zusammenhängende Abhandlungen über ein Thema erzählen muss im Wissen, dass der Prüfer vielleicht nur auf einen Fehler wartet, oder ob ich in der akuten Situation das Richtige für einen Patienten tun muss.“

Prompt wurden wir nach abendlichem Feiern in einem Waldhäuschen mit der rauen Wirklichkeit konfrontiert. Auf der Rückfahrt gegen ein Uhr nachts weckte ein Feuerwehrauto unsere Neugier, das neben der Straße stand, die am Fluss scharf abknickte und dann parallel zu ihm weiterführte. Was konnte da schon brennen? Wir stiegen aus, gingen zögernd näher heran und sahen, dass einige Menschen am Ufer standen und auf den dunklen Fluss deuteten. Nur unter der Ausleuchtung der Feuerwehr erkannten wir die vier Räder eines Autos, die mitten im Fluss aus dem Wasser ragten. Es wurde diskutiert, wie man das Auto am besten bergen könne. Ein Mann erzählte uns, dass der Wagen an der Kurve einfach geradeaus ins Wasser gefahren sei. Die Feuerwehr solle ihn herausziehen.

„Wo ist denn der Fahrer?“, fragten wir.

„Der ist noch drin!“

Mir wurde mulmig. Alles ging so gemächlich vor sich. Immerhin standen wir Neuangekommenen schon fünf Minuten da. Die Feuerwehrleute standen schon länger da und diskutierten nur. Der Mensch in dem Wagen hatte von Sekunde zu Sekunde weniger Überlebenschancen, sofern er überhaupt noch lebte. Mich überkam ein eigenartiges Gefühl. Einerseits wäre ich am liebsten weggegangen, weil ich kaum etwas Sinnvolles tun konnte und mich hilflos fühlte. Außerdem könnte man uns ja Schaulust unterstellen. Andererseits konnten wir vielleicht noch helfen, das Wasser aus den Lungen zu pumpen oder den Fahrer wiederzubeleben, obwohl ich Angst bei dem Gedanken bekam. Wir hatten so etwas noch nie gemacht. Durften wir überhaupt weggehen? Es war noch kein Arzt da, und keiner wusste, wann er eintreffen würde. Wir sprachen unter uns darüber und kamen zu dem Ergebnis: Wir störten niemanden bei den Rettungsarbeiten und wollten bleiben, falls es noch die Möglichkeit gab, Erste Hilfe zu leisten.

Es dauerte und dauerte. Einer der Passanten schwamm zum Wagen. Er wollte sehen, ob er den Fahrer aus dem Auto holen konnte, kehrte aber unverrichteter Dinge wieder zurück. Er hatte den Türgriff unter Wasser nicht erreichen können. Der Wagen sollte also erst einmal an Land verfrachtet werden. Es schien ewig zu dauern, bis der Mann mit dem Bergungstau wieder ins Wasser sprang. Wir erfuhren, dass das Auto umgedreht werden sollte, damit man es aus dem Wasser ziehen konnte. Ich verstand das nicht. Das Bergungstau konnte man gut an einer Achse befestigen. Das Dach war glatt. Darauf konnte das Auto meiner Ansicht nach gut rutschen. Die Achsen und Räder konnten sich dagegen viel leichter irgendwo am Grund verfangen. Aber ich konnte das nicht sicher beurteilen. Und zu sagen hatten wir gar nichts, obwohl ich mich sehr beherrschen musste, um mich nicht zu dem Umdrehmanöver zu äußern.

Der Käfer wurde umgedreht und ließ sich nicht von der Stelle bewegen. Das Dach ragte aus dem Wasser. Der Schwimmer hatte bei einem weiteren Tauchausflug ins schwarze Nass den Mann im Auto gesehen, konnte aber nichts über seinen Zustand sagen. Die letzte Hoffnung war, dass sich im Auto eine Luftblase gebildet hatte. Erst nach einer Stunde gelang es, das Auto an Land zu ziehen und den Fahrer herauszuholen. Er zeigte kein Lebenszeichen, ein Puls war nicht zu tasten, die Augen starrten reglos in die Nacht und die gekräuselte Haut an den Fingern war fast zum Abziehen aufgeweicht und kalt. Er war tot.

Da saßen wir im Schlüpfen begriffenen Ärzte mit unseren knapp halbfertigen, doch so hilfreichen Künsten bei einem Toten und konnten nichts tun – sie nicht anwenden. Ich fühlte mich unendlich schwer und unbeweglich, unentschlossen und benommen.

Der Notarzt kam, setzte sein EKG-Gerät auf die Brust des Toten und hatte damit seine Tätigkeit beendet.

Der Abend verfolgte mich lange, ein Vorgeschmack auf meinen späteren Beruf, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er immer wieder gegen unüberwindliche menschliche Grenzen antritt.

Aber die Prüfungen gingen weiter.

Viele Prüfer waren für eine jeweilige fachspezifische Verrücktheit bekannt. Diese Verrücktheiten musste man kennen und sich darauf einstellen. Das hatten wir auch gründlich getan. Deshalb war es unser Pech, dass wir erst am Morgen der Psychiatrieprüfung erfuhren, dass uns ein anderer Professor als vorgesehen auf den Zahn fühlen würde. Professor Wimmer hatte als besonderes Prüfungshobby seine selbst verfassten Bücher mit eigenen Krankheitsdefinitionen. Wir wussten zwar, dass es diese Bücher gab, hatten aber nicht aus ihnen gelernt. Ich rief sofort seine Sekretärin an, die ich vom Sport her kannte. Sie hatte vergessen, mich über den Wechsel zu informieren. Eigentlich war jetzt alles egal, wir konnten nur hoffen.

Fatalistisch gestimmt suchten wir vier unseren Weg durch die Gänge zum Zimmer des psychosomatischen Professors Wimmer. Er kam uns entgegen und gab jedem von uns die Hand mit den Worten: „Ich habe schon gehört, dass Sie nicht auf mich vorbereitet sind. Es ist traurig, dass die Studenten heutzutage anscheinend nur noch für den Prüfer und nicht mehr für das Fach lernen.“

„Herr Professor“, erwiderte ich prompt und hemmungslos. „Wenn man zu Ihnen kommt, denkt man, dass man Ihre Bücher auswendig können muss. Und aus denen haben wir nicht gelernt.“

Umgehend bekam ich einen Mordsschreck über meine Unverblümtheit – und sorgte mich um die Prüfung.

Umso mehr wunderte und freute ich mich, als mir und auch den anderen aus dieser Bemerkung kein Strick gedreht wurde. Im Gegenteil: Die Prüfung verlief sehr angenehm und fast kollegial. Die Zusammenhänge und Definitionen, die wir gelernt hatten, wurden alle akzeptiert. Aber wir hatten einen Obergescheiten in der Gruppe, Rudi 1, der um eine bessere Note zu verhandeln begann und sich seines Wissens lobte. Da erst kramte Wimmer die Weisheiten aus seinen Büchern hervor und ließ ihn auflaufen.

Ich erfuhr in der Zeit der Prüfungen eine gewisse Reifung. Das anfängliche Zittern machte einem bewussteren Selbstvertrauen Platz. Ich begriff immer mehr, dass die Achtung gegenüber Professoren, die mir meine Mutter eingeimpft hatte, differenziert werden musste. Die wenigsten Professoren waren gleichzeitig fachlich und menschlich klug und weise und besaßen auch noch einen guten Charakter. Oft zeigte die Prüfung bewundernswertes Fachwissen, die Art der Prüfung aber auch Minderwertigkeitskomplexe, die krampfhaft hinter der medizinischen Mauer versteckt werden sollten, oder eine manchmal fast unerträgliche Selbstbeweihräucherung. Was ich bisher aus anerzogenem Respekt kaum zu denken gewagt hatte, erkannte ich nun immer klarer. Der fachlich Brillante und das menschliche Schwein konnten in einer einzigen Person stecken. Ich beschloss, künftig die fachliche Qualität vom Charakter getrennt zu betrachten.

Das Examen hatten wir alle gut bestanden, und das in einem insgesamt sehr fröhlichen Gruppenklima. Es folgte eine ausgedehnte Examensfeier. Das Loch, das sich in unseren Köpfen nach einem halben Jahr Prüfungsstress bis zum ersten Arbeitsantritt auftat, füllte nun eine zehntägige wunderschöne Reise mit meinen Examenskollegen und Freunden.

In dieser Zeit endete die zwölf Jahre dauernde Beziehung zu meinem Jugendfreund, der unter anderem schon jetzt fragte, wie das denn mit meinen Nachtdiensten werden solle, wenn wir heiraten würden.

Der etwas andere Alltag einer Chirurgin

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