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Der Schritt in die Arbeitswelt: das menschliche Wesen

Doktorarbeit im Sektionssaal 1973

Der Ernst des Lebens begann. Ich nahm das so bewusst wahr, dass ich es speziell in meinem Tagebuch vermerkte und mir vornahm, es mir im Rentenalter genussvoll wieder durchzulesen. Bis dahin würde ich nun nämlich täglich arbeiten.

Die schon vor dem Examen begonnene Doktorarbeit ging genauso zäh voran wie die einzelnen Untersuchungen dazu, die ich täglich durchführte. Ich hatte mir das Institut für forensische Pathologie ausgesucht, weil ich mich auch für Kriminalistik interessierte und hervorragende Vorlesungen in diesem Fach gehört hatte. Die Arbeit am Gaschromatografen war ermüdend. Ich saß und wartete ewig auf ein Ergebnis, das nie eintrat.

Doch das war nicht meine einzige Beschäftigung, denn ich war nach dem Examen zur wissenschaftlichen Assistentin avanciert. Beispielsweise machte ich Puzzlespiele mit alten Knochen. Irgendjemand hatte sie in einem Sack auf einer Wiese gefunden. Ich sollte herausfinden, wie viele Menschen sich hinter den vielen Stückchen verbargen. Dazu saß ich auf dem Boden in dem verdreckten alten Hörsaal, der zum Arbeitsraum umfunktioniert worden war und in dem ich auch meine Experimente machte.

Es mussten mindestens vier Menschen gewesen sein, aber die Skelette waren nicht vollständig. Von einem fand ich nur noch einen Teil des Augenbrauenknochens. Ich bestimmte das Knochenalter, um den Zeitpunkt des Todes herauszufinden. Wir hofften, auf diese Weise den Verbleib von Vermissten aufzudecken. Aber die Knochen waren 40 Jahre alt und nicht mehr zuzuordnen.

Mit einem erfahrenen Kollegen untersuchte ich auch Frauen, bei denen der Verdacht bestand, dass sie von Männern missbraucht worden waren. Bei der Begegnung mit sehr unterschiedlichen Frauen wurde mir die Schwierigkeit solcher Beurteilungen deutlich, zu denen immer auch die Vorgeschichte gehörte.

Zum Beispiel war da eine junge Frau, die allein zum Tanzen gegangen war. Sie war mit zwei Männern getrampt und von ihnen ins Feld gefahren worden. Sie hatte trickreich einen der Herren aus dem Auto verbannt und dem drinnen gebliebenen Lüstling so kräftig mit ihrem Stöckelschuh auf den Kopf gehämmert, dass sie aus dem Auto geworfen wurde, weil der blutüberströmte Mann schleunigst von seinem Freund zu einem Arzt gefahren werden sollte. Sie wollte nun die spärlichen Spuren der begonnenen Gewalttat an ihrer Kleidung im Institut sichern lassen, denn weiter war ihr glücklicherweise nichts geschehen.

Eine andere Frau hatte sich dauernd aus Spaß von ihrem Kollegen in Busen und Hintern kneifen lassen, war aber höchst verwundert und empört, als er sich dadurch ermutigt fühlte und ihr schließlich gewaltsam mehr abverlangte. Sie hatte doch einen Freund!

Grundsätzlich hatten meiner Ansicht nach Frauen und Männer gleichermaßen Beherrschung zu lernen und Verantwortung für ihr Sexualverhalten zu übernehmen.

Ganz anders und für mich besonders schrecklich lag der Fall eines pubertierenden Mädchens. Sie war von ihrem Vater seit dem sechsten Lebensjahr auf jede mögliche Weise sexuell missbraucht worden. Ihre Mutter schleppte sie nun schon seit gut einem Jahr von einer medizinischen Inspektion zur anderen, um an ihrem Gatten Rache wegen eines Kurschattens und böswilligen Verlassens zu nehmen. Das Mädchen war psychisch gänzlich verstört und weinte immer wieder. Nicht genug, dass der Vater sie missbraucht hatte, nun quälte die Mutter das Kind weiter.

Jeder Fall forderte eine individuelle Beurteilung ohne Vorurteile. Ich musste sachlich bleiben, auch wenn ich mir jedes Mal meinen Teil dazu dachte.

Im Zusammenhang mit diesem Fall sollte mein Chef Professor Mayer beurteilen, ob der Vater, wie er behauptete, wegen der übermäßigen Größe seines Gliedes tatsächlich nicht in der Lage gewesen sein könnte, den Missbrauch durchzuführen. Dazu wurde der Vater einbestellt. Mayer fragte mich nebenbei provozierend auf dem Flur, ob ich mich nicht zur Verfügung stellen wolle, damit der Herr eine Erektion bekomme. Ich verwies Mayer zu diesem Zweck auf Pornoheftchen. Meine Kollegen stellten mir fröhlich die Frage, wann denn ein männliches Glied groß, wann klein und was normal sei. Ich machte prompt den Vorschlag, jeder der anwesenden Frager solle zu Hause genaue Messungen vornehmen und sie anonym in ein Kästchen werfen, ich würde dann die Auswertung vornehmen. Die Fröhlichkeit wandelte sich umgehend in betretenes Schweigen, und das Kästchen für die Zettel blieb leer.

Fast täglich hatte ich neben meiner wissenschaftlichen Arbeit auch Sektionen an Leichen vorzunehmen, die auf nicht natürlichem Wege zu Tode gekommen waren. Ursachen für den Tod und vorherige Abläufe sollten daraus rekonstruiert werden. Diese Toten waren nicht mit den schon länger in Formalin aufbewahrten und teilweise vorpräparierten Leichen der Anatomie zu vergleichen, an denen wir Studenten in den ersten Semestern unsere anatomischen Präparationen hatten durchführen müssen. Nie vergesse ich den Schauer, der mich überlief, als ich erstmals den Sektionssaal betrat und zwei frische, zerfetzte Leichen, alkoholisierte Fernfahrer, aus einem Autounfall sah.

Das Klima um diese Sektionen war manchmal kaum erträglich. Der Sektionsgehilfe, der gerne trank, sprang oft mit rotem Gesicht und wenigen, aber wirren Haaren um den Kopf einer Leiche herum, suchte einen Ansatzpunkt für die Säge und begann dann heftig zu sägen.

Einmal lag die verschmutzte nackte Leiche einer unbekannten mittelalterlichen Frau auf der Trage, auf der sie zur Feststellung von Knochenbrüchen geröntgt und später zur Dokumentation fotografiert werden sollte. Um sich vor den Strahlen zu schützen, verließen der Fotograf und ich den Saal. Der Fotograf schielte um die Ecke auf die Trage mit der nackten Leiche und ließ plötzlich die Bemerkung fallen, da müsse man ja Lust kriegen. Mir wurde flau im Magen.

Ein andermal demonstrierte mir ein etwas älterer Kollege verlegen und hilflos lachend ein von einem Zug abgefahrenes Gesicht, indem er es sich wie eine Maske vors Gesicht hielt und dabei wie ein Kasper hin und her wackelte.

Mayer hatte neuerdings auch eine Spezialität. Er hatte angeordnet, dass jede Frauenleiche bis 35 Jahre vaginal untersucht werden solle. Den Grund dafür habe ich nie erfahren. Eine wissenschaftliche Arbeit hierzu kannte niemand im Haus. Aber Mayer forderte mich mit besonderer Freude zu dieser Untersuchung auf, sah dabei zu und fragte, ob ich etwas Besonderes entdeckt habe. Ich fand keinen Weg, mich diesen Anordnungen und damit den nekrophil sexistisch anmutenden Situationen zu entziehen.

Erst durch die Sektionen nahm ich die abstoßendste Seite des Alkohols wahr. Aus sehr vielen Bäuchen, die ich für die Sektion zu öffnen hatte, stieg ein säuerlich zersetzter Alkoholgeruch, der mir aus Mündern der verkaterten Feierer vom Vorabend bekannt vorkam, ein Geruch, der sich durch die Gesellschaft zog, ohne dass ihn jemand wirklich bemerkte, eine Erfahrung, die all den Torkelnden zu Fuß und den Trunkenen am Steuer verschlossen blieb.

Das wissenschaftliche Interesse konnte ich von diesen Vorfällen trennen. Immer wieder faszinierte mich die Möglichkeit, aus den Unterlagen, die zu den Sektionen mitgeliefert wurden, aus den Kleidern und aus den Toten selbst Ereignisse zu deren Lebzeiten bis nach ihrem Tode oft mit vielen Details zu rekonstruieren und Abläufe abzulesen. Die Toten erzählten auf diese Weise Geschehnisse, die für sie selbst keine Bedeutung mehr hatten, aber häufig für noch Lebende.

Dass bei allem wissenschaftlichen Interesse der tägliche Umgang mit Toten und insbesondere mit solchen, die nicht auf natürliche Weise gestorben waren, schwer zu verkraften war, merkte ich auch an mir selbst. Der extremen Tätigkeit nachzugehen bedurfte extremer Fähigkeiten, um sie zu bewältigen. Geeignet zur täglichen Bewältigung des Todes in besonders schrecklicher Form waren Verdrängung, Pervertierung oder Verarbeitung. Vielen standen allerdings nur die ersten beiden Instrumente zur Verfügung. Ich beschäftigte mich immer mehr mit der Vergänglichkeit des Menschen und mit der Frage, was der Mensch eigentlich ist.

Eines Tages beobachtete ich eine dicke Fliegenmade auf einem schwarz-feucht-fauligen Leichengesicht. Mein erstes Entsetzen wich tiefer Nachdenklichkeit: In einem aus Madensicht sicherlich wunderbaren Schlaraffenland konnte sich die Made nicht entscheiden, in welches Nasenloch sie denn nun kriechen sollte. Dieses zerstörte Menschengesicht bedeutete für sie ein leckeres Mahl, keineswegs unappetitlich, widerlich, brutal oder pervers. Was da geschah, war einfach nur Natur, für zuschauende Menschen grausige Natur.

Ein Spruch, der mir als Kind von meinem Großvater überliefert worden war, um Ängste vor anderen Menschen zu verlieren, lautet: „Stell dir den Kerl nackt vor!“ Diesen Spruch begriff ich nun noch besser. Hier waren die Menschen nackt und tot – egal wie und was sie zu Lebzeiten gewesen waren – sie waren alle in gleicher Weise dem Zerfall preisgegeben, der jeden Menschen erwartet, den Politiker, den Professor, den Straßenkehrer, die Unbekannte von der Autobahn, den Fotografen und mich selbst.

Mir wurde auch die wirkliche Bedeutung von Schrecken und Grauen bewusst. Es war kein Kino, es waren keine Phrasen mehr. Ich spürte die fließende Verbindung zwischen Leben und Tod, die Vergänglichkeit hautnah.

Ich interessierte mich sehr für diese vielseitige Berufssparte. Gleichzeitig traute ich mir aber nicht zu, dauerhaft die Sektionen auszuhalten. Ich lebte inzwischen fast nur noch vegetarisch, da ich kaum noch Fleisch essen konnte. Ich träumte auch nicht mehr, dabei hatte ich meine Träume immer so schön gefunden. Außerdem hatte ich mein Studium aufgrund des Wunsches begonnen, kranken Menschen zu helfen.

So setzte ich mir einen Zeitpunkt, bis zu dem meine Doktorarbeit fertig sein sollte, so öde sie mir auch vorkam. Es gelang mir aber nicht rechtzeitig. So wechselte ich den Arbeitsplatz, ohne promoviert zu haben.

Der etwas andere Alltag einer Chirurgin

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