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Lust und Pflicht in der hellenistischen
Philosophie
Die Ausgangslage

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Die beiden neuen Philosophenschulen, der Kepos („Garten“) Epikurs und die Stoa, sind entstanden in der Zeit, die man – zumindest im deutschen Sprachbereich – Hellenismus nennt, mit einem Begriff, den der Historiker Johann Gustav Droysen (in seinem dreibändigen Werk Geschichte des Hellenismus 1836–1843 ) eingeführt hat. Im Einzelnen ist die Abgrenzung vor allem vom Beginn des hellenistischen Zeitalters umstritten und variiert auch in den einzelnen Gattungen der Literatur. Man verwendet diesen Begriff in der Regel für die Zeit nach dem Tod Alexanders (323 v. Chr.) bis circa 30 n. Chr. (Schlacht bei Actium). Es gab aber keine abrupte Epochenzäsur in Literatur und Philosophie, wohl aber in der Politik. Denn mit dem Tod Alexanders begannen die Diadochenkämpfe, das Großreich zerfiel in viele Kleinstaaten. Athen war zunächst unter einer makedonischen Besatzung; als Statthalter wurde der dem Peripatos nahestehende Demetrios von Phaleron eingesetzt. Sein Namensvetter Demetrios mit dem Beinamen Poliorketes („Städtebelagerer“) hat aber im Jahre 307 v. Chr. die madekonische Besatzung in Athen vertrieben und die Demokratie wiederhergestellt, bis auch er unter ständigen Kämpfen im Bemühen, ganz Griechenland einschließlich Makedoniens zu einen, im Jahre 283 v. Chr. starb.

Trotz der politisch unruhigen Zeiten blieb Athen das Zentrum der Philosophie. Das ist nicht selbstverständlich, sind doch mit Alexandria (332/1 gegründet) und Pergamon (an der Westküste Kleinasiens) zwei Städte entstanden, in denen Literatur gesammelt und gelesen wurde. Auch gab es noch kleine Philosophenschulen außerhalb Athens. Auf der Insel Kos und in Knidos waren Medizinerschulen etabliert und kleinere Philosophenschulen gab es auf Rhodos und in Kyrene (im heutigen Libyen). Athen hatte aber nach wie vor eine solche Strahlkraft, dass, wer im Bereiche der Philosophie wahrgenommen werden wollte, sich nach Athen begeben musste. Aber dort konnte er als einzelner nichts ausrichten, sondern nur im Verbund einer Schule wirken. Die Stadt hatte sich seit der Zeit des Sokrates gewandelt, war größer und anonymer geworden. Das musste schon Demokrit erfahren. Denn wenn die von Diogenes Laertius (3. Jh. n. Chr.) mitgeteilte Anekdote stimmt, Demokrit sei in Athen gewesen, aber niemand habe ihn beachtet (IX 36), so ist dies ein Hinweis darauf, dass er sich als einzelner nicht bewusst bemerkbar machen konnte. Im Grunde gilt schon für die platonische Akademie, dass man philosophische Kernfragen nur innerhalb einer Schule vertreten und diskutieren kann. Denn von den engeren Schülern Platons kam die überwiegende Mehrzahl von außen, die sich einzeln kein Gehör verschaffen konnten. Wir kennen namentlich 15 engere Schüler Platons. Unter ihnen waren nur zwei Athener, Speusipp, der Neffe Platons, und Xenokrates, die dann auch nacheinander die Nachfolger Platons in der Leitung der Akademie wurden. Aristoteles hatte es schwerer. Da er als Metöke (wörtlich: „Mitbewohner“) und Nicht-Athener keinen Grunderwerb tätigen konnte, war seine Schule juristisch nicht gefestigt, was erst durch seinen Nachfolger Theophrast gelang, der – obwohl auch er Nicht-Athener – eine Ausnahmegenehmigung erhielt. Mit Athenern allein wären die beiden Schulen nicht lebensfähig gewesen, kamen doch von alters her die philosophischen Impulse, vor allem auf dem Gebiet der Kosmologie und Ontologie, aus dem ionischkleinasiatischen Bereich. Erst mit Platon war (abgesehen von Sokrates) ein bedeutender Philosoph Athener.

So waren es zwei Philosophenschulen, die platonische Akademie und der Peripatos, die um das Jahr 300 v. Chr. das philosophische Leben in Athen beherrschten.9

Für die Akademie bedeutete der Tod Platons (347 v. Chr.) einen tiefen Einschnitt, der auch sogleich als solcher empfunden wurde. Seine Nachfolger in der Leitung der Akademie, Speusipp und Xenokrates, haben vor allem die ontologischen Positionen Platons modifiziert und systematisiert. Während Speusipp mit der Auffassung vom Vorrang des Einzelnen vor dem Allgemeinen, verbunden mit einer Aufwertung der Wahrnehmung als einer philosophischen Position, die platonische Ontologie durchaus kritisch weiterentwickelt hat, gilt Xenokrates, noch unmittelbar Schüler Platons, 25 Jahre lang Scholarch der Akademie (335–314), als der konservative Sachwalter Platons. Er hat mit der systematischen Verfestigung des platonischen Werkes zugleich einen religiösen Zug der Ontologie eingefügt, indem er in den ontologisch primären Prinzipien göttliche Kräfte sah. Mit seinem Nachfolger Polemon (Scholarch 314–270) ist mit der fortan kanonischen Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik der Schwerpunkt eindeutig auf den Bereich der Ethik gelegt, und zwar in der praktischen Anwendung und weniger im Einüben theoretischer Lehr- und Grundsätze. So taucht dann bei Polemon zuerst die Formel vom naturgemäßen Leben auf, die dann sowohl in der Stoa als auch in der Schule Epikurs aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Mit dieser zur Formel verdichteten Maxime war zunächst ein Leben gemäß der menschlichen Natur in der Differenzierung nach Leib, Seele und äußeren Gütern gemeint.

Im Peripatos hatte Aristoteles in Theophrast einen Nachfolger (Scholarch 322–288), der bis heute unterschätzt wird, weil von seinem umfangreichen Werk nur der Teil erhalten ist, der als eine Ergänzung zu den Schriften des Aristoteles angesehen werden kann, so die botanischen Schriften, das sogenannte metaphysische Bruchstück (mit einer vorsichtigen Kritik der aristotelischen Konzeption des unbewegten Bewegers) und die in der Rezeption ganz im Vordergrund stehenden Charaktere in Fortentwicklung, aber auch Verselbständigung gegenüber der aristotelischen Ethik. Aber Theophrast hat in allen Bereichen der Philosophie zahlreiche Schriften verfasst und überdies eine umfangreiche Lehrtätigkeit entfaltet, die den Peripatos zu einer auch in großen Hörerzahlen dokumentierten Blüte gebracht hat. Dass die Schule sich dann später ganz Fragen der Biographie und der Literaturgeschichtsschreibung unter Vernachlässigung der philosophischen Kernprobleme gewidmet hat, ist eine Entwicklung, die sich bei Theophrast allenfalls anbahnt.

Das war die Situation der Philosophie, als um das Jahr 300 v. Chr. zwei Männer, Zenon und Epikur, wiederum keine Athener, nach Athen kamen, um der Philosophie neue und nachhaltige Impulse zu geben. Beide hatten sich schon jahrelang mit philosophischen Fragen beschäftigt und Anregungen von mehreren Seiten erhalten.

Epikur, der etwas ältere (circa 341 geboren), kam von der Insel Samos, hatte aber athenisches Bürgerrecht, weil sein Vater ein sogenannter Kleruch war. So nannte man Athener, die in athenische Besitzungen außerhalb Attikas geschickt wurden und dort Grundbesitz (Kleros, wörtlich: „Landlos“) zu erlangen. Das hatte zur Folge, dass Epikur für zwei Jahre (323–321) schon einmal nach Athen kam, um als Ephebe seinen Grundwehrdienst zu leisten. Er war zu dieser Zeit schon stark an der Philosophie interessiert und vertiefte sein Interesse in den folgenden circa 13 Jahren, den ‚Wanderjahren‘, in denen er in kleinen philosophischen Zentren, vor allem in Mytilene auf Lesbos und in Lampsakos nahe Troja, Anregungen aufnahm, insbesondere durch den aus Teos (an der kleinasiatischen Küste nahe Troja) stammenden Nausiphanes, der ihm als Schüler Demokrits die Lehre von den Atomen als Bausteinen der Welt, aber auch die spezifisch Demokrit’sche Lustlehre nahebrachte, von der der junge Epikur besonders tief beeindruckt war. Auch hatte er in Lampsakos selbst schon gelehrt, Schüler und Freunde gefunden, die ihm dann auch nach Athen folgten. Als er dann zum zweiten Mal mit nun schon fast 35 Jahren nach Athen kam, musste er bald erfahren, dass er mit der Lehre Demokrits weder an die nun unter der Leitung Polemons stehenden Akademie noch an den Peripatos unter Theophrast anknüpfen konnte. Da er aber als attischer Bürger Grunderwerb tätigen konnte, gründete er eine eigene Schule, den Kepos („Garten“), etwas außerhalb der Stadtmauern, gar nicht weit von der Akademie entfernt. Es war eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, unter denen aber zwischen Lehrenden (vor allem Epikur selber und später den in der Philosophie schon Ausgebildeten) und Schülern differenziert wurde. Regelmäßige Feste (auch religiöser Art) trugen zum Gemeinschaftsgefühl unter Freunden bei.

Zenon hatte es schwerer. Er stammte, nur ein paar Jahre jünger als Epikur, aus Kition auf der Insel Zypern. Sein Vater war ein reicher Kaufmann, der von einer Geschäftsreise aus Athen „sokratische Schriften“ (Diogenes Laertius VII 31) mitbrachte. Da Sokrates nichts geschrieben hat, werden es wohl Dialoge Platons gewesen sein, in denen Sokrates als Hauptunterredner auftritt. Zenon, überdrüssig eines Lebens, in dem Geschäfte und Geld im Mittelpunkt stehen, war fasziniert von der sokratisch-platonischen Frage nach dem Guten und Gerechten in der Gestaltung des Lebens, die er in den platonischen Schriften fand. Über die Motive seiner Übersiedlung nach Athen mit 22 Jahren (also circa 312/11) gibt es in der antiken biographischen Literatur zahlreiche divergierende Anekdoten. Aber es wird wohl der Drang nach philosophischer Betätigung (neben vordergründigen Anlässen) die entscheidende Rolle gespielt haben. Zenon soll sich zwölf Jahre lang in Athen umgehört haben und ist – wie Epikur – zu dem Ergebnis gelangt, dass er sich keiner philosophischen Richtung oder Schule anschließen konnte. Natürlich lag es für ihn nahe, sich der platonischen Akademie zu nähern. Aber dort war der lebendige sokratisch-platonische Impuls in Systemdiskussionen erstarrt. So hat auch Zenon in Athen eine eigene Schule gegründet. Anders als Epikur konnte er aber als Nicht-Athener kein Grundstück oder Haus erwerben und begann, mit seinen Anhängern im öffentlichen Raum der Stoa Poikile, einer allgemein zugänglichen Gemäldegalerie, die breite Säulen hatte, zu philosophieren.

Sie befand sich gleich neben der Agora an deren nordöstlicher Seite in einem Gelände, unter dem die in den Zwanziger-Jahren des 20. Jahrhunderts gebaute U-Bahn fährt, weshalb Ausgrabungen bis heute schwer möglich sind. Aber durch den Reiseschriftsteller Pausanias (VII 5) weiß man, dass der berühmte Maler Polygnot (5. Jh. v. Chr.) diese Halle mit Wandgemälden ausgestattet hat. Daher heißt sie „bunte Halle“ (stoa poikile). Es waren mythische Szenen aus Athens Frühzeit und dann vor allem Schlachtgemälde aus Athens glorreicher Vergangenheit. Das Wort „Stoa“ heißt übrigens ursprünglich nicht „Säule“, sondern „Halle“, konkret: „Säulenhalle“, da eine griechische Halle in der Regel durch Säulen gestützt war. Wie aus diesem Provisorium im Laufe der Zeit ein fester Schulverband geworden ist, kann nicht hinlänglich belegt werden.

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