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Ein düsterer Morgen

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»Jonathan, das musst du dir ansehen!«

Katharina stürzte ins Speisezimmer, wo Jonathan bei einer Tasse Kaffee darauf gewartet hatte, dass seine Frau aufstand. Nach dem ereignisreichen Wochenende hatte er sie nicht wecken wollen. Katharina packte Jonathan bei der Hand und wollte ihn mit sich ziehen, doch Jonathan nahm seine totenblasse Frau fest in den Arm. »Liebes, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!«

»Das habe ich. Oder so etwas Ähnliches. Komm ins Schlafzimmer, dann zeige ich es dir.«

»Beruhige dich doch!« Jonathan schloss die Arme noch fester um seine Frau, doch sie machte sich mit einem Ruck von ihm los: »Ich will mich aber nicht beruhigen!«

Katharina stürmte aus dem Zimmer. Jonathan folgte ihr rasch und fand sie im Schlafzimmer, erstarrt vor dem offenen Fenster stehend.

»Das ist doch nicht möglich!« Sie deutete auf das Fenster. Der Roibenknoten hing dort unverändert. Jonathan drehte sich zu Katharina um, die jetzt so blass war, dass er eine Ohnmacht fürchtete. Was in aller Welt hatte sie so erschreckt?

»Sonja! Kommen Sie sofort hierher!« Katharinas Stimme überschlug sich. Etwas Katastrophales musste sich ereignet haben. Jonathan hörte das Hausmädchen polternd die Treppe hinauf eilen, dann stand sie schon im Schlafzimmer.

»Haben Sie hier eben etwas verändert?«, fragte Katharina streng.

»Nein, gnädige Frau. Ich war der Küche.«

»Es muss aber jemand hier gewesen sein. Und Sie sind die Einzige, die … Ach, vergessen Sie es!« Katharina ließ sich auf das Bett sinken und barg den Kopf in den Händen.

Das Dienstmädchen fand als Erste die Sprache wieder: »Ich koche einen starken Tee. Der beruhigt.«

Sie drehte auf dem Absatz um und ging energisch aus dem Schlafzimmer. Jonathan setzte sich neben seine Frau und legte den Arm um sie: »Katharina, was ist los mit dir?«

Sie sah zu ihm auf; Tränen liefen über ihre Wangen: »Als ich eben nachgeschaut habe, waren sie sauber in kleine Häufchen geordnet.«

Jonathan brauchte einen Augenblick, bevor er verstand, was sie meinte: In ihrer Rotweinlaune hatten sie, nachdem sie den Roibenknoten vor dem Fenster entdeckt hatten, die seltsamen Gaben der alten Frau ausgepackt. Katharina hatte es sich nicht nehmen lassen, die Sonnenblumenkerne auf der Fensterbank zu verstreuen.

Jonathan führte seine Frau zum Fenster und schaute gemeinsam mit ihr auf die Fensterbank: »Hier liegen keine Sonnenblumenkerne mehr.«

»Bevor ich zu dir gekommen bin, lagen sie noch dort. Und der Knoten war geöffnet.«

Jonathan betrachtete den Knoten genauer, doch er war noch genauso fest und wirr wie am Abend zuvor. »Du hast schlecht geträumt, Liebes. Der Wind wird die Kerne fortgeweht haben.«

»Vielleicht.« Katharina ließ ihren Kopf gegen seine Schulter sinken, und er streichelte sanft ihr Haar.

• • •

Etwas später saßen die Eheleute Hansen schweigend am Frühstückstisch. Katharina kaute lustlos auf einer Scheibe Toast mit Marmelade. Das schöne Wetter des Vortags war einem grauen Herbsthimmel gewichen; das fahle Tageslicht drang kaum durch die Fenster.

Die bedrückende Stille wurde durch das Pochen des Türklopfers unterbrochen. Kurz darauf führte Sonja Pastor Weinmann in das Speisezimmer. Der Geistliche wirkte nicht mehr so munter wie am Tag zuvor, als er mit Begeisterung die kleine Kapelle dirigiert hatte. Er sah müde und angestrengt aus. Jonathan bat ihn, sich zu setzen. Dann wies er Sonja an, ihm ebenfalls eine Tasse Kaffee einzuschenken.

Pastor Weinmann rührte sorgfältig Milch und Zucker in seinen Kaffee, dann nahm er einen behutsamen Schluck, bevor er endlich anfing zu sprechen: »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie so früh am Morgen behellige, doch ich habe eine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet.«

Er erwartete vermutlich, dass der Richter ihn jetzt in sein Amtszimmer bat, doch Jonathan wollte seine Frau nicht alleine lassen. Also forderte er den Geistlichen auf, fortzufahren. Pastor Weinmann sah bedrückt zu Katharina, dann öffnete er die kleine braune Aktentasche, die er fest umklammert gehalten hatte. Er nahm ein Dokument heraus, das er Jonathan vorlegte: einen Totenschein.

»Ich benötige noch Ihre Unterschrift.«

Jonathan las das Dokument sorgfältig durch. Die Tote hatte keinen Namen. Als Todesursache war »Ertrinken« angegeben.

»Ein Fischer hat sie heute früh in der Bucht treibend entdeckt«, erklärte der Pastor. »Mit Ihrer Unterschrift können wir sie ordentlich beisetzen.«

»Ich werde zunächst Erkundigungen einholen, ob sie nicht vermisst wird. Sicher möchten ihre Angehörigen sie selbst beerdigen.«

Pastor Weinmann seufzte betrübt: »Das ist noch nie vorgekommen. – Wissen Sie«, fuhr er fort, »solch traurige Funde machen wir hier öfter. Die jungen Frauen gehen irgendwo ins Wasser, aus Gründen, über die es mir nicht ansteht, zu richten, und die Strömung treibt sie in unsere Bucht. Arme Dinger. Es ist wie ein …« Er schluckte das letzte Wort hinunter.

»Fluch«, ergänzte Jonathan in Gedanken, doch er hütete sich, es vor Katharina laut auszusprechen. Stattdessen fragte er: »Und nie hat jemand Anspruch erhoben?«

»Nicht zu meiner Zeit, nein. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als sie auf unserem Friedhof beizusetzen. Denn jeder verdient eine christliche Beerdigung.«

»Auch eine Selbstmörderin?«

Der Pastor musste Katharinas Frage schon oft gehört haben. Ohne zu zögern, antwortete er: »Es mag ungewohnt für Sie sein, aber hier an der Küste betrachten wir den Freitod nicht als Todsünde. Es ist ein Zeichen von Freiheit, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, an dem man vor seinen Schöpfer tritt. Und wir urteilen nicht über die Motive. Jeder nach seiner Façon. Gott allein mag über uns richten.«

• • •

»Also det is ja eene Überraschung. Noch keen Tach im Amt und schon die erste Ermittlung.«

Der Dialekt, der Jonathan aus dem Telefonhörer entgegen schallte, war ihm wohl vertraut. Jetzt erinnerte er sich, dass der Husumer Polizeipräsident, mit dem er sich hatte verbinden lassen, ebenfalls aus Berlin stammte.

»Na, wie stehen die Aktien in Broiversum? Opiumschmuggel? Politischer Aufruhr? Die Dänen vor der Stadt? Oder isset bloß mal wieder eens von euren toten jungen Dingern?«

Jonathan berichtete von dem Fund. Der Polizeipräsident wiegelte ab. Da sei gar nichts zu machen. Nein, man hätte keine Meldungen über vermisste junge Mädchen, und es könne Wochen oder gar Monate dauern, bis solche Meldungen überhaupt einträfen. Viele Dörfer verfügten noch nicht einmal über eine eigene Polizeistation; und die Tote könne ja aus dem ganzen Land stammen. Leider könne er nicht helfen.

»Jruß an die gnädje Frau Gemahlin. Und kommse mal auf een paar Schrippen und een Kaffee vorbei, wennse in der jroßen Stadt sind.«

Damit war das Telefonat beendet. Und Jonathan hatte widerwillig den Totenschein unterzeichnet.

• • •

Das Grab lag fast am Ende des Friedhofs. Jetzt wusste Jonathan, was der Pastor gemeint hatte: In Reih und Glied standen auf diesem Teil des Friedhofs kleine Grabsteine, die als einzige Aufschrift ein Datum trugen: den Tag des Fundes. Es mussten Dutzende von Gräbern sein.

Katharina hatte darauf bestanden, die Beerdigung des Mädchens zu besuchen: Es sei eine Frage des Respekts. Und viele Menschen würden wohl nicht von ihr Abschied nehmen.

Es war eine kurze Feier. Ein »Vater unser«, ein trauriges »Asche zu Asche«, dann war es vorüber; die beiden Totengräber begannen, das Grab zu verschließen. Schaufel um Schaufel fiel der Sand auf den kleinen Sarg. Das Mädchen musste fast noch ein Kind gewesen sein. Jonathan kam ins Grübeln: Was mochte das arme Ding zu so einem Schritt bewogen haben?

»Schauen Sie! Und Sie werden verstehen, wie gefährlich es ist, sich mit den alten Göttern einzulassen.«

Erschrocken blickte Jonathan sich um. Hinter ihnen stand wieder der alte Mann, der ihnen bereits am Vortag einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte.

»Sie täten gut daran, diesen verfluchten, gottlosen Ort zu verlassen, solange noch Zeit dazu ist.« Der Mann drehte sich energisch um und stapfte über den Friedhof davon, ohne sich noch einmal umzuschauen. Jonathan spürte, wie Katharina seinen Arm umklammerte.

»Machen Sie sich nichts aus dem alten Hein.« Pastor Weinmann war zu ihnen getreten, sichtlich erleichtert, die Zeremonie hinter sich zu haben. »Wenn die dunkle Jahreszeit hereinbricht, sitzen die alten Leute am Kaminfeuer und denken sich Schauergeschichten aus. Wer zu lange in die Flammen schaut, sieht schließlich tatsächlich das Gesicht des Teufels.«

»Was meinte er mit ›alten Göttern‹?«, fragte Katharina.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas«, sagte der Pastor statt einer Antwort. Er ging ihnen voran zur kleinen Kapelle auf dem Friedhof. In respektvoller Entfernung blieb er stehen und deutete auf das Gebäude.

»Sehen Sie, dass die Kapelle aus drei Teilen besteht? Der mittlere Teil, der jetzt den Chor und den Altar enthält, ist der älteste; das Schiff und der Turm wurden später erbaut.«

Erst jetzt sah Jonathan das unterschiedliche Mauerwerk und die seltsamen Ecken, die die Mauern des mittleren Teils bildeten. Irgendetwas war ungewöhnlich, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Der mittlere Teil war einmal fünfeckig«, löste der Pastor endlich das Rätsel.

»Eine fünfeckige Kirche?«, fragte Katharina erstaunt.

»Keine Kirche. Ein heidnischer Tempel. Mehr als tausend Jahre alt. Die übrige Kirche wurde erst vor etwa dreihundert Jahren erbaut. Die Christianisierung in diesem Teil des Landes erfolgte spät.« Der Pastor lachte bitter. »Böse Zungen behaupten, sie stünde noch aus. Und wenn ich den alten Hein so höre, bin ich geneigt, dem zuzustimmen. Aber ich tue mein Bestes.«

»Ich hatte auch schon das Gefühl, die Bevölkerung hier ist ein wenig …« Jonathan suchte nach einem passenden, aber diplomatischen Wort.

Pastor Weinmann war weniger feinfühlig: »Abergläubisch ist sie. Das haben Sie sicher auch schon bemerkt. – Oder hat Sonja vor Ihrem Schlafzimmerfenster noch keinen Roibenknoten angebracht? – Passen Sie auf, der eine oder andere Geselle wird des Nachts auf ihr Fenstersims klettern und den Knoten öffnen, um Ihnen Angst zu machen. Wenn Sie ihn ärgern wollen, legen sie Sonnenblumenkerne auf das Fenstersims. Der Aberglaube sagt nämlich –«

»Dass das Böse die Kerne erst zählen und ordnen muss«, beendete Katharina seinen Satz. Dann begann sie, erleichtert zu lachen. Jonathan tat es ihr gleich. Es war alles ein Scherz gewesen. Und die gute Sonja Resoluta hatte vermutlich rasch Ordnung geschaffen, damit Katharina sich nicht ängstigte.

»Kann ich die Kirche einmal von innen sehen?«

Wider Willen musste Jonathan über seine Frau schmunzeln. Kaum dass der Schreck überstanden war, erwachte in ihr schon wieder die Neugierde. Der Pastor zögerte, aber schließlich gab er Katharinas bittendem Blick nach, zog einen großen Schlüssel aus der Tasche und öffnete das Portal.

• • •

Von innen war die seltsame Form des Altarraums noch deutlicher zu erkennen. Obwohl das Kirchenschiff an einer geraden Seite anschloss und der kleine Anbau mit dem Turm die oberste Spitze des Fünfecks wegnahm, war der ursprüngliche Fußboden noch erhalten. Blanker, schwarzer Stein, in den mit weißen Steinen eine Form eingelassen war. Die Form umschloss den Altar, einen gleichfalls schwarzen Block gleichfalls schwarzen Steines.

Katharina erkannte die Form auf dem Fußboden sofort: »Ein Pentagramm!«

Der Pastor räusperte sich: »In der Tat. Ein Relikt heidnischer Zeiten, das nicht auszulöschen ist. Leider.«

Jonathan blickte sich um. Mehr und mehr fiel ihm auf, wie wenig sich die christlichen Insignien, das große Kreuz und das Taufbecken, in den Raum einfügten. Er wischte behutsam über die Möbel, die von einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Der Pastor bemerkte es: »Wir nutzen die Kapelle nur noch sehr selten. Sie bietet einfach nicht genug Platz. Nur gelegentlich suchen einige Bürger sie auf. Für ein Gebet.«

Katharina ließ ihre Hand über die Oberfläche des Altars gleiten und umrundete den großen Block: »Ein Opferaltar, nicht wahr?«

Der Pastor zögerte, doch Jonathan trat heran. »Hier, siehst du die Rinne?«, erklärte Katharina. »Sie soll das Blut auffangen und hier hinüberleiten. Ich nehme an, dass es ursprünglich auch einmal ein Auffanggefäß gab.«

»Menschenopfer?« Jonathan erschauderte.

»Groß genug wäre der Altar ja. Aber ich nehme an, dass hier in grauer Vorzeit Tiere geopfert wurden. Schafe, Rinder. Nicht wahr, Pastor Weinmann?«

»Ja … Ja, da … damals.« Der Pastor war ins Stottern geraten.

»Obwohl ich auch annehme, dass in besonders schlechten Zeiten auch mal ein Mensch dran glauben musste. Damals war man nicht so zimperlich«, setzte Katharina ihren Vortrag fort. »Vermutlich um eine Flut zu beruhigen oder eine besonders schlimme Missernte abzuwehren. – Nun schau doch nicht so besorgt, Jonathan. Das ist lange her. Und damals wird es wohl für die Menschen eine Ehre gewesen sein. Oder? Was meinen Sie, Herr Pastor?«

»Ja, das ist möglich«, antwortete Pastor Weinmann eifrig. »Möchten Sie noch eine Tasse Tee mit mir im Pfarrhaus trinken? Meine Frau würde sich freuen.«

Jonathan war dankbar für dieses Angebot. Gerne wäre er sofort aus der kleinen Kirche hinausgegangen. Doch Katharina hielt ihn zurück: »Jonathan? Spürst du das auch? – Irgendwie …«

»Unheimlich«, ergänzte der Pastor ihren Satz. »Die seltsame Architektur, der schwarze Stein, die Fenster, die diesen Raum auf ewig in ein dämmriges Zwielicht tauchen … Selbst für mich. Und ich bin es gewohnt, in Kirchen ein- und auszugehen. – Manchmal treiben die jungen Leute üble Scherze mit ihren betrunkenen Kameraden und legen sie des Nachts hier ab. Angeblich soll der Raum besonders seltsame Träume bescheren. – Aber wenn Sie mich fragen, kommen die eher vom Puntendreher.«

• • •

»Das muss ich alles Professor Petersen schreiben. Er wird begeistert sein.« Katharina war immer noch ganz aufgeregt über ihre Entdeckungen. Professor Petersen war der Ordinarius des Berliner Germanistischen Instituts und zudem Katharinas Doktorvater.

Das junge Paar und der Pastor hatten schließlich die kleine Kirche verlassen und sich auf den Weg zum Pfarrhaus gemacht. Da der Friedhof ein wenig außerhalb der Stadt in einer sanften Kurve des Deiches lag, hatten sie einen etwas längeren Fußweg vor sich. Jonathan dankte den Göttern, alten und neuen, dass es wenigstens aufgehört hatte zu regnen. Er zog seinen Mantel enger um sich und barg seine Hände in den Taschen. Doch Katharina genoss den Spaziergang. Während sie fröhlich mit ihrem Schirm wirbelte, spann sie weiter ihre Theorien über die Kirche.

An einem verwitterten Haus in einer Seitenstraße hielt der Pastor inne: »Und bevor Sie noch einmal überrascht werden: Das hier ist unser Spukhaus.«

Es musste einmal ein prachtvolles Haus gewesen sein. Doch jetzt war es seit Jahren unbewohnt und verfallen.

Der Pastor erklärte: »Dieses Haus hat einmal, so will es die Sage, einem reichen und überaus geizigen Kaufmann gehört, der es zuletzt nur noch mit seinen Katzen teilte.«

»Bulemans Haus«, murmelte Katharina.

»Woher wissen Sie das? Hat man Ihnen schon –«

»Es gibt eine Erzählung von Theodor Storm. Eine Geistergeschichte. Kennen Sie die nicht?«, fragte Katharina erstaunt und begann zu rezitieren: »In Bulemans Haus, in Bulemans Haus, da schauen die Mäuse zum Fenster hinaus …«

Der Pastor erkannte den Reim und lachte: »Ja, das singen bei uns die Kinder. Erstaunlich, dass Sie das kennen.«

»Oh, das ist eine berühmte Erzählung.«

»Wie war der Name des Autors, sagten Sie?«

Katharina wiederholte den Namen. Pastor Weinmann zog die Stirn in nachdenkliche Falten: »Storm, Storm … Kenne ich leider nicht.«

Jonathan nahm Katharina sanft am Arm. Es war er nicht nötig, dem guten Mann jetzt auch noch eine literaturgeschichtliche Vorlesung zu halten. Später würden sie drüber lachen.

Der Pastor begann wieder zu erzählen: »Angeblich spukt es in Bulemans Haus. Nachts sollen hier Lichter brennen und seltsame Geräusche aus dem Haus dringen. Ich habe allerdings noch nichts gehört oder gesehen. Vermutlich eine dieser Erscheinungen, die man nach dem Genuss von zu viel Puntendreher hat.«

• • •

Kurze Zeit später saßen sie an einem rustikalen Tisch in der Küche des Pfarrhauses, vor sich große Becher dampfenden, duftenden Tees, den die Frau des Pastors, genauso rund, fröhlich und munter wie ihr Gatte, rasch zubereitet hatte.

Während der Tee die Kälte aus ihren Knochen trieb, hatte Jonathan noch einmal an die vielen Gräber gedacht, an die armen Frauen, die keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatten, als ins Wasser zu gehen. Junge Frauen seien es, oft hübsch, hatte der Pastor erzählt. Es sei traurig, wenn ein so junges Leben so tragisch ende.

»Haben Sie jemals darüber nachgedacht, ob man nicht etwas für die armen Dinger tun könnte?«, fragte ihn Jonathan. »Ich meine, bevor sie diesen Weg wählen?«

»Oft«, antwortete der Pastor. Doch ganz wohl schien er sich bei der Antwort nicht zu fühlen.

»Vielleicht sollte man hier im Ort ein Heim für diese Frauen gründen. In Berlin und anderswo gibt es solche Orte schon lange.«

»Ein Heim?« Der Pastor und seine Frau blickten Jonathan erschrocken an.

»Ja, ein Heim für gefallene Mädchen«, unterstützte Katharina ihren Mann. »Das wäre doch wirklich eine gute Tat.«

Jonathan hatte in diesem Moment eine Idee, die er gleich darauf stolz verkündete: »Ich werde mit der Herrin darüber sprechen, wenn sie mich empfängt. Vielleicht unterstützt sie dieses Vorhaben.«

»Das glaube ich allerdings kaum.« Die eben noch so liebenswerte Frau des Pastors sprach mit scharfer Stimme. Sie war aufgestanden, doch ihr Mann hielt sie beruhigend am Arm fest.

»Sie wollen also tatsächlich die Herrin aufsuchen?«, fragte der Pastor erstaunt.

»Aber sicher. Es gehört sich doch, der größten Wohltäterin der Stadt seine Aufwartung zu machen«, antwortete Jonathan.

»Möge Gott Sie beschützen. – Ich meine, Sie haben vielleicht schon gehört, dass die Herrin nicht viel Wert auf Besuche legt. – Werden Sie heute Abend auch auf der Gesellschaft des Bürgermeisters sein?«

• • •

Das Mädchen schien mich voller Sehnsucht erwartet zu haben, so, wie sie dort im Dunkel der Nacht an der Straße stand, eine kleine Reisetasche umklammert. Sie hatte geweint; ihr hübsches Gesicht war immer noch tränenverschmiert. Dankbar nahm sie mein Taschentuch.

Eigentlich tat sie mir leid; kurz hatte ich das Bedürfnis, ihr reichlich Geld zuzustecken und sie in der nächsten Ortschaft abzusetzen. Doch auch ich muss leben, und selten kommen sie freiwillig. So trank ich von ihr, bis mein Durst gestillt war. Es war noch etwas Leben in ihr, als ich von ihr abließ. Meine Diener haben ihr später den Rest ihres Lebenssaftes entnommen und die leblose Hülle an den üblichen Ort gebracht. Dort wird man sie wohl morgen finden – wieder ein Armenbegräbnis für eine Unbekannte.

Ich hatte gehofft, noch einen Blick auf die Hansens erhaschen zu können, doch ihr Fenster war bereits dunkel, und sie lagen schlafend unter ihren Decken.

Die Sonnenblumenkerne auf ihrer Fensterbank reizten mich fast zum Lachen. Wie man es von mir erwartete, ordnete ich sie rasch zu hübschen, kleinen Dutzend-Häufchen – und auch den Knoten vor dem Fenster löste ich, obwohl es frustrierend einfach war. Schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren. Und, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Mich amüsiert der Gedanke an die erschrockenen Gesichter am nächsten Morgen.

Die Herrin

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