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Ein geselliger Abend

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In Broiversum speiste man Fisch. Nach einigen als Horsd’œuvre gereichten, mit geräuchertem Fisch belegten dünnen Brotscheiben wurde die illustre Gesellschaft, die sich im Haus des Bürgermeisters eingefunden hatte, zu Tisch und zu Fisch gebeten. Fischsuppe, gekochter Fisch in weißer Rahmsauce, in Butter gebratene Scholle und, nur so zur Abwechslung, frische Kutterkrabben.

Katharina hatte Jonathan zugeraunt, sie sei gespannt, welche Nachspeise man aus Fisch zaubern könne. Sie wurde nur halb enttäuscht. Es gab rote Grütze – in fischförmigen Schalen. Zwischen den Gängen wurde den Herren Puntendreher gereicht. »Fisch will schwimmen!«, rief Arne Steen stets, wenn er sein Glas hob.

Das Essen begann mit einer erfreulichen Nachricht. Der Gastgeber verkündete, dass es dem verletzten Matrosen bald besser gehen würde. Seine Verletzungen seien weniger schlimm als angenommen und heilten rasch. Bald würde er vollständig genesen nach Broiversum zurückkehren. Darauf musste natürlich angestoßen werden. Die Damen mit Wein, die Herren mit … Puntendreher.

»Außerdem«, setzte Bürgermeister Steen seine Tischrede fort, »außerdem hat sich eine Spenderin sofort bereit erklärt, die Krankenhauskosten zu übernehmen.«

Die Anwesenden nickten in pflichtschuldiger Anerkennung, allerdings fiel Jonathan auf, dass viele nach unten blickten, als sei ihnen diese Nachricht unangenehm. Doch die Laune stieg gleich wieder, als der Bürgermeister seine Gäste rasch aufforderte, erneut ihr Glas zu heben, und damit seine Rede beendete.

Die Hansens, jetzt offiziell in die Kreise der Honoratioren der Stadt aufgenommen, saßen in der Nähe des Kopfendes, das von Arne Steen besetzt war. Ihnen gegenüber saßen Frau Steen und die Tochter Eve. Sie musterte Katharina bewundernd. Jonathan konnte sich denken, warum: Katharina hatte alle Vorurteile in den Wind geschlagen und war allein ins große Berlin gezogen, um zu studieren. Mochten ihre Eltern es auch zunächst nicht gutgeheißen haben – und bei der Hochzeitsfeier waren sie überglücklich gewesen, dass ihre Tochter wenigstens in dieser Hinsicht bürgerlich gesonnen war – so überwog doch bald der elterliche Stolz die Zweifel, als die ersten Zeitschriften und Gazetten Katharinas Artikel abdruckten.

So kamen Katharina, die Frau des Bürgermeisters und auch Eve Steen, die hin und wieder mit leiser Stimme ihren Beitrag zur Konversation leistete, ins Gespräch. Sie sprachen über das Studium, über die Möglichkeiten für junge Frauen in den großen Städten und über die Medizin. Arne Steen lauschte dem Gespräch zweifelnd, sagte jedoch nichts. Er schien sich mit der Berufswahl seiner Tochter abgefunden zu haben. Was blieb ihm auch anderes übrig?

• • •

Später, nach dem Essen, hatte sich die Runde aufgeteilt: Die Damen – auch Katharina, der das überhaupt nicht behagte und die lieber bei Jonathan und den Männern geblieben wäre – hatten sich im Damenzimmer versammelt, während die Herren im Salon bei Zigarren und Cognac beisammensaßen. Jonathan atmete innerlich auf, dass nicht schon wieder Puntendreher gereicht wurde.

Außer Jonathan und dem Bürgermeister saßen noch vier weitere Männer um den Kamin. Pastor Weinmann, dessen helle, wache, von Lachfältchen umgebene Augen Jonathan erst jetzt auffielen. Sein Sitznachbar war das genaue Gegenteil von ihm: Hoch gewachsen und breitschultrig thronte Hein Peters, der reiche Reeder, auf seinem Sessel. Ernst und schweigsam sog er an seiner Zigarre und nippte gelegentlich am Cognac. Der dritte Herr der Runde war Dr. Stiebensdorn, sichtlich den schönen Dingen des Lebens nicht abgeneigt. Schon während des Essens hatte er Jonathan und Katharina von dem herrlich gesunden Klima von Broiversum vorgeschwärmt. Es gäbe hier kaum jemals etwas für ihn zu tun. Jetzt blies er genussvoll Rauchringe in die Luft.

Der Vierte in der Runde war ein elegant gekleideter, in Würde ergrauter schlanker Mann – Dr. Stüver, der Rechtsanwalt und Notar des Ortes. Er mochte Mitte 60 sein. Lange hatte er eine Kanzlei in Kiel geführt; jetzt verbrachte er seinen Ruhestand in Broiversum und vertrat dann und wann die Interessen der Einheimischen. Er war bereits beim dritten Cognac. Sein Sekretär, Hans Blix, der etwas abseits am Kamin lehnte und nur selten an seinem Glas nippte, beobachtete ihn argwöhnisch. Jonathan vermutete, dass er befürchtete, seinen Herrn später nach Hause tragen zu müssen.

Sie sprachen noch einmal über den schrecklichen Unfall auf dem Hafenfest. So etwas sei noch nie vorgekommen, berichtete man Jonathan. Und Hein Peters stellte fest, dass wohl deshalb die Matrosen so sorglos geworden seien. Er habe bereits all seine Angestellten zusammengerufen und streng belehrt. So etwas dürfe einfach nicht vorkommen. Dazu sei das Leben auf See zu gefährlich.

»Wie gut«, erzählte der Bürgermeister, »dass die Herrin sofort ihren großen Wagen bereitgestellt hat. Großzügig wie immer.«

Die Runde schwieg. Doch Jonathan war neugierig geworden.

»Die Herrin?«, fragte er.

Bürgermeister Steen antwortete: »Ja. Ich meine mich zu erinnern, Ihnen das große Haus am Hafen gezeigt zu haben. Sie ist wohl die reichste Bürgerin der Stadt. Neben Hein Peters.«

Der Reeder winkte ab: »Verglichen mit ihr bin ich arm wie eine Kirchenmaus.«

»Und ohne sie wärst du es auch tatsächlich.« Dr. Stiebensdorn lachte. Die anderen fielen ein, auch der Angesprochene, wenn er auch einen Moment zögerte: »Da magst du recht haben.«

An Jonathan gewandt fuhr der Reeder fort: »Die Herrin ist die wichtigste Auftraggeberin meiner Werft. Gott allein weiß, was sie mit all den Schiffen macht.«

»Und sie ist die größte Wohltäterin der Stadt«, ergänzte der Bürgermeister. »Keiner ist in Broiversum, dem sie nicht schon geholfen hat.«

Jonathan brannte eine Frage auf der Zunge: »Warum nennt man sie die Herrin?«

Hein Peters antwortete rasch: »Aus Respekt. Sie ist nämlich eine wirkliche Dame. Seit sie in unsere Stadt gekommen ist, hilft sie, wo sie kann.«

Jonathan, vom Cognac und vom guten Essen schon leicht benommen, wurde noch neugieriger: »Und wie heißt sie wirklich?«

Die Runde schwieg ratlos. Endlich antwortete Bürgermeister Steen: »Ach, wir kennen sie schon so lange als ›die Herrin‹, dass wir uns an ihren richtigen Namen gar nicht mehr erinnern können. Die Jüngeren von uns dürften ihn sogar nie gehört haben. Unter uns –«, er beugte sich ein wenig zu Jonathan vor, »Ich glaube, dass es die Herrin auch gar nicht so ungern hat, dass wir sie so nennen und nicht bei ihrem richtigen Namen.«

»Warum das?«

»Wenn Sie die Alten bei uns im Dorf fragen«, antwortete Steen, als würde er gerade ein Staatsgeheimnis lüften, »dann hängt es mit ihrer Herkunft zusammen. Ihre Familie war wohl in ihrer alten Heimat, irgendwo im Osten, eher berüchtigt als berühmt. Aber wenn Sie mich fragen: Es steckt auch ein klein wenig Eitelkeit dahinter. Und das kann ich gut verstehen. Sie ist alt, sie ist krank. Da tut etwas Respekt ungeheuer gut.«

Die Runde lachte verhalten. Jonathan tat den Entschluss kund, den er bereits am Vortag gefasst hatte: »Dann werde ich wohl bei nächster Gelegenheit der Herrin meine Aufwartung machen.«

Alle Köpfe fuhren zu ihm herum, als hätte ihn der Verstand verlassen. Bürgermeister Steen fasste sich als Erster: »Das wird nicht nötig sein. Sie ist – ich sagte es bereits – eine alte Dame, die viel Wert auf ihre Zurückgezogenheit legt.«

Die anderen nickten zustimmend, doch Jonathans Entschluss stand fest. Es wäre doch unhöflich, wenn der neue Amtsrichter der größten Wohltäterin der Stadt nicht wenigstens einen Antrittsbesuch abstattete. Und wenn die alte Dame in dem schwarzen Haus am Hafen ihre Ruhe wünschte, würde sie es ihm sicher mitteilen. Überrascht über die erneute heftige Ablehnung seines doch allen Regeln der Höflichkeit entsprechenden Vorhabens behielt er jedoch seine Gedanken für sich.

Die Runde hatte inzwischen das Thema gewechselt. Man sprach über die regionale Sportart, das Boßeln. Der Bürgermeister klärte Jonathan darüber auf, dass man in diesem Jahr unbedingt Garding schlagen müsse. Demnächst würden sie gegeneinander antreten.

Dr. Stiebensdorn erzählte, dass er Jonathan bereits gebeten hatte, die Mannschaft zu verstärken. Ein wenig zweifelnd betrachteten ihn die Anwesenden. Jonathan war froh, wenigstens an diesem Abend auf seinen Spazierstock verzichtet zu haben. Doch als sie hörten, dass er es sogar einmal zum Universitätsmeister im Kugelstoßen gebracht hatte, nickten sie dann doch zustimmend.

»Darauf müssen wir anstoßen!« Bürgermeister Steen goss aus einer kleinen Karaffe die Jonathan inzwischen wohlbekannte ölige Flüssigkeit in frische Gläser. Jonathan wollte dankend ablehnen, doch Arne Steen duldete keine Widerrede: »Aufs Boßeln stößt man mit Puntendreher an. Zumindest bei uns in Broiversum.«

• • •

Auf dem Heimweg berichtete Jonathan Katharina ausgelassen von seinem Gespräch. Amüsiert erzählte er von der Reaktion der Herren auf sein Ansinnen, die Herrin zu besuchen, von der Diskussion über die optimale Taktik, Eisenkugeln über Brachland zu werfen. Zuletzt hatten sich Hein Peters, Dr. Stiebensdorn und Bürgermeister Steen sogar darüber gestritten, ob es besser wäre, von Osten nach Westen oder umgekehrt zu spielen – unabhängig vom Gelände.

Katharina schwieg beharrlich. Sie schritt rasch aus; Jonathan hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten.

»Liebling, was ist los mit dir?«, fragte er atemlos.

Katharina blieb abrupt stehen und wirbelte zu ihm herum. Ihre Augen blitzten zornig. »Klöppeln! Gemeinsame Strickabende! Und Fisch zum Frühstück, Mittag und Abendessen! Ist es das? Werden wir so unser Leben verbringen? Du trinkst mit den Männern, und ich sitze mit den Frauen traut beisammen, in unsere Handarbeiten vertieft, während wir den neuesten Dorfklatsch abarbeiten?«

»Katharina! Ich bitte dich. Wir müssen –«

»Ich muss überhaupt nichts. Du musst! Ich kann jederzeit meine Koffer packen.«

Damit wandte sie sich von ihm ab und ging weiter. Ihre Absätze klapperten wütend auf dem Kopfsteinpflaster. Was war bloß los mit ihr? Erst an der Haustür konnte Jonathan sie wieder einholen.

»Würdest du mir bitte sagen, was du hast?«

»Dieses Dorf – dieses Städtchen! – ist genau das, was ich mir unter der Hölle vorstelle. – Dazu bin ich nicht nach Berlin gegangen.«

»Katharina! Jetzt beruhige dich doch –«

»Weißt du überhaupt, was mit deinem Vorgänger passiert ist?«

Jonathan hätte es ahnen können. Das Gerede einer Kleinstadt. »Ja, aber –« Er wusste, dass er das Falsche gesagt hatte, noch bevor Katharina explodierte.

»Und du hast mir kein Wort davon gesagt? Meinetwegen kannst du gerne hierbleiben und irgendwann anfangen, schwarzen Kutschen nachzujagen. Ich jedenfalls packe morgen meine Koffer und fahre zurück nach Berlin. Oder nach Hamburg. Zu Mies. Der weiß wenigstens, wie man lebt.«

Das hatte gesessen. Noch bevor Jonathan etwas erwidern konnte, war Katharina die Treppe nach oben gelaufen. Die Schlafzimmertür fiel laut hinter ihr ins Schloss. Jonathan hörte, wie der Schlüssel energisch umgedreht wurde.

Als er nach einer Weile zaghaft klopfte, hörte er, wie innen an der Tür etwas Schweres zerschellte. Er würde wohl die Nacht auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer verbringen müssen.

• • •

Was gäbe ich drum, mich einmal so zu streiten! In den Schatten der Nacht verborgen habe ich den jungen Amtsrichter und seine Frau beobachtet. Wenn sie wüssten, was sie auch in solchen Momenten für einen Reichtum besitzen – so viel Leben, so viel Liebe …

Ich bin und bleibe ein Zaungast der Welt, gezwungen, nächtens durch die Stadt zu wandeln, um wenigstens ein klein wenig an ihrem Leben teilzuhaben. Und das einzige sinnliche Vergnügen, das ich kenne, ist es, anderen den Tod zu schenken.

Müde bin ich, alt – und ich habe mir dieses Dasein nie ausgesucht. Wer auch immer mir dieses – soll ich es Leben nennen? Es klingt wie Hohn. – geschenkt hat: Er hat sich einen üblen Scherz erlaubt.

Genug! Meine Hand ist schon steif vom vielen Schreiben von Worten, die niemals jemand lesen wird. Ich werde mich noch ein wenig vor den Kamin setzen, ein Glas trinken und den großen Silberdolch betrachten. Ich werde erneut die Kraft nicht aufbringen, ihn mir selbst ins Herz zu stoßen. Und dann werde ich mich zur Ruhe begeben, bis zur nächsten Nacht in den Millionen Nächten meines Daseins.

Die Herrin

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