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FOREL

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Es ist schon wieder Freitag. Ich habe Speedy von seiner Wochenpension am Mont Pélerin abgeholt, wo er als König über zwei Eselinnen geherrscht hat. Er ist unwillig heute – kein Wunder, der Abschied von den Untertanen ist ihm schwergefallen, es regnet und eine Journalistin vom Schweizer Radio wollte unbedingt, dass er in ihr Mikrofon hineiniahen würde, denn das passe so gut in ihr Programm hinein. Hartnäckig weigerte er sich, bis die Dame seufzend Mikrofon und Rekorder einpackte und in ihr Auto brachte. Da schrie er dann plötzlich begeistert los, sodass sie schnell alles wieder herausholte, um erneut das Mikrofon vor seine Schnauze zu halten. Speedy sah sie verächtlich an, war aber bereit, etwas halbherzig zu brummen. So fuhr sie zufrieden ab.

Nun gehe ich mit meinen beiden Tieren durch den Regen nach Forel. Er macht mir nichts aus, ich bin dementsprechend gekleidet. Nur schade, dass ich bei diesem Wetter wohl keinem Menschen unterwegs begegnen werde.

Ich denke über das letzte Wochenende mit seinen Besuchern nach. Es waren noch mehr Journalisten da, fast ein bisschen zu viel des Guten. Und viele Leute, liebe Leute. Herzliche Evelyne, deren Gebete mich in den kommenden Jahren treu begleiten werden, und Marlyse. Eine Frau, die ein riesiges Picknick mitbrachte: »Ich habe gelesen, bei Ihnen wird alles einfach geteilt; wer etwas hat, bringt’s mit, wer nicht, lässt es sich schenken. So hab ich ein libanesisches Essen für sieben mitgenommen. Ich dachte, das müsste reichen!«

Erstaunte Leute. Ein Mann, der nur »auf einen Sprung« vorbeikommen wollte und der drei Stunden später immer noch dasaß: »Ich weiß wahrhaftig nicht, wann ich zum letzten Mal in etwas Kirchlichem gewesen bin, aber glauben Sie mir: Lang ist’s her!«

Seltsame Leute. Ein junger Mann, der Texte schreibt, so dunkel und verwirrt, dass ich nicht weiß, wie ich reagieren soll. Aber am nächsten Morgen um sieben sitzt er schon wieder vor dem Eselwagen mit frischen Croissants, und so reden wir weiter bei Kaffee und Morgensonne.

Bekannte, aber lange nicht gesehene Leute. Ein früheres Gemeindemitglied von der Zeit in Fiez ist da. In einer schwierigen Situation hatte sie alles verlassen – und nun sah ich sie plötzlich im Tipi sitzen.

So zurückdenkend ziehe ich durch den immer stärker werdenden Regen. Inzwischen sind wir eine recht triefende Gesellschaft geworden. Eine Frau ruft mir aus dem Küchenfenster zu: »Ich kenne Sie doch! Sind Sie nicht die Pfarrerin, die in der Zeitung stand? Haben Sie Zeit für einen Kaffee?« Klar habe ich Zeit, das ist ja der Sinn der Sache. Ich schäle mich aus diversen Schichten Regenkleidung und versuche, nicht zu schlammige Spuren auf dem blitzeblanken Küchenboden zu hinterlassen. Jetzt merke ich erst, wie kalt mir eigentlich ist. Die Frau fängt an zu erzählen. Von einer Tochter, die gestorben ist. Davon, wie schwer das Leben ohne sie ist, wie unnatürlich der Alltag geworden ist. Und auch, wie wenig sie Gottes Hand in dieser Situation erkennen kann.

Ich sehe diese Hand auch nicht. Ich will nur glauben, dass sie da ist, dennoch da ist. Vorsichtig frage ich die Frau nach einer Weile, ob sie möchte, dass ich für sie bete. »Aber vielleicht möchten Sie das ja gar nicht, ist es nicht der Moment dazu?« Doch, es ist der Moment. Also beten wir. Jedes Mal, wenn ich mir vorstelle, wie es wohl ist, eine Tochter zu verlieren, bleibe ich stecken. Worte scheinen da so leicht gesagt und irgendwie fehl am Platz. Aber dann denke ich wieder daran, wie Gott auch durch meine Worte trösten kann, weil er das alles ja so gut kennt.

Nachdenklich gehe ich wieder in den Regen hinaus und komme am Abend in Forel an, wo mein Kollege und Freund François uns eine Wiese hinter einem Agrargeschäft reserviert hat. Dank Stef, der voriges Wochenende mit François in Chardonne war, um sich das Ganze mal anzugucken, und der sofort seine Hilfe zugesagt hatte, ragt das Tipi nass, aber noch stolzer als letztes Wochenende hinter den Bäumen empor: Hier zeigt sich die Hand des Experten! Und Stef wird an vielen, vielen künftigen Wochenenden das Zelt aufbauen, so fachkundig und schnell wie kein anderer.

Alles ist nass! Das Tipi ist zwar wasserdicht, aber das Material musste ja zuerst mal hineingebracht werden. Na ja, um das Trocknen kümmere ich mich lieber morgen. Jetzt möchte ich nur noch bei Séverine und Denis Reymond duschen, die Speedy nach dem Wochenende beherbergen werden. Sie laden mich zum Essen ein, und ich nehme ihr Angebot gern an. Ein Zettel am Tipi erklärt, wo ich bin; falls jemand dem Regen trotzt und mich sehen will, braucht er nur anzurufen und ich komme.

Am Samstagmorgen scheint die Sonne, das Tipi dampft. Nach dem Tipi-Treffen um 9 Uhr mit einigen Besuchern aus den umliegenden Dörfern brauche ich die nächsten Stunden, um alles gründlich sauber zu machen und zu trocknen. Noch wichtiger ist, alles einen festen Platz zu geben. Voriges Wochenende war keine Zeit dazu, alles lag kreuz und quer durcheinander. Ich brauche aber etwas Ordnung um mich herum, denn das Tipi ist mein Zuhause, und ich muss mich wohlfühlen können. Um 13 Uhr ist alles fertig und sieht einladend aus.

Nur wo sind die Gäste? Die Mittagsandacht mache ich ganz allein, und das ist eine seltsame Erfahrung. »Aber« – so sage ich zu Gott – »ich plumpse besser gleich ins kalte Wasser der angeblichen Erfolglosigkeit hinein. Ich verspreche dir, ich werde die Zeltbegegnungen auch halten, wenn ich – Entschuldigung, wenn wir – ganz alleine sind, okay?« Ich habe das Gefühl, er ist nicht nur einverstanden, sondern er freut sich darüber. Und ich mich irgendwie auch. Bei diesem Zusammensein passiert etwas: Wenn ich an meinem Klavier singe, wenn ich für die Leute bete, die in der Gegend wohnen, und für die, die ich unterwegs getroffen habe, wenn ich Gott danke, dass er so ist, wie er ist, dann entsteht eine Vertraulichkeit, in der mein Herz aufblüht und die sozusagen die Atmosphäre des Tipis prägt. Und das wirkt sich dann wieder auf die Stimmung der Besucher aus. Das Tipi wird im Laufe der Zeit für die Leute ein Symbol der Gemeinschaft werden: zwischen Menschen und Gott und zwischen verschiedensten Menschen untereinander.

Ob im Tipi oder unterwegs, ich vertraue Gott auch die an, die mich unterwegs anrufen. Die Zeitungen haben berichtet, ich würde für jeden beten, der mich darum bittet, und ich habe an den letzten Wochenenden und unterwegs nach Forel mehrere Anrufe bekommen: »Können Sie für meine Tochter beten? Sie ist krank.«, »Meinem Vater geht’s nicht gut …«, »Mein Freund hat mich verlassen.«

Um nicht wie ein Guru zu werden, der besser beten könnte – schlimmer noch, der mehr Chancen auf Erhörung hätte – als die Leute selber, habe ich gesagt, dass ich mit ihnen beten werde. Oft kommt dann ein Einwand: »Ach, wissen Sie, ich bin schon lange kein Kirchenbesucher mehr. Aber wenn Sie beten …« Ich bleibe trotzdem dabei: »Gott hört mich nicht besser als Sie! Ich werde wirklich gerne für Sie beten. Aber ich würde mich freuen, wenn wir es zusammen machen.«

Das ist übrigens nicht immer ganz einfach: Wie soll ich denn beten, wenn ich im Regen auf einer Straße stehe und LKWs an mir vorbeirumpeln, die das Wasser hoch aufspritzen, manchmal direkt auf mein glücklicherweise wasserdichtes Handy, während der Esel nach hinten und der Hund nach vorne zieht? Aber ich freue mich auch: Wie toll ist es, mitten in der schlammigen Wirklichkeit zu einem lebendigen, interessierten, sich wirklich um jeden Einzelnen kümmern wollenden Gott zu rufen, der richtig zuhört. Und auf seine Art und Weise und nach seiner Zeit dann auch erhört.

Am Nachmittag kommen mehrere Leute zu Besuch. Eine liebenswürdige ältere Frau erscheint, die sich von ihrem Freund begleiten lässt, weil sie selbst nicht gehen kann. Dieser geht hastig davon mit den Worten: »Kirche ist nicht so meine Sache, ich hole sie dann nachher ab.« Wir reden lange, glücklicherweise sind wir gerade allein. Manche Gespräche brauchen Zeit – und sind nur für vier Ohren bestimmt. Nach einer Stunde ist der Freund wieder da und freut sich: »Du siehst aber fröhlich aus! Wollen wir dann wieder?«

Ich winke ihm zu: »Sie brauchen ja nicht ins Zelt reinzukommen. Ich weiß ja, das ist Ihnen zu riskant! Aber wie wär’s mit draußen essen? Ich lade Sie zu meiner außergewöhnlichen Suppe ein!«

»Ja, wenn Sie meinen, Sie könnten einen Berufskoch überzeugen?!«, gibt er zurück. Aber das macht mir keine Angst, auch wenn ich nicht gut kochen kann. Vielleicht ist es mir auch gerade deshalb ein bisschen egal, was die Leute sagen. Ich habe einfach seit anderthalb Stunden große Mengen Karotten, Lauch, Kartoffeln und Sellerie in einem Topf brodeln lassen, da kann wenig schiefgehen. Und siehe da, meine Suppe wird sogar vom Experten gelobt.

Um 23 Uhr ist der letzte Gast gegangen. Ich streichele Speedy über sein struppiges Fell, prüfe das Seil, mit dem ich ihn an einem soliden Baumzweig festgebunden habe, und ziehe mich gähnend mit Barou in meinen Eselwagen zurück. Klappe zu, »Welterusten, Barou!« – »Schlaf schön, Barou!«.

Meine friedliche Nacht wird morgens um halb sechs durch das wütende Gebell von Barou und eine laute Stimme an der Tür jäh unterbrochen: »Hetty, mach auf, ich bin’s, Séverine!« Erschrocken öffne ich die Klappe. Séverine steht da, eine Jacke über ihren Pyjama gezogen. »Speedy war weg, aber jetzt ist er wieder da! Das heißt, er ist nicht hier, aber er ist wieder da!«, strahlt sie.

Während mein schläfriges Gehirn versucht, diese gute Nachricht zu verstehen, wandert mein Blick automatisch zum Zweig, an dem ich Speedy gestern Abend angebunden hatte. Kein Zweig ist mehr zu sehen. Und auch kein Esel.

Séverine fährt fort: »Speedy hat sich heute Nacht losgerissen. Er ist, den Zweig hinter sich her ziehend, auf die Straße gegangen und um ein Uhr morgens von einem Ehepaar aufgegabelt und zum Café le Pigeon gebracht worden. Jetzt ist er bei einem Bauern, da kannst du ihn abholen, wann du willst.«

Schlafen kann ich nicht mehr nach dieser umwerfenden Mitteilung. Speedy mitten in der Nacht auf der großen Nationalstraße zwischen Chexbres und Oron? Über diese sind wir ja nach Forel gekommen, und schon tagsüber hatte ich Angst: so viele und so schnell fahrende Autos … Hastig ziehe ich mich an und rufe den Bauern an. Ja, ich darf gleich kommen. Schnell noch Barou in mein Auto bringen und los geht’s!

Bin ich froh, meinen Ausreißer wiederzusehen! Ich versteh zwar immer noch nicht, was da genau passiert ist, aber alles ist ja wieder gut. Der Bauer und sein Sohn heben (!) den widerstrebenden Esel einfach in einen Viehanhänger hinein, bringen ihn mir nach Forel zurück und sagen mir verschmitzt: »Eine bessere Reklame für Ihr Projekt hätten Sie sich nicht denken können! Die ganze Gegend weiß Bescheid, dass Sie hier sind: Gäste vom Restaurant le Pigeon, Straßenarbeiter, die Polizei …«

Im Laufe der Wochen erfahre ich die verschiedenen Puzzlestücke der Geschichte. Nachts so um 23.30 Uhr muss Speedy sich gedacht haben, die Eselinnen seien eine sympathischere Gesellschaft als eine schlafende Pfarrerin. Ein solider Zweig? Dass ich nicht lache! Der kommt einfach mit.

Man erzählt mir später: »Die Autofahrer haben alle nur gehupt und warnende Lichtzeichen gegeben, aber keiner hat angehalten. Bis ein Ehepaar kam und ihn zum Café le Pigeon gebracht hat. Sie können sich vorstellen, wie alle geguckt haben, als da auf einmal ein Esel reinspaziert kam! ›Kennt hier jemand diesen Esel?‹, fragte das Ehepaar. Aber keiner erkannte ihn. Zwei Straßenarbeiter von der kantonalen Schicht haben ihn dann in der Scheune hinter dem Gasthaus eingesperrt, und der Wirt hat die Polizei angerufen. Aber die haben gemeint, es handele sich um einen Witz, und sind nicht gekommen. Also haben die Straßenarbeiter einen Bauern aus dem Bett geklingelt, der um halb drei mit seinem Anhänger gekommen ist und Ihren Grauen abtransportiert hat!

Auf der Fahrt nach Hause haben wir bei den Reymonds noch Licht brennen sehen, und plötzlich ist uns eingefallen, dass die auch Esel haben und es vielleicht ja ihrer ist! Wir haben geläutet, und Denis hat gesagt: ›Nein, unserer ist es nicht, aber ich hab da eine Idee, wem er gehören könnte …!‹«

So viele Leute haben sich um meinen Speedy gekümmert … Leute, die ich gar nicht kenne. Ein Bauer, der nachts aus dem Bett getrommelt wird, zwei Straßenarbeiter, die samstagnachts endlich freihaben und wahrhaftig nicht im Gasthaus sitzen, um schon wieder ein Hindernis aus dem Weg zu räumen. Ein Ehepaar, das wie der barmherzige Samariter nun eben nicht auf der anderen Straßenseite weiterfährt und so tut, als hätte es nichts gesehen, sondern anhält und sich Zeit nimmt, ein Tier und bestimmt auch Menschen vor einem unvermeidbaren Unfall zu retten.

Wenigstens den Bauern treffe ich persönlich und kann ihm danken. Er schiebt meine Dankworte weg: »Ist doch logisch. Jeder hätte das getan.« Was nicht so ganz der Wahrheit entspricht. Und die anderen? Wie kann ich mich bloß bei ihnen bedanken? Ich weiß ja nicht mal, wer sie sind …

Das Tipi-Leben geht weiter. Es ist drei Stunden später. François hat einen Familiengottesdienst vorgeschlagen: »Ich habe keine Ahnung, wer kommen wird – das weiß man nie so bei solchen besonderen Gelegenheiten. Rechne mal mit so zehn, zwölf Kindern und ein paar Eltern.«

Glücklicherweise strahlt die Sonne auf das Tipi hinab, denn wo ich bei Regen die ungefähr dreißig Kinder und zwanzig Eltern hätte unterbringen können, wäre mir ein Rätsel gewesen. Nun schleppen wir eifrig Bänke aus einer benachbarten Scheune heran. Ich rede mit den Kindern über Segen. Die guten Worte, die Gott für jeden von uns hat, weil wir ihm alle wichtig sind. Wir singen, wir lachen. Ich erzähle, wie Jesus die Kinder gesegnet hat, und erwähne, wie ich am Ende des Tipi-Treffens am Sonntagabend jeden Teilnehmer frage, ob er oder sie einen persönlichen Segen möchte. Und wenn ja, auf welche Art und Weise: einfach so mit einem gewissen Abstand – oder mit Handauflegung auf den Kopf, den Schultern, den Händen … Jeder kann selber entscheiden, weil jeder selber am besten weiß, was er braucht. Ich erzähle auch, wie ich in diesen Augenblicken versuche, Gottes Stimme für diese Person zu hören, um dann vorsichtig zu sagen, was ich meine, gehört oder gesehen zu haben.

Die Kinder hören gespannt zu. Plötzlich denke ich mir: So was Doofes – hier stehe ich nun und rede über etwas, ich könnte es doch auch einfach tun. Ein bisschen zögere ich noch: Kinder sind Kinder, und ich will sie nicht in etwas hineindrängen, das nicht angemessen für sie wäre. Ein Blick zu François hinüber: Was meinst du? Er nickt: »Vas-y!« – »Mach nur!«

Und so frage ich einfach: »Wer von euch möchte denn, dass ich sie oder ihn segne?

Eine einfache Frage kriegt oft einfache Antworten. Ein erster kleiner, aber entschiedener Finger geht hoch: »Ich möchte. Und ich hätte gern, dass du deine Hände … mmm … mal sehen … auf meinen Kopf legst!«

Und so geschieht’s. Andere Finger gehen hoch. Ganz bestimmt nicht alle, das freut mich; es geht hier nicht um eine Herdenreaktion. Die, die den Segen wollen, wissen, warum. Dann meldet sich ein Erwachsener: »Ich würde eigentlich auch gern gesegnet werden – oder ist es nur für die Kinder?« Oh nein! Alle sind eingeladen! Ein Kind möchte noch für seinen kranken Großvater beten. Die ganze Versammlung betet mit.

Zum Schluss bitte ich François, mir den Segen zu geben, ich brauche ihn ja genauso. Und es ist mir wichtig, dass alle sehen: Den Segen kann und darf man empfangen – aber auch geben! Heute geben ihn zwar nur die beiden Pfarrer, aber ich hoffe, in Zukunft wird es einfach … irgendjemand sein.

Die Wanderpfarrerin

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