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1. Sucherin, zwiespältig

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23.2.93 Simone Maurer geht die Greifswalder Straße Richtung Nordost. Sie ist verzweifelt. Aus den Urenergien Angst und Abwehr beschleunigte Denkfetzen jagen als Wut durch ihr Gehirn. Panne, Scheißpanne! ....dann eben laufen. Doofes Krankenhaus! Blöd! .... Muss hin....Muss! In die Klapsmühle....! Blöde Klapse! Birnenpresse.... Scheißangst!!.... Angst macht klein, mauseklein.... Kotzübel wird mir! Das frisst mich auf. Kann mich nicht wehren.... Will nicht zu denen, die haben mich doch schon mal angeschnallt in der Klapper. Die haben mich dort erst verrückt gemacht, traue denen allen nicht.... Die dürfen doch alles! .... Laufen, immer weiter.... Nur nach unten sehen, auf das Pflaster. Da! Kommt einer auf mich zu…. Ist der groß! Gefährlich, die Augen.... sehe weg, mach einen Bogen …. Die Menschen sind schlecht. So hämisch die Fratzen .... stürzen auf mich zu! Verdammte Panne, im Auto bin ich sicher.... Hinter den Glasscheiben.... Tarnkasten. Die Menschen sehen mich da nicht... können mir nichts tun. Bin so schutzlos auf der Straße.... wie nackt. Die sehen einen immer so an …. Immer länger die Straße, die Füße brennen, bin sowieso zu feige.... Das Kino da.... kenn ich. Plastelappen hängen runter, klatschen im Wind. Überall müssen sie bauen.…. Mir doch egal, gehe da sowieso nicht rein. Bauschutt, alles Staub, vorsichtig drum herum. Die Häuser so traurig eingezwängt.... Wie ich, die Häuser. …. Landkarten an den Fassaden, offene Steinwunden, so kaputt wie ich. Weiter, immer weiter, schneller, hier die Bahnbrücke, rostende Säulen, .... die sind stark, schnell durch. …. Gleich wieder laut, ein Dröhnen! Wo kommt das her? …. Komme zu spät, egal, will doch gar nicht! Muss aber, sagt die Scheißärztin, sonst schickt sie mich auf Arbeit. Scheiße, dort habe ich noch mehr Angst.... Bei den Kindern, da bin ich sicher, da ist alles gut. …. Können mir sowieso nicht helfen und bin zu feige.... Ist was los hier, Lastwagen, Autos hupen, huch der Schreck! Schon wieder ein Fahrrad…. dicht vorbei, …. gemein .... Gleich rechts in die nächste Straße rein, dreckiger Schlauch. Die Häuser erdrücken mich. Zucke zusammen, das gellt, die Straßenbahn klingelt, sie hält, steigen viele Leute aus.... unheimlich. Einfach runterschlucken, nach unten sehen, immer auf das Pflaster. Fürchte ihre Fratzen, die sehen mich, verdammte Scheiße! Hier die enge Straße, die Häuser kippen auf mich drauf, ganz schief sind die. Plötzlich n freier Platz, der ist aber groß. Windig hier, dort das alte Backsteinhaus! Muss das Krankenhaus sein! So drohend! Nein! .... Langsam ran. Groß und dunkel! Soll hier rein! Will nach Hause! …. Geht nicht! Mach schon, geh rein....! Alles ne böse Macht, Arbeit, Ärzte, Schwestern, Kollegen .... Da, die große braune Tür muss es sein! Geht schwer, knarrt mich an.... wie so n Wachhund. Zieht das hier! ….Tür zu, plötzlich Stille. Drängende Stille. Dunkel hier, dort links die Treppe rauf. Sie hat gesagt, ich muss nach links. Wird noch dunkler, dann ein langer Gang, dämmrig, gruselig. Pochen im Hals, halte das nicht aus! Weg hier! .... Die Hände nass, bleibe stehen. Schwestern sind böse.... nicht dran denken .... jetzt langsam .... Da! Da ist schon eine. Weißer Kittel. Was? Ohne Haube? Die sind immer böse mit mir. Bin da, eine Stimme weit weg, kann die Schwester nicht ansehen, sehe nach unten, sie spricht leise.... hm, fast sanft.... das glaube ich nicht.... Doch.... bleibt leise. Sie fragt, ob ich alles mitmachen kann. Will sie mich zu nichts zwingen? Das wäre ne neue Sorte Schwester! …. Muss sie mir ansehen! Bin so aufgeregt, ihr Gesicht verschwimmt. Sommersprossen, blonde Haare.... lächelt. Bringe kein Wort raus. Das würgt so im Hals, zittere. Klar, Angst vor den Ärzten, will die nicht sehn! …. Will Ruhe haben, tot sein! Großmutter, will lieber zu Dir.... Oda heißt die Schwester. Für mich zuständig ist Frau Dr. Leider.... wenigstens ne Frau .... Ich soll mit in die Gruppenvisite.... lieber nicht, was machen die da? Gleich rein.... sitzen viele Menschen im Kreis. Auch welche mit weißen und blauen Kitteln. Jemand redet, bin aufgeregt, verstehe nichts. Verstecke mich hinter Schwester Oda. Herzklopfen. Mir wird heiß. Plötzlich Stille. .... Ich schaue hoch.... Die Ärztin hat sich zu mir umgedreht und was gefragt.... Ich schlucke, sehe kurz zu ihr hin. Große dunkle Augen. Sehe schnell wieder weg. Sie macht mir nicht mehr Angst als alles andere. Ich bin dran und kriege kein Wort heraus. „Sie müssen sich erst eingewöhnen, wir unterhalten uns gleich in meinem Zimmer“. Die Visite ist zu ende. Schwester Oda nimmt mich mit in einen schummrigen Aufenthaltsraum zu einem großen tiefen Sessel. Ich sinke rein, mache mich ganz klein. ....Am liebsten weglaufen. Muss dann bloß woanders hin, in eine andere Klinik oder auf Arbeit, wo ich mich nicht mehr zurechtfinde. Komisch, meine Wut ist weg. Nur noch Angst, nasse Hände. …. Alles anders hier. …. Sie kommt. Bohnenstange mit langem Wuschelhaar. Sieht jünger aus als ich.... eigentlich nicht streng. Wenn ich sie ansehen muss, schnürt es mich ein. Sie geht in ein Zimmer, dort klingelt ein Telefon. Hoffentlich fragt sie nicht so viel. …. Worte klemmen, würgen.... Würgengel .... Großmutter .... mein schlechtes Gewissen, hab versagt! .... Oau, die Tür geht auf.

„Kommen Sie herein, Frau Maurer“. Ich gehe gegen zähen Wind, die Füße bleischwer. Muss ihr die Hand geben. Sie drückt kräftig zu. Bloß keine Berührung! Sie sieht mich genau an.... ich sehe zur Seite. Ich schäme mich, möchte mich unter ein Bett verkriechen. …. Jetzt fragt sie was. Was war es gleich, weshalb ich in die Klinik komme? …. Blöde Frage! …. Frau Dr. Hille schickt mich her, weil ich so nicht arbeiten kann. Nehme Zettel und Kuli und schreibe. Sie wartet bis ich fertig bin. So, das stimmt:

‚Ich möchte keine Angst mehr haben!

Mit anderen reden können!’

Ich versuche zu sprechen. Ihr Interesse zwingt mich irgendwie, ich will reden: „I..I..Ich möchte sprechen“. Stottere und krächze. Sie will alles von mir wissen, sonst kann sie mir nicht helfen. Bin 35, jetziger Beruf Kindergärtnerin. Soll Lebenslauf schreiben. Habe sie gleich geärgert, in die Gruppe gehe ich nicht, habe den Kopf geschüttelt. Dann will sie mich mit einem Psychologen üben lassen, nee mach ich nicht. …. Wenn da was passiert .... so was, womit ich nicht klar komme.... Trotzdem .... sie blieb sachte, hat mich dazu gekriegt, dass ich doch versprochen habe, in die Gruppe zu gehen. Brauche auch nichts zu sagen. Ich habe mich glatt untersuchen lassen! Unheimlich blöd, so, fremde Hände auf der Haut.... Warme Hände hat sie, weiche Hände, tun nicht weh. Komme mir wieder so albern vor. Und dann das Allerblödeste. Sie fragt nach Medikamenten. Ohne Tabletten kann ich nicht leben, die Angst bringt mich um. Sie fragt, was ich nehme und wie viel. Schreibe: ’Immer unterschiedlich, mal mehr, mal weniger Oxzapzetan, Protazin, Insidon’

Fragt, ob ich alle verringern könnte. Schreibe ‚nicht’ neben Oxza, ‚ja’ neben Prota und Insidon. Wo ich die vielen Tabletten her habe? Zeige ihr drei Rezepte über 100 Tabletten von jeder Sorte. Sie hat gar nicht darauf reagiert, dass ich sie verschiedenen Ärzten abgeluchst habe. Aber dann sagte sie, jetzt dürfte ich nur die Medikamente von der Tagesstation einnehmen. Ich habe ihr die Rezepte gegeben. Bin ich blöd!


Mi 24.2.1993

Schon wieder ein Gespräch. Gebe den Lebenslauf ab, habe schnell geschrieben, was mir einfiel, nur Schlechtes. Sie hat alles gleich durchgelesen. Sich Notizen gemacht. Sie nimmt mich ernst! Wirklich. Zu meinen Eltern quetsche ich heraus, dass ich sie hasse. Dann kann ich nicht mehr sprechen, wieder Zettel. Sie wollte wissen, wie der erste Tag auf Station verlaufen ist. Es war schwer, mit den anderen in einem Raum zusammen zu sein. In der Gruppe war ich 15 Minuten, dann musste ich raus. Sie erklärt mir den Sinn von Stationsausflügen. Klingt mir ein bisschen zu schön. Diese Woche gehen alle zum Kegeln. Find ich blöd. Ich traue mich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Habe Angst vor Kellern, das Kegeln soll aber oben sein, im Hellen.


Fr 26.2.1993

Zettel an Schwester Oda: ‚Ich kann nicht zu der Ärztin, ich habe Angst!’

Habe ein schlechtes Gewissen, das schreibe ich nicht. Schon bin ich im Arztzimmer. Gebe ihr gleich einen Zettel von heute früh, musste das schreiben.... Bin so durcheinander ....

‚Ich war gestern bei meiner Psychologin in der Friesenstraße. Ich glaube ich habe mich total übernommen hierher zu kommen. Eine Ewigkeit brauche ich, ehe ich durch den langen Gang komme. Die Angst ist einfach zu groß, kann nicht dagegen ankämpfen. Zu lange lebe ich schon isoliert, ich habe vor allem Neuen Angst. Ständig habe ich Selbstmordgedanken, weil ich mein Leben nicht packe. Für mich ist es schon ein Fortschritt, ganz allein hierher zu kommen, ohne dass mich jemand zwingt Dinge zu tun, die ich nicht möchte. Seit 3 Monaten kann ich kaum was essen, vor jedem Essen bin ich schon satt, mit Müh und Not zwinge ich mir was rein. Mir geht es zwar weitaus schlechter, aber wie Sie sehen, habe ich die Woche doch ganz gut über die Runden bekommen. Vor dem Wochenende habe ich Angst. Meine Tochter ist ab heute Abend nicht da, ich habe Angst, dass ich wieder was anstelle’.

„Dann bleiben Sie am Wochenende am besten hier mit Übernachten in einem Urlauberbett!“

„Muss ich dann auf eine andere Station?“

„Das ist leider nicht zu vermeiden. Die Tagesstation ist am Wochenende nicht offen.“

„Nein, auf eine andere Station gehe ich nicht.“

„Sie müssen ja nicht, das war nur ein Angebot. Haben Sie auch zu Hause Angst, wenn Sie allein sind?“

„Mmh, ja.“

„Aber Sie wollen lieber die Angst zu Hause ertragen als auf eine neue Station?“

„Ja“.

„Wie lange sind Sie jetzt schon krankgeschrieben?“

„Seit 8 oder 9 Monaten“.

„Sie arbeiten als Kindergärtnerin?“

„Ja.... im ‚Pittiplatsch‘, so hieß er früher .... jetzt ‚Sesamstraße‘.

„Wie ging es denn so mit der Arbeit?“

„Ich musste in einen anderen Kindergarten wechseln. Meine Chefin krittelte dauernd an mir rum, was ich alles anders zu machen habe nach der Wende. Irgendwann wurde ich wütend und habe ihr an den Kopf geknallt, dass sie für die SED und die Stasi gearbeitet hat. An die neuen Kollegen kann ich mich nicht gewöhnen. Die können mich nicht leiden. Die lassen mich nicht so arbeiten wie ich kann.“

„Wie meinen Sie das?“

„Mit den Kindern kann ich gut umgehen. Da kann ich reden und Spaß machen. Die haben mich auch lieb. Aber mit den Eltern kann ich nicht reden. Da haben mir früher die Kollegen geholfen. Die neuen interessiert das nicht. Wenn ich das nicht packe, dann wollen die mich weg haben.“ „Wenn Ihnen die Arbeit mit den Kindern solchen Spaß macht und die Kinder Sie brauchen, meinen Sie nicht, dass Sie es dann mit den Eltern wenigstens versuchen sollten?“

„Wenn ich wieder zu dieser Arbeit muss, nehme ich mir den Strick!“

„Sie wissen vermutlich selbst, dass Sie jetzt überzogen reagieren.“

„…. “

„Sie haben Probleme bei der Arbeit und mit Ihren Eltern.“

„Ja.“

Langsam spricht die Therapeutin weiter.

„Ich muss Sie und die Entwicklung Ihrer Störung gründlicher kennen lernen. Erst nach und nach werden wir beide Ihre Symptome ausreichend erfasst haben. Wenn die Diagnose einigermaßen sicher ist, kommt eine analytisch orientierte Psychotherapie in Frage.“

„Was ist das?“

„Eine auf dem Wissen über unsere innerseelische Struktur basierende Gesprächstherapie. Über die einzelnen Hypothesen, also wissenschaftliche Annahmen, gebe ich Ihnen in den jeweiligen Gesprächen Auskunft. Wären Sie unter dieser Bedingung einverstanden?“

„Ja.“

„Wenn in einigen Wochen das Wichtigste geklärt ist, werden wir über die Fortführung oder eine zusätzliche Behandlung sprechen.“

„Ich hab nicht gedacht, dass das so kompliziert ist.“

„Was wissen Sie über Ihre Diagnose?“

„Hm .... eigentlich nichts.“

„Zunächst kann ich nur die Vermutung Ihrer Ärztin für ziemlich wahrscheinlich halten, nämlich, dass Sie an einer Persönlichkeitsstörung mit der Bezeichnung Borderline leiden. Deutsch heißt das einfach Grenzfall, im Grenzbereich.“

„Grenze?“

„Gemeint ist, im Grenzbereich zwischen mehreren Krankheiten.“

„....?“ Simone seufzt beeindruckt.

„Am besten, wir klären die Zusammenhänge dann, wenn Störungen, Probleme oder Symptome auftauchen.“

„....“ Zweifelnder Blick.

„Nun muss ich Sie noch über die Folgen aufklären. Erst der zu erwartende Nutzen: die Beseitigung oder Minderung von Angst, von Unsicherheit, aber auch von eigenen Fehlhaltungen.“

„Wie soll das gehen....?“

„Indem Sie mit ganzer Kraft mitarbeiten. Es gibt aber auch ein Risiko: Ihr Zustand kann sich verschlechtern: wenn Sie etwas falsch verstehen und nicht darüber sprechen oder etwas Wesentliches verbergen. Wichtig ist also, alle Angaben wahrheitsgemäß zu machen und nichts Wesentliches zu verschweigen.“

„.... “

„Ich denke, wir sollten drei, höchstens vier Mal in der Woche jeweils eine Stunde miteinander sprechen.“

„So viel?“

„Sie werden bald merken, wie schnell eine Stunde vergeht.“

„Was soll ich da machen?“

„Zum Beispiel frei und offen reden über alles, was Ihnen wichtig ist. Und über alles, was Ihnen in den Sinn kommt und was Sie zu Hause, unterwegs oder auf Arbeit beschäftigt. Es kommt darauf an, dass Sie offen und ohne Rückhalt reden. Nichts verschweigen. Auch wenn es Ihnen peinlich ist oder nebensächlich vorkommt.“

„Hm ....“

„Ich denke, Sie werden zurechtkommen. Mit dem sozialen Training fangen Sie sofort an. So gut Sie können, nehmen Sie an allen Gruppentherapien teil. Es fällt Ihnen noch ein wenig schwer, nicht wahr? Aber das geht am Anfang der Behandlung allen so.“

„ .... “

„Für heute ist es genug. Sie werden das alles erst verarbeiten müssen. Dann sehen wir uns am Montag nach der Visite wieder. Auf Wiedersehen.“

Händedruck. Und draußen bin ich.... Konnte nicht mal widersprechen.... Bestimmen immer alles, die Ärzte.... Auf die Tagesstation wollte ich nur, weil man nachmittags nach Hause kann.... Dass die am Wochenende geschlossen haben.... blöd!


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