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4. Ich-Dissoziationen als archaische Abwehr

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Mo 15.3.93 Gespräch mit Hanna Leider

Heute geht Simone zielsicher die Treppe hinauf. Klopft kurz an und öffnet die Tür. Grüßt höflich und nimmt sogleich in der Nähe von Hanna Leider Platz.

„Was soll ich sagen?“

„Was Sie wollen und was Ihnen wichtig ist.“

„Fühle mich doof“, schief grinsend, wobei sie der Therapeutin aufmüpfig ins Gesicht blickt.

„Sie sehen mich an, als ob es Ihnen heute besser geht.“

Simone zögert, sinkt etwas ein und sagt ohne Betonung: „Ich könnte mich immer noch prügeln lassen, ohne mich zu wehren.“

„Das klingt ja ganz anders als alles, was Sie bisher gesagt haben. Was empfinden Sie dabei?“

„Mmh.... nach dem Tod meiner Großmutter hab’ ich mich genauso gefühlt.“

„Können Sie dieses Befinden etwas genauer beschreiben?“

„Ich war weniger traurig, es war alles ganz weit weg.“

„....?“

„Ich war anders, .... irgendwie verändert ....“

„Fremd?“

„....?“

„Kommt Ihnen alles fremd vor?“

„Ja, so ähnlich .... Zu meiner Tochter habe ich dann keinen Draht mehr.... Wir reden dann nicht so viel miteinander.... dann schnattert nur sie ... “

„Was machen Sie in so einem Zustand?“

„Das weiß ich nicht so genau.... verschieden. Wenn ich gerade was mache, mache ich irgendwie weiter ...., aber nicht richtig. Ich rede dann nicht.... “

„Reagieren Sie dann noch auf Ihre Umgebung?“

„Weiß nicht.“

„Entfremdung ist eine Depersonalisation, alles weit weg, aber man nimmt wahr und reagiert verlangsamt. Man erinnert sich daran. Wenn Sie so weit weg sind, dass Sie nichts mehr wahrnehmen, nicht reagieren, nicht erinnern, dann ist das etwas anderes.“

„So was ist mir das erste Mal passiert, als ich in einem Zeltlager an einem See war .... 18 könnte ich gewesen sein. Damals bin ich mitten in der Nacht, es war völlig dunkel, mit meinen Sachen im See schwimmend aufgewacht.“

„Sie konnten an Land schwimmen und erinnern sich daran?“

„Ja.“

„Aber Sie erinnern nicht, wie Sie hineingekommen sind?“

„Nein.“

„Es kommen nur zwei Möglichkeiten in Frage: entweder ein Anfallsleiden, das halte ich bei Ihnen aber für unwahrscheinlich. Oder Spaltungsvorgänge. Das sind Dissoziationen.“

„Was ist denn das?“

„Unter Dissoziation versteht man das Abspalten von zusammengehörenden Ich-Funktionen. Ein Auseinanderfallen von Denkabläufen oder von Handlungen. Die Dissoziationen erklärt man sich als eine Ich-Spaltung zur Abwehr. Gemeint ist die psychische Abwehr von unerträglichen Erlebnissen durch Abspaltung aus dem bewussten Selbst.“

„....?“

„Das ist ein bisschen schwierig. Wenn wir geboren werden, sind unsere seelischen Funktionen noch nicht miteinander verbunden. Kinder brauchen Jahre bis zu einer sicheren Verknüpfung der vielfältigen Ich-Funktionen. Bei Vernachlässigung eines Kindes, erst recht bei Missbrauch und Gewalt, stoppt die psychische Reifung. Ein geschädigtes oder missbrauchtes Kind kann nur überleben, wenn es die ihm unerträglichen Erlebnisse weiterhin abspaltet. Also dissoziiert. Die negativ empfundenen Erlebnisse werden innerlich abgesondert aufbewahrt. Dadurch aber bleibt das Ich unfähig, seine Funktionen zu integrieren. Es bleibt schwach und verletzbar wie als Kind.“

Simone verzieht ihr Gesicht. Spottlächeln, blitzkurz. Hanna sieht es.

„Da habe ich nicht viel verstanden.... Aber .... heißt das, ich bin schwach? .... Das hat meine Mutter auch oft gesagt.... “

„Tja, sie hat wohl instinktiv etwas nicht gemocht, was sie als Schwäche bezeichnet hat. Aber in meinen Ohren klingt das eher wie ein Vorurteil. Sie hat Ihnen Schwäche vorgeworfen, ohne die Zusammenhänge zu kennen. Leichtere Formen von solcher Ich-Schwäche sind weit verbreitet. Ich-Schwäche bedeutet keineswegs Dummheit oder Unfähigkeit. Die Diagnose einer Ich-Schwäche benötigt einigen Aufwand. Wichtiger ist aber die Frage, was man dagegen tun kann. Ihr Ich kann man nicht mit Tabletten stärken. Sie müssen sich selbst anstrengen und die Psychotherapie akzeptieren. Sind Sie während einer Dissoziation schon einmal gestürzt oder in ein Auto gelaufen?“

„Nein .... wenn Sie so fragen, ist es eigentlich komisch .... so ...., dass mir nichts passiert ist.“

„Ja, Sie erinnern zwar nichts, aber Sie haben dabei ein ausreichendes Restbewusstsein. Damit weichen Sie Hindernissen oder Gefahren aus. In einem unserer letzten Gespräche waren Sie kurz weggedriftet. Erinnern Sie sich?“

„Nein.“

„Das war eine Dissoziation. War Ihnen das Gespräch unangenehm?“

„Ich weiß nicht.... “

„Wann war Ihre letzte Dissoziation?“

„Gestern. Ich war allein in der Wohnung. Als ich nach dem Nachmittagsschlaf aufgestanden bin, sehe ich ein volles Durcheinander: die Bücher sind aus dem Regal gerissen, das Aquarium kaputt auf dem Fußboden, die Fische tot.“

„Dann hatten Sie ja viel zu tun. Sind Sie wütend geworden?“

„Nein, auf wen? .... Na ja, war ein ganzes Stück Arbeit, neun Uhr abends war ich fertig.... Hat mich abgelenkt.“

Hanna Leider notiert ins Krankenblatt:

Schon seit Jahren erlebt Patientin Derealisation und Depersonalisation, zeitweise chronisch. Seit dem 18. Lebensjahr Neigung zu Dissoziationen beobachtet. Diese bestehen wahrscheinlich schon seit der Kindheit (Missbrauch). Nach ihrer Arbeitsaufnahme im ersten Kindergarten hätten mehrere Personen ihr gestörtes Verhalten mitgetragen. Nach der Umsetzung in einen neuen Kindergarten hätten die Dissoziationen dermaßen überhandgenommen, dass es mehrfach zu heftigem Streit kam. Sie habe sich während solcher Zustände nicht wehren können.

Gespräch über ihre Kindheit. Die Eltern haben viel gestritten, der Vater habe getrunken und die Mutter geschlagen.


Die 16.3.93 Gespräch mit Hanna Leider

Simone ist ganz selbstverständlich und ohne Zeichen von Angst in das Zimmer der Therapeutin hereingekommen, nimmt ohne Zögern Platz. Beginnt sofort etwas monoton, manchmal stockend, zu sprechen:

„Das Gespräch gestern war echt anstrengend .... Ich hab’ schlecht geschlafen.“

„....?“

Eine Weile Schweigen. Ganz plötzlich redet sie los:

„Ich war gestern sauer auf Sie .... wegen der Fragen. Die haben mir nicht gefallen.“

„Was für Fragen?“

„ .... “

„Worum geht es?“

„Gemein .... mir so was vorzuwerfen!“

„Habe ich Ihnen etwas vorgeworfen?“

„ .... Ich soll schwach sein.... Gemein ist das!“

„Jetzt verstehe ich! Gut, dass Sie das so offen sagen konnten. Aber .... wenn ich Ihnen helfen soll, mit dem Leben fertig zu werden, muss ich das ansprechen, was nicht in Ordnung ist. Das tut manchmal auch weh. Aber das müssen Sie ertragen. Sie wollen doch, dass Ihre Angst abnimmt.“

Simone fühlt sich besänftigt und sagt fast entschuldigend:

„Früher habe ich noch nicht so viel Hass gehabt.“

„Auch den Hass können Sie nur überwinden, wenn Sie ihn verstehen.“

„Den werde ich nicht los, wenn ich weiß, dass ich meine Mutter hasse.“

„Das stimmt, so einfach ist das nicht. Dafür müssen Sie Ihre verschiedenen Ich-Anteile aufeinander zu bewegen.“

Simone runzelt zweifelnd die Stirn.

„Arbeiten heißt bei Ihrem Problem, die eigenen inneren Vorstellungen verstehen zu lernen. Sie können das, und ich helfe Ihnen dabei. Wir wollen beide unsere Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in Ihrem Inneren richten. Bei Ihren Träumen verstehen Sie auch schon einiges. Sie sehen unglücklich aus. Wovor fürchten Sie sich?“

„Dass das alles zu hoch für mich ist.“

„Das ist nicht hoch, sondern neu für Sie. Unser momentanes Thema heißt Dissoziation. Das ist ein abgespaltener Denkvorgang. Zuerst wollen wir uns darauf konzentrieren, unter welchen Umständen die Dissoziationen am häufigsten auftreten. Also, unter welchen Bedingungen kann man eine Dissoziation erwarten?“

„Davor bin ich nie sicher.“

„Sie haben erlebt, eine Dissoziation kann Sie jederzeit überfallen. Andererseits ist uns beiden klar, dass Sie sie manchmal herbeiwünschen und schon einige Schliche kennen, wodurch Sie leichter in diesen Zustand kommen.“

„Ich? Ach wo ....!“

„Erinnern Sie sich nicht an die dicken grünen Glasflaschen, die Sie so lange aneinander knallen, bis Sie weit weg sind? Oder die Bälle an die Wand schmettern – mit dem gleichen Effekt?“

„Ach so .... Ja. Das stimmt.“

„Dann müssen wir jetzt beide feststellen, dass Sie die Dissoziationen fördern können, also bewusst einsetzen können. Und was löst noch eine Dissoziation aus?“

„Ich weiß nicht.“

„Dazu stelle ich ein paar Fragen. Kommt diese Störung eher bei Langeweile, wenn Sie am liebsten schlafen würden oder eher, wenn Sie angespannt eine Lieblingsarbeit verrichten?“

„Wenn ich angespannt arbeite, tritt das nie auf.“

„Kommen die Zustände eher, wenn Sie sich freuen oder wenn Sie sich ärgern oder vor etwas Unangenehmen fürchten?“

„Nie, wenn ich mich freue. Sehr oft bei Ärger oder schlimmen Erlebnissen.“

„Wollen Sie die Dissoziationen los sein oder lieber weiter benutzen?“

„Hm .... Weiß nicht ....“

„Wenn Sie Ihre Ich-Schwäche überwinden wollen, dann müssen Sie die Dissoziationen aber loswerden.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ein Mensch hat gute und schlechte Seiten, auch jede menschliche Beziehung. Erst wenn Sie fertig bringen, zum Beispiel meine guten und meine schlechten Seiten zu verinnerlichen, miteinander zu verbinden und zu akzeptieren, dann brauchen Sie keine Aggressionen mehr gegen mich zu fürchten. Dann müssen Sie sich von meiner strengen Seite nicht mehr bedroht fühlen, weil Sie dann gleichzeitig wissen, ich bin gar nicht so böse. Jetzt nämlich haben Sie mich innerlich getrennt archiviert, einmal als die Gute und einmal als die Böse. Beide kommen Ihnen abwechselnd zu Bewusstsein. Ich bin ein ganzer Mensch mit guten und schlechten Seiten. So wie Sie auch. Stark wird Ihr Ich erst, wenn Sie mich und andere Menschen oder Tatsachen als Ganzes sehen. Können Sie mir folgen?“

„Ein bisschen schon.“

„Wir wollen uns in den nächsten Wochen auch auf die Integration entgegengesetzter Vorstellungen konzentrieren. Fast jede Realität hat zwei Seiten. Ich hoffe, ich kann Sie überzeugen.“

„Das kann ich mir nicht so richtig vorstellen.“

„Schade, dass wir gerade jetzt die Gespräche unterbrechen müssen. Vorige Woche habe ich Ihnen gesagt, dass ich zwei Wochen Urlaub habe. Frau Frühauf, die Psychologin der Station C, übernimmt meine Urlaubsvertretung bei Ihnen. Ich denke, Sie schaffen es, mit ihr weiterzuarbeiten.“

„Ich weiß nicht.... Dann schönen Urlaub.“ .... Will keine Vertretung.... Will nur mit ihr sprechen. Sie versteht mich.... Sonst niemand. Immer allein, immer verlassen .... Scheiße!

„Danke. Es tut mir leid. Sie sehen enttäuscht aus. Ich würde mich freuen, wenn Sie wenigstens die Tabletten und den Alkohol reduzieren könnten. Sie wissen, Auto fahren ist verboten.“ Pause. Hanna holt tief Luft. Ein Auftrag wird sie ablenken.

„Und in zwei Wochen möchte ich gerne wissen, was Sie so erlebt und gedacht haben. Würden Sie dazu etwas für mich aufschreiben?“ Hanna sieht Simone fest an.

„Ja.“

„Das war ja positiv!“ Langsam, zögernd:

„Ich habe Sie sehr gerne, ich werde sicher oft an Sie denken. Dann auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen.“


Mo 5.4.93

Hanna Leider hat sich beim Chefarzt aus dem Urlaub zurückgemeldet und geht beschwingt und erholt in ihr Zimmer. Roma aeterna. Machtruinen. Egal jetzt. Berge von Post. Sortieren. Ein Haufen Reklame, natürlich Pharmafirmen - weg. Ein Brief von der Krankenhausleitung. Nichts Eiliges. Gleich auf Station. Wie hat Simone, unsere Alpträumerin, meinen Urlaub verkraftet? Die Bindung war schon recht gut. Sie wird hart reagiert haben. Habe sie nicht rechtzeitig auf ihre möglichen Reaktionen vorbereitet. Als Therapeutin war ich keine hinreichend gute Mutter. Habe ein schlechtes Gewissen. Habe viel zu viel an sie denken müssen. Mein Über-Ich hat mich bestraft.

Nach der Begrüßung der Schwestern und dem vertretenden dicken Doktor Podaski berichtet Schwester Oda von Frau Maurer. Sie sei sehr ängstlich gewesen, aber täglich und einigermaßen pünktlich auf Station gekommen. Mehrmals am Tag lasse sie den Ball so lange an die Wand prallen, bis sie „weit weg“ sei. Vor ein paar Tagen sei Simone mit ihr in die Stadt gegangen. Sie seien etwa ein und eine halbe Stunde durch die Straßen gelaufen. Anschließend sei Simone nicht mehr ansprechbar gewesen.

„Wir machen jetzt erst einmal Visite. Anschließend kann Simone dann in mein Zimmer kommen.“


Gespräch mit Hanna Leider

5.4.93 11Uhr30 Schüchtern, vorsichtig und sehr langsam betritt Simone Maurer das Zimmer der Therapeutin. Begrüßung, aufkeimendes Lächeln. Spiegelbrücke. Auftauchen von Erleichterung und Vertrauen.

„Frau Maurer, ich freue mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?“ Pralles Muttergefühl, seltsam.

„Nicht so gut. Ich hatte viel Angst. Und hab’ den Ball immer solange an die Wand geworfen, bis ich nichts mehr gespürt habe. Wenn ich in die Kaufhalle gehe, an Menschen und dunklen Häusern vorbei, passiert es auch ohne Ball, dass alles weit entfernt ist.... Ich hab’ immer Angst und bin ganz doll aggressiv!“

„Ihre Angst und die aggressiven Impulse sind wohl wieder intensiver geworden?“

„Ja.“

„Weshalb?“

„Weiß nicht ....“

„Da reden wir noch drüber.“

„Ich habe viel an Sie gedacht.“

„Was haben Sie dabei gedacht?“

„Hm ....“

„Sie trauen sich nicht? Haben Sie sich gefreut, waren Sie niedergeschlagen oder wütend?“

„War traurig .... oder wütend.“

„Warum?“

„Weil Sie nicht da waren.“

„Die Trennung ist Ihnen also schwer gefallen?“

„Ja.“

„Und sonst?“

„Tabletten hab ich nicht so viel gebraucht.... Auto bin ich gefahren.... viel.“

„Haben Sie ein bisschen über unsere Gespräche nachgedacht?“

„Nnein.... “

„Haben Sie etwas über sich aufgeschrieben?“

„Nein.“

„Dann werden wir noch mal von vorn anfangen.“

„Bitte, nicht böse sein!“

„Bin ich böse?“ Hanna lächelt entspannt.

„Nee, jetzt nicht.“

„Natürlich nicht. Das war damals für Sie alles ziemlich neu. Wir wollen jetzt öfter gegen Ihre doppelte Buchführung üben. Aber zuerst erzählen Sie von sich.“

„Ich hab’ geträumt, es sei ganz doller Hagel, immer dichter.... Der Baum, auf dem ich rumkletterte, ging kaputt .... dann bin ich gestorben.“

„Verstehen Sie den Traum?“

„Kann ich verstehen, wovor ich Angst habe?“

„Ich glaube, es ist umgekehrt. Erst wenn Sie die Zusammenhänge verstehen, kann die Angst zurückgehen. Wir wollen gemeinsam versuchen, Ihren Traum zu entschlüsseln. Im Traum fallen die seelischen Hemmungen weg. Und, wie Sie schon wissen, beherrscht das Unbewusste die Bilder, die Symbole. Ihre Träume beziehen sich jetzt auf unsere Beziehung. Wäre es nicht möglich, dass Ihr Traum etwas mit mir und meiner Abreise zu tun hat? Versuchen Sie es herauszufinden!“

„....?“

„Was symbolisiert der Baum?“

„Sind Sie der Baum?“

„Vielleicht. Was an mir könnte der Baum denn symbolisieren?“

„Stütze.“

„Ja. Der Baum könnte für die Hilfe stehen, die Sie von mir erwarten. Und was geschieht mit dem Baum?“

„Der Baum geht kaputt.“

„Warum?“

„Weil Sie verschwunden sind.“

„Ja, Sie fühlten sich verlassen. Sie haben das nur nicht in Worte fassen können. Sie sagten vorhin, Sie waren traurig?“

„Ja.“

„Dieses traurige Gefühl hat Ihr Traum wiederholt.“

„Muss ich dann immer schlecht träumen, wenn.... Probleme da sind?“

„In gewisser Hinsicht ja. Wir träumen das Unerledigte, das nicht Verarbeitete.“

„Dann werde ich die Träume nie los.“

„Wenn sie durchgearbeitet und verdaut sind, verschwinden sie meist.“ Simones Träume symbolisieren die anstehenden Probleme ziemlich offen. Freud sah in ihnen den „Königsweg“ zum Unbewussten.

„Ich weiß nicht.... Ich habe mal ein Gedicht geschrieben.... Ich habe eine Maske vor.... das sind die Tabletten.... es war niemand da, der mich verstand.... Tabletten hatte ich immer.... Damals auf Station habe ich Faustan gestohlen.... An Faustan bin ich immer rangekommen.... meine ‚Narrenfreiheit’.“

Die Therapeutin denkt eine Weile nach.

„Was wollen Sie damit sagen?“

„....?“

„Faustan oder andere Tabletten, auch Alkohol, werden oft als Ersatz für das Fehlen einer nahen, positiven Person gebraucht. Unbewusst wollen die Tabletten-Nehmer damit ihre innere Leere überspielen. Haben Sie einen Menschen, der Sie mag, sich für Sie interessiert, für Sie da ist und Ihnen wichtig ist?“

„Nein, eigentlich nicht.... Meine Tochter.... meine Mutter.... trotzdem alles leer.... “

„Sie haben damals Ihr Problem poetisch verarbeitet. Tabletten als Maske. Können Sie mir das noch ein bisschen erklären?“

„Maske .... so als Schutz....

„Wovor?“

„.... Vor.... dem Leben.“

„Was gibt es noch für einen Schutz?“

„Weiß nicht.“

„Menschen. Freundschaft und Liebe von anderen Menschen.“

„Sie möchte ich als Freundin haben!“

Verständlich, so ein Wunsch. Geht aber nicht. Würde ihr auf Dauer nicht helfen. Ich muss Neutralität bewahren. Wie mach ich ihr das klar? Ironie, aber nur eine Spur.

„Schön, dann hätte ich keine Verantwortung mehr und könnte nett mit Ihnen plaudern! Und wer soll sich dann um die Therapie kümmern? Therapeutischer Auftrag und Freundschaft sind nicht in einer Person verfügbar. Sympathie von beiden Seiten hilft aber, die Strapazen so einer Therapie besser zu ertragen.“ Pause. Hanna befällt ein Gefühl von innerer Abwehr. Bin ich gemein oder nur unfreundlich? Nein, entweder Therapeutin oder Mutter. Schwierige Situation!

„Als Therapeutin bin ich zu Neutralität angehalten. Mein Ich ist dazu da, Ihnen als feste und neutrale Brücke in die Welt zu dienen.“

„....! “ Hab es ja gewusst.... Sie will mich nicht. Niemand!

„Sind Sie jetzt enttäuscht?“

„Entschuldigung.... Sie haben.... Recht.“

„Ich habe großes Vertrauen zu Ihnen. Sie werden es schaffen! Über die Spaltungen und wie Sie helfen können, sie zu überwinden, müssen wir aber noch oft miteinander reden.“ Hanna hat langsam gesprochen, zögernd. Verständlich, dass in so einer Beziehung mehr verlangt wird als der Therapeut geben kann. Grenzüberschreitung. Wie wird sie mit dieser Frustration fertig? Das müssen wir durcharbeiten.


Die 6.4.93 Gespräch mit Hanna Leider

„Das Gespräch gestern hat mich sehr belastet.... Ich konnte nicht einschlafen.... so um zwei in der Nacht bin ich losgefahren.... alles war weit weg.... Dann war die innere Unruhe wieder da.... Dann habe ich stundenlang Flaschen zusammengeknallt.... Den Ball an die Wand gedonnert.... bis wieder alles weit weg war.“

„Sie haben also wieder ‚Abspaltung’ trainiert?“

„Na ja, ich gebe es zu.“

„Was genau haben Sie dabei erlebt?“

„Willenlosigkeit.... Alles gedämpft.... die Angst ist ganz weit weg.... dann fühl’ ich mich leer und erschöpft.“

„Was hat Sie in unserem gestrigen Gespräch so erregt?“

„Der Traum.“

„Ihr Traum von dem Baum?“

„Mh....“

„Es geht um Ihre Beziehung zu mir.“

„ .... “

„Was ist los?“

„ .... “

„Habe ich Sie gestern enttäuscht?“

„Hm.... ja.“

„Wovon genau sind Sie enttäuscht?“

„Sie wollen mich nicht!“

„Wir haben viele Gespräche zusammen. Da müssen wir beide hart arbeiten. Reicht das nicht?“

„Ich bin fast immer allein.... “

„Meine Aufgabe ist, Ihr Ich zu stärken.“ Hannas Stimme wird sehr vorsichtig, zart: „Nicht, mit Ihnen schöne Stunden zu verbringen. Das ist unsere Realität. Die Therapie im Hier und Jetzt ist für Sie wertvoller als eine Freundschaft.“ Hanna blickt forschend, freundlich besorgt auf Simone.

„An so was hab ich nicht gedacht.... “

„Die Therapie ist auch dazu da, mit diesen täglichen Enttäuschungen in Zukunft besser fertig zu werden.“

„ .... “

„Sie haben vorhin den Traum erwähnt.“

„Ja, ich habe aus Angst vorm Träumen nicht geschlafen ...., eigentlich fast immer.“

„Haben Sie noch andere Träume?“

„Am häufigsten träume ich, ich sei eine kleine Erbse in einem großen, dunklen Raum und werde von einer großen Kugel erdrückt.... oder es kommt eine Hand auf mich zu, die Finger sind Messer.... Die Hand bedroht mich.... Oder ich töte und zerstückele einen anderen Menschen und wache schweißgebadet auf.... Ich habe Angst, dass mir dasselbe passiert.“

„Wie lange schon haben Sie diese Horrorträume?“

„Schon als Kind.“

„Dann schleppen Sie Hass und Aggressionen also schon viel länger mit sich herum?“

„Kann sein.... “

„Wenn dieser Traum immer wieder kommt, könnte er ein wichtiger Schlüssel zu Ihrem Kernproblem sein.“

„Heute bitte nicht.“

„Die Stunde ist auch um. Wir müssen beim nächsten Mal darüber reden.“


Hannas Kladde

6.4.93 22Uhr Urlaub - unnötige Unterbrechung einer therapeutischen Beziehung. Therapeutische Gemeinschaft! Patienten mit in Urlaub nehmen? Utopie der 60er Jahre. Und eben nach der Rückkehr noch eine Frustration. Meine professionell bedingte Zurückweisung hat Simone gekränkt und extrem beeinträchtigt. Haben meine Argumente wenigstens gereicht, ihren beobachtenden Ich-Anteil zu aktivieren?

Andererseits ist Simone in den letzten Wochen überhaupt leicht zu irritieren. Sie blockt viel ab, schaltet auf Dissoziation. Reißmaschine. Diese hält ihr Ich klein und schwach. Allmählich wird sie begreifen, dass die Spalterei schadet. Aber wie kommt sie dahin, den Knipser wirklich abschalten zu wollen? Wir haben nur ihre Beziehung zu mir. Ihr immer wieder vorführen, dass sie mich spaltet und in dissoziierten Ich-Anteilen doppelt speichert. Noch ist ihr unreifes Ich zur Synthese von „guten“ und „bösen“ Eigenschaften kaum fähig. Dauerfrustration, Gewalt und Missbrauch in der Kindheit haben die Dissoziationen zu dem einzig erträglichen Abschaltzustand werden lassen. Natürlich müssen die andauernden Spalt-Manöver zur Behinderung des sozialen Lernens führen. Erst verzerrtes Erleben und dann zerteiltes Aufbewahren. Für jeden Moment müssen die Einzelteile mühsam und immer mit anderen Vorzeichen neu zusammengesetzt werden. Welche Anstrengungen! Besonders für die ununterbrochen lernenden Kinder.

Zu Schwester Oda hat Simone ein relativ großes Vertrauen. Wir wissen, dass sie sie dazu idealisieren muss. Denn sie vermag sie nur dann als „Beschützerin“ für sich einzusetzen, wenn sie ausschließlich „gute“ Eigenschaften an ihr wahrnimmt. Mir gegenüber ist Simone oft ablehnend oder wütend. Gerade eben hat sie meine Freundschaft haben wollen. Was war das? Sympathie, Probe auf Vertrauen oder Abwehr? Wenn sie nichts von den Dingen macht, die ich ihr auftrage oder worum ich sie nur bitte, dann ist das Abwehr. Und Misstrauen. Und die getrennte Aufbewahrung meiner Person in ihrer inneren Vorstellung als zwei entgegengesetzte Unterpersonen. Die Gute und die Böse. Damit wird sie nur fertig, wenn sie trickst. Muss das immer wieder ansprechen. Hartes pädagogisches Trockenbrot. Und das Agieren! Kernberg empfiehlt, eine Therapie unter unrealistischen Bedingungen gar nicht erst anzufangen. „Unrealistisch“ ist die Umschreibung für gewichtige Mängel im Arbeitsbündnis, nämlich Mangel an Ehrlichkeit und absichtliches Zurückhalten von Vorstellungen. Auch das werde ich zur Sprache bringen müssen.

Zwanghaft, wie ich das alles aufzähle! Ich bekenne, das ist die Furcht, ich könnte etwas falsch machen. Furcht macht wenigstens vorsichtig. Wichtiger sind die Gefühle. Bei jeder Begegnung braucht sie längere Zeit, um wieder Vertrauen zu mir zu fassen. Sie ist dann ganz offen. Spiegeln lernen. Lächelspiegel. Vertrauensspiegel. Spiegelneurone aktivieren. Es schadet nicht, wenn die Stunde überzogen wird, schon allein, um die Spiegelprozesse zu festigen, Spiegelbrücken, die verstimmte Mütter dem Säugling nicht bauen können.

Zerbrechliche Ichbrücken

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