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2. Am Hades lungern

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Mo 1.3. 93 Gespräch mit Dr. Hanna Leider

Hannas Arztzimmer geht nach Norden, Kammer nennt sie den knappen Raum oder auch Stall. Neben einem schmalen Schrank, einem Holzregal voller Bücher und einem winzigen Tisch, der mit Stößen von Krankenblättern, Zeitschriften und unregelmäßig gestapelten Arbeitsblättern bedeckt ist, bleibt kaum Platz für Schreibtisch, Sessel und zwei Besucherstühle. Die grün-gelb züngelnde Maranthe auf dem Fensterbrett und eine verblichene Bleistiftzeichnung an der Wand über dem Schreibtisch mildern die Krankenhausatmosphäre. Hanna sitzt am Schreibtisch, die Unterlagen der neuen Patientin Simone Maurer in der Hand. Sie konzentriert sich auf ihren ersten Eindruck von der Patientin. Äußerlich unauffällig, schüchtern, verängstigt wie ein Kind in fremder Umgebung. Allerdings kann sie auch ein werbendes Lächeln aufsetzen. Hat schon einige Therapien hinter sich. Vermutlich eine harte Nuss. Die Diagnose der einweisenden Kollegin scheint fundiert: Frühe Störung, Borderline-Syndrom. Um sicher zu sein, muss ich noch mindestens drei Eigenschaften erfahren.

Simone Maurer ist inzwischen hereingekommen und hat im Besucherstuhl rechts gegenüber von Hanna Platz genommen.

„Ihre behandelnde Ärztin, Frau Dr. Hille, hat Sie wegen Medikamentenabhängigkeit und wegen Ihrer immer wieder geäußerten Selbstmordgedanken stationär eingewiesen. Weshalb wollten Sie einer vollstationären Behandlung nicht zustimmen?“

„Angst.“

„Wovor Angst?“

„Dass die mich zwingen... “

„Besser wäre schon die vollstationäre Behandlung in einer Klinik für Psychotherapie. Für eine Korrektur Ihrer Symptome brauchten Sie Schutz und Betreuung rund um die Uhr. (Pause) Ich will versuchen, teilstationär mit Ihnen zu arbeiten. Wenn in absehbarer Zeit ein Erfolg ausgeblieben ist, muss ich Sie an eine Psychotherapieklinik mit einem Spezialprogramm überweisen. Sind Sie damit einverstanden?“

„Nein.“

„Was hätten wir dann für eine Alternative?“

„Weiß nicht.“

„Die habe ich leider auch nicht.“

„Kommt dann Entlassung?“

„Es sieht so aus.“

„....“ Pause.

„Sind Sie böse?“

„Bin ich böse?“

„.... “

„Wann sind Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben auf die Idee gekommen, sich das Leben zu nehmen?“

„Ungefähr mit 16 .... da merkte ich, dass ich nicht mehr zurecht kam... da hatte ich oft keine Hoffnung mehr.... Da war alles grau und mies. Und mit 17 .... da habe ich den Gashahn in der Küche aufgedreht.... Schon lange habe ich nichts so sehr gehasst wie meine Eltern.... Mich wollte ich auch gleich umbringen.... Meine Mutter hat das Gas entdeckt.... Mein Vater war um die Zeit schwer betrunken.... Er glaubt bis heute, dass er es war.“

„Das ist alles sehr traurig. Aber es klingt auch ein bisschen so, als würden Sie sich freuen, Ihren Vater ausgetrickst zu haben.“

Ein Grinsen huscht über Simones Gesicht: „Vielleicht.“

„Ein versuchter erweiterter Selbstmord. Ungewöhnlich in diesem Alter. Was hat sich in Ihrem Leben damals so Schwerwiegendes zugetragen, dass Sie außer sich gewesen waren und zu einem so extremen Mittel greifen mussten?“

„Hass.“

„Hass ist die Folge von etwas. Hass auf wen?“

„Meine Eltern.“

„Was hatten Sie denn Ihren Eltern damals vorzuwerfen?”

„Mein Vater hat getrunken und meine Mutter und mich oft geschlagen, wenn er betrunken nach Hause kam.... Meine Mutter hat mich immer nur bestraft.... , auch wenn ich keine Schuld hatte.... oder wenn ich Hilfe brauchte.“

„Haben Sie noch öfter versucht, sich das Leben zu nehmen?“

„Ja .... Ich hatte mal einen Wellensittich. Er war wie ein vertrauter Freund. Dem habe ich alles erzählen können. Tiere sind nicht so gemein wie Menschen. Als er gestorben war.... ganz plötzlich .... ich fand ihn frühmorgens tot im Käfig liegen.... Da habe ich auch nicht mehr leben wollen. Da habe ich alle Tabletten geschluckt, die ich finden konnte. Meine Mutter hat aber was gemerkt und eine Ärztin geholt.... Das gab ein langes, echt langes Gespräch alleine mit der Ärztin.... Da habe ich mich leichter reden können. Vielleicht hätte ich alles sagen sollen. Aber .... danach ging es wieder.“

„War es das erste Mal in Ihrem Leben, dass Sie eine echte und intensive Zuwendung erfahren haben?“

„Ich glaube, ja.... Aber irgendwann, da war wieder alles aus.... Da bin ich von einer Eisenbahnbrücke gesprungen.... auf einen fahrenden Zug.... Der war mit Getreide beladen und offen.... “ und schief grinsend, ironisch singend fährt sie fort: „Da bin ich ganz .... weich gefallen.... Habe mir nur die Beine verstaucht.“

„Wie Sie das so leichthin sagen. Als wäre es ein Spiel mit dem Tod gewesen.“

„Ich weiß nicht.“

„Wie war es in den Jahren danach bis jetzt?“

„Später hatte ich eine Ärztin, zu der ich jahrelang gegangen bin, Frau Dr. Bornemann. Sie war für mich wie eine Mutter. Solange sie für mich da war, ging es mir gut. Ich war auch privat bei ihr zu Hause. Ich glaube, für sie war ich wie eine Tochter. Vor 2 Jahren ist sie fortgezogen. Ein halbes Jahr habe ich durchgehalten. Dann war alles wieder so durcheinander wie früher.“

„Sie brauchen eine Ersatzmutter wie ein Kind?“

„Mmh .... ja .... Ich glaube.... “

„Und wie war es in den letzten Monaten?“

„Wenn ich allein bin, treibt mich die Angst, besonders nachts. Ich steige ins Auto und fahre mit 150 Sachen die Autobahn Richtung Rostock.... Oder ich klettere auf einen hohen Turm und stelle mir vor hinunter zu springen.... Aber ich bin zu feige.“

„Seitdem Sie tagsüber bei uns sind, lenkt Sie das ab?“

„Am Tage ja .... aber .... zum Beispiel gestern Abend war die Angst so groß, dass ich meine

Tochter allein gelassen habe.... Bin bis heute Morgen um vier durch die Gegend gefahren. Habe ne ganze Tankfüllung leergefahren. An der Tankstelle in der Nähe von Frankfurt/O muss ich mit einem Messer in der Hand bezahlt haben. Bin weggefahren und bemerkte das Messer erst, als ich 130 Stundenkilometer draufhatte.... Das war die Angst, die ich vor allem habe, auch vor Frauen.... Beim Tanken habe ich gedacht.... Den Hahn laufen lassen, immer laufen .... alles daneben .... sinkt ein in die Erde .... dann gäbe es einen tollen Knall, und alles ist weg, ich auch .... Keine Verantwortung mehr, keine Angst .... das Dunkel erobern, das zu mir gehört.... Jetzt müssen Sie zu mir sagen, dass ich an mein Kind denken soll, dass es mich braucht.... Amen .... Schon hundertmal gehört!“ Während der letzten trotzigen Worte sieht Simone verachtungsvoll zur Seite. Hanna Leider beachtet weder Trotz noch Abwehr, sondern interessiert sich für die mystische Wortwahl: „Was meinen Sie mit ‚Dunkel erobern’?“

„Ich habe Sehnsucht nach der dunklen Tiefe... nach meiner Großmutter, die mich ruft.... Ich möchte beschützt werden, Ruhe haben.... Da wäre Frieden für mich.“

„Meinen Sie, wenn Sie das ‚Dunkle’ sagen, den Tod?“

„Ja.“

„Was verbinden Sie denn mit dem Tod?“

„Ruhe und Frieden.“

„Das klingt positiv. Aber bedenken Sie auch, dass der Tod irreversibel ist, dass mit dem Tod die Existenz ausgelöscht ist und Sie Ihre Jana dann nie wieder sehen, fühlen und trösten können.“

„Ich weiß nicht. Meine Großmutter lebt irgendwie. Ich höre sie oft rufen.“

„Wenn Ihre Großmutter gestorben ist, dann existiert sie nicht mehr.“

„Sie liegt im Grab und wartet auf mich.“

„Sie ist begraben worden, sie lebt nicht mehr. Sie haben früher recht gut verstanden, dass Ihr Wellensittich tot war. Warum können Sie das bei Ihrer Großmutter nicht anerkennen?“

„Sie gehörte zu den Zeugen Jehovas .... sie hat mir viel erzählt. Irgendwie denke ich, dass es sie noch gibt.“

„Hängt das mit dem Glauben Ihrer Großmutter zusammen?“

„Ja.“

„Hat sie Sie von ihrem Glauben überzeugt und heimlich taufen lassen?“

„Nein, ich gehöre nicht dazu. Aber ich denke immer, sie kann mich doch nicht angelogen haben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie sprach von einer ‚neuen Welt‘. Ich weiß nicht so genau, was das ist.“

„Wegen einer Patientin, die durch ihren Glauben in eine schwere Krise geraten war, musste ich mich mit den religiösen Vorstellungen und der Organisation der Zeugen Jehovas befassen. Nachdem ich einiges gelesen hatte, konnte ich die Patientin besser verstehen. Die Zeugen Jehovas gehören zu den problematischen Sekten mit extremer Beeinflussung des Privatlebens ihrer Mitglieder. War das Leben Ihrer Großmutter gänzlich vom Glauben bestimmt?“

„Ja, vorwiegend.“

„Sie wissen, dass die Sekte in der DDR verboten war?“

„Natürlich, ja.“

„Das hat das Leben Ihrer Großmutter sicher nicht leichter gemacht. Die Zeugen haben hier in der Illegalität gelebt und Angst vor Entdeckung gehabt; denn sie wurden hart bestraft. Andrerseits - überall in der Welt müssen die Mitglieder für die Sekte große Opfer bringen, sonst werden sie vom Vorstand, der Wachtturmgesellschaft, ‚mangelnder Wertschätzung‘ bezichtigt. Opfer an Zeit, Arbeitskraft und Geld: ständiges Lernen der neusten Bibelauslegungen, ständiges Predigen an den Türen zum Werben neuer Mitglieder, ständige Versammlungen, viel Lesen von zahlreichen und immer neuen Traktaten, die sie auch noch kaufen und wieder verkaufen müssen. Gleicht einer Ganztagsbeschäftigung mit Überstunden.“

„Das stimmt, meine Großmutter hatte nicht viel Zeit, als ich ein kleines Kind war.“

„Hat Ihre Mutter Ihnen erzählt, ob sie als Kind immer mit in die Versammlungen musste oder viel allein war?“

„Ich glaube, sie war sehr viel allein.“

„Hat Ihre Großmutter versucht, Ihre Mutter taufen zu lassen und als aktives Mitglied zu

erziehen?“

„Meine Mutter hasste das alles und hat nicht mitgemacht. Sie war streng zu mir, aber sie hat viel Zeit mit mir verbracht.“

„Es wäre also möglich, dass Ihre Mutter Ihnen eine bessere Kindheit geben wollte als sie selbst eine hatte. Können Sie sich das vorstellen?“

„Eigentlich nicht.“

„Ist es ihr wenigstens gelungen, Ihnen das Alleinsein zu ersparen?“

„Das ja. Aber sie verstand mich nicht. Meine Mutter war immer hart und streng zu mir.“

„Ihre Mutter hat wohl nicht viel Zuneigung von ihrer Mutter erfahren, hat nicht gelernt, Gefühle aus sich herauszuholen und zuzulassen und schon gar nicht, sie auch zu zeigen.“

„Das könnte wahr sein.... Komisch .... da bin ich nicht drauf gekommen, dass das zusammenhängen könnte.“

„Die Sektenorganisation ist unmenschlich konsequent. Damit die ausgebeuteten Mitglieder bei der Stange bleiben, werden sie von den anderen Mitgliedern und den Vorgesetzten scharf kontrolliert. Bei Versäumnissen gibt es Mahnungen. Kritik am Vorstand ist verboten, kommt Gotteslästerung gleich und wird mit Ausschluss geahndet. Ausschluss ist die härteste Strafe, denn dann darf man am Tag des Weltuntergangs nicht in die ‚neue Welt‘ auferstehen, sondern muss sterben wie die Ungläubigen. Der Druck auf die Mitglieder ist so groß, dass alle ihre Familien, vor allem die Kinder vernachlässigen, weil sie die vielen Aufgaben nicht bewältigen können.“

„Das habe ich nicht gewusst.“

„Ich auch nicht. Aber dieses Wissen stammt von ehemaligen Mitgliedern, die es geschafft haben, die Organisation zu verlassen und darüber Bücher geschrieben haben. Ich weiß nicht, ob Sie erfahren haben, dass die Zeugen Jehovas Angst vor dem Tod hatten und auf die Endzeit mit Auferstehung warteten. Ich vermute, Sie haben den Eindruck bekommen, Ihre Großmutter sei in einem Paradies und winkt, kann das sein?“

„Irgendwie so ähnlich.“

„Das ist ein Missverständnis. Die Endzeit, der Weltuntergang, wurde immer wieder neu berechnet, zuletzt für 1914. Seitdem das nicht eintraf, ist der Vorstand vorsichtiger geworden und gibt kein Datum mehr an. Die Idee der Auferstehung sollte die Mitglieder fest an die Gesellschaft ketten.“

„Ach, irgendwie verrückt.“

„Mit dieser Verrücktheit macht die Sekte Geschäfte.“

„.... “

„Nun aber wieder zu Ihnen. Wenn Sie Ihre Probleme miteinander vergleichen, welches drückt Sie am häufigsten?“

„So schnell kann ich das nicht sagen.“

„Können Sie das Leben so akzeptieren wie es ist?“

„....?“

„Werden Sie auch mal enttäuscht?“

„Eigentlich immer.“

„Wie gehen Sie mit einer Enttäuschung um?“

„Verstehe ich nicht.“

„Was machen Sie, wenn Sie enttäuscht sind?“

„Ich bin wütend. Verkrieche mich.“

„Leider ist die Stunde heute um. Aber beim nächsten Termin wollen wir uns darüber unterhalten, wie man mit einer Enttäuschung fertig werden kann. Versuchen Sie, bis dahin darüber nachzudenken!“


Arbeitsnotizen in Hannas Kladde

Nachdem Simone Maurer aus der Tür ist, nimmt Hanna Leider ein abgenutztes Notizbuch aus der Kitteltasche. Muss mich beeilen, gleich Ärztekonferenz:

Mo 1.3.93 Bisher nur zwei Borderliner selbst behandelt. Das machten sonst Kollegen der Psychotherapie-Station, die wegen Stasi-Tätigkeit eines Therapeuten plötzlich aufgelöst wurde. Welche Intrige diente wessen Interessen?

Ohne Vorwissen wäre Simones Störung nicht zu verstehen. Vorwissen auch nur so hell wie eine Taschenlampe in einer riesigen Seelenhalle voller Psycho-Bruchstücke. Schwieriger Kontakt. Kein Mitschwingen. Sie ist einem nicht nahe, nicht fassbar. Da ist mir gegenüber etwas Wesenloses. Vermisse Festigkeit in der Meinung. Immer Ungewissheiten. Identität vermutlich nicht oder schattenhaft angelegt. Dazu Simone M. einiges fragen. Bei Otto F. Kernberg nachlesen. „Als-Ob“- Persönlichkeit (Helene Deutsch 1942). Borderline eben. Irrlichterei zwischen allen Diagnosen der Psychiatrie. Symptome flüchtig. Selbstzerstörerische Ich-Passion. Für Therapeuten immer schwierig. Simone hat uns durch ihre unverhüllte Suizidalität gezwungen, sie stationär aufzunehmen. Und auch noch zu ihren Bedingungen!

Muss es wagen, die Behandlung ohne Supervision zu machen. Verlasse mich auf die Schwestern unserer Tagesstation, seit langem die besten Kotherapeutinnen. Werde Simone M. teilweise den hospitierenden Psychologinnen anvertrauen. Waren bisher gut motiviert und brauchbar ausgebildet. Gemeinheit, sie ohne Bezahlung bei uns arbeiten zu lassen!

Basiswissen über Borderline bei Christa Rohde-Dachser, moderne mikroskopische Präzision bei O. Kernberg. Nur in dieser Reihenfolge! Kernberg, vielleicht ein „Preuße“ in New York, hat mir in seinen Schriften neue theoretische Bezüge klargemacht, brilliert mit Gründlichkeit. Wieder zu Rate ziehen. In diesem Haus kann mir bei Simone niemand helfen.

Mache mir Sorgen um Simone, um ihre Zukunft. Welche Chancen hat sie? Werde sie immer wieder motivieren müssen. Hat nicht viele Reserven. Scheint leicht frustriert. Verzerrtes Erleben. Muss ihr beistehen. Wenn nur keiner auf die Idee kommt, die Diagnose Schizophrenie zu stellen, unsere beliebteste Fehldiagnose!

Zerbrechliche Ichbrücken

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