Читать книгу Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit - Hiltrud von Spiegel - Страница 9

Оглавление

1Das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit

Das erste Kapitel thematisiert Strukturelemente des Handlungsfeldes, auf die sich das methodische Handeln bezieht. Diese konstituieren den Kontext, innerhalb dessen sich die Soziale Arbeit vollzieht. Im ersten Teilkapitel (Kap. 1.1) werden vorwiegend gesellschaftliche Faktoren wie Aspekte der historischen Herausbildung des Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit und deren Position im Kanon der sozialstaatlichen Aufgaben skizziert. Die gesellschaftliche Funktion wird von Wissenschaftlerinnen vielfach analysiert, bewertet und in Theorien der Sozialen Arbeit überführt. Das spiegelt sich in Vorschlägen für einen spezifischen Gegenstand der Sozialen Arbeit, auf den sich ➔ Disziplin und Profession beziehen können und der zur Ausbildung einer beruflichen Identität der Berufsangehörigen beitragen kann, wider. Im zweiten Teilkapitel (Kap. 1.2) werden die Besonderheiten der beruflichen Tätigkeit charakterisiert, die sich als gesellschaftlich organisierte, institutionalisierte Hilfe zwischen den beiden Polen der sozialstaatlichen Auftragserfüllung und der Bearbeitung individueller Problemlagen bewegt. Sie kann nicht auf Technologien zurückgreifen und ist daher im höchsten Maße auf eine dialogische Verständigung und eine ➔ Koproduktion mit ihren Adressaten angewiesen. Im vorliegenden Buch werden diese Besonderheiten als „Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur“ bezeichnet, auf die das methodische Handeln abgestimmt sein muss.

1.1Gesellschaftliche Aufträge und disziplinäre Positionen

Das vorliegende Kapitel skizziert die historische Herausbildung des heterogenen Handlungsfeldes (Kap. 1.1.1) und thematisiert anschließend die Bedeutung und die spezifischen Schwierigkeiten, Funktion und Gegenstand der Sozialen Arbeit zu bestimmen. Um den Nutzen solcher theoretischen Arbeiten für die Klärung des Selbstverständnisses von Professionellen zu verdeutlichen, wird je eine gegenwärtig einflussreiche Funktions- und Gegenstandsbestimmung in ihrem theoretischen Kontext vorgestellt (Kap. 1.1.2).

1.1.1Historische Herausbildung des Handlungsfeldes

Die Abgrenzung der Sozialen Arbeit zu anderen sozialen Berufen fällt schwer, und auch die Berufsbilder der verwandten Berufe (Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Diplompädagoge, Erzieherin, Sozialtherapeutin, Heilerziehungspfleger u. a.) überschneiden sich. Das gesamte Handlungsfeld bildet keinen systematisch strukturierten Bereich, sondern ist aus verschiedenen „Wurzeln“ und Traditionen zusammengewachsen, die im Folgenden kurz dargestellt werden.

Herausbildung staatlicher Institutionen

Institutionen und methodische Vorgehensweisen der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik haben sich im Zusammenhang der modernen Gesellschaft herausgebildet (Thiersch 1996; Münchmeier 2018). Mit der Weiterentwicklung der Produktionsformen entstanden neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und neue soziale Ungleichheiten. Parallel und immer auch in Reaktion auf diese Entwicklungen entzündeten sich Proteste (z. B. die Arbeiterbewegung), die gewachsene Herrschafts- und Produktionsverhältnisse bedrohten und die Angst vor sozialen Unruhen schürten. Um die individuellen Folgen für die arbeitenden Menschen (z. B. mangelnde Ausbildung, Verelendung, Deklassierung) und auch die gesellschaftlichen Folgen (soziale Unruhen) abzufedern – und nicht zuletzt, um den wachsenden Ansprüchen der Industrie an die Qualifikation der Arbeitskräfte gerecht zu werden – wurden dem Staat als „Vermittlungsinstanz“ zwischen Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr Aufgaben übertragen. Folgende Tendenzen lassen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verzeichnen:

Der Staat definierte sich als Sozialstaat mit dem Anspruch, den Bürgern Gleichheit, Freiheit und Solidarität zu ermöglichen.

Die Gesellschaft akzeptierte nach und nach bestehende Probleme als gesellschaftlich zu bearbeitende Aufgaben und entwickelte rechtliche, institutionelle und professionelle Konzepte für deren Bewältigung.

Die sozialstaatliche Bearbeitung der Probleme und Aufgaben wurde schrittweise rechtlich festgeschrieben und von gesicherten Institutionen und wissenschaftlich fundierten Berufen wahrgenommen.

Zeitlich versetzt bildeten sich folgende Institutionen heraus:

Der Staat organisierte und finanzierte das schulische Ausbildungssystem, um den differenzierten Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden.

Im Hinblick auf vorhersehbare Grundrisiken in verschiedenen Lebenslagen (Krankheit, Unfall, Altersversorgung, Arbeitslosigkeit, Verelendung und Pflegebedürftigkeit) etablierten sich die Sozialversicherungen, die auf der Basis einer individuell erworbenen Anspruchsberechtigung agieren.

Hinzu kam die Sozialhilfe im engeren Sinne als materielle Unterstützung derjenigen, die von diesen Versicherungssystemen nicht erfasst werden.

Unvorhersehbare und unversicherbare Risiken der Lebensführung wurden und werden zunehmend durch personenbezogene Hilfen der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik bearbeitet (Thiersch 1996).

Dies wird von Sachße/Tennstedt (1991) als „Doppelstruktur des Sozialstaates“ beschrieben: die Sozialpolitik ist für die Absicherung der Lebensrisiken sowie auch sozial gerechte Chancen zuständig, während die Soziale Arbeit sich auf personenbezogene Dienstleistungen konzentrieren kann (n. Münchmeier 2018).

Annäherung der Traditionen

Sozialarbeit und Sozialpädagogik blicken auf unterschiedliche Traditionslinien zurück: Ausgangspunkt der Sozialarbeit war die massenweise materielle Verelendung der Arbeiter im Zusammenhang mit der Industrialisierung. Armut galt zuvor als ein gesellschaftlicher Status, der auf Unterstützung angewiesen war und von den Armen Demut und Abhängigkeit forderte. Im Kontext sozialer Bewegungen veränderte sich dieser Status zögerlich und immer auch mit Einschränkungen zugunsten eines Anspruches auf Hilfe durch die Gesellschaft. Sozialarbeit etablierte sich nach Thiersch (1996) als Hilfe zur Selbsthilfe angesichts materieller Verelendung, als Unterstützung und Beratung bei psychosozialen Problemen und der Alltagsgestaltung sowie als Förderung und Stabilisierung in menschenwürdigen Verhältnissen. Das Armutsproblem wurde insofern pädagogisiert, als dass man die Probleme der Armen „als Störungen der Entwicklung, des Lernens, der Motivation oder Moral“ definierte (Münchmeier 2018, 532). Die Sozialarbeit sollte eine Verhaltensänderung der Armen bewirken, damit sie ihre Probleme selbst lösen könnten – wodurch dann auch das Phänomen der Armut verschwände.

Die Sozialpädagogik entstand im mittelalterlich-frühneuzeitlichen Waisenwesen in Form von Konzepten der Armenerziehung. Thiersch (1996) kennzeichnet die Sozialpädagogik mit Bezug auf Natorp und Nohl als gesellschaftliche Reaktion auf die „Entwicklungstatsache“, also auf das Phänomen, dass Menschen in ihrem Heranwachsen unterstützt werden müssen. Daraus ergab sich ein Anspruch auf Erziehung und Bildung, insbesondere für Kinder in belasteten Lebensverhältnissen. Im Gesamtrahmen der allgemeinen Erziehung/Pädagogik entwickelte sich die Sozialpädagogik als Unterstützung bei der Bewältigung von Anpassungs- und Normalitätserwartungen der Moderne und als Hilfe für das Individuum bei der Entfaltung seiner Bildungs- und Entwicklungschancen.

Verbindung der Traditionen

Die eigenständigen Traditionen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik näherten sich einander und verbanden sich in den 1960er Jahren. Der Begriff „Soziale Arbeit“ bestätigt das Ergebnis dieser Entwicklung, denn

Sozialarbeit als Arbeit mit materiell Verelendeten befasst sich zwangsläufig mit Problemen der Entwicklung von Handlungs- und Bewältigungskompetenzen der Betroffenen, wie sie auch in der Erziehung und Bildung diskutiert werden, und

Sozialpädagogik blickt stärker auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die für Erziehung und Bildung vorausgesetzt werden müssen und auch auf allgemeine Fragen der Hilfe, Unterstützung, Beratung und Förderung (Thiersch 1996).

zusätzliche Aufgaben für die Soziale Arbeit

Die unter diesen Aspekten gewachsene Soziale Arbeit gewann zusätzlich Bedeutung durch die Vergesellschaftung weiterer Lebensbereiche sowie den Trend zur Individualisierung der Lebensführung und zur Pluralisierung der Lebenslagen (Beck 1986). Diese Entwicklungen bergen neue Chancen, aber auch neue Belastungen für die Menschen. Die Aufgaben der Lebensbewältigung werden anspruchsvoller, schwieriger und riskanter. In einer sich individualisierenden Gesellschaft kann prinzipiell jeder an der Bewältigung seiner Lebensaufgaben scheitern, und die generellen Risiken des Lebens können unabhängig von Schichten und gesellschaftlichen Gruppen Krisen und Hilfebedarf auslösen. Neben den herkömmlichen Aufgaben der Sozialarbeit (im Kontext von Armut, Verelendung und Ausgrenzung) und der Sozialpädagogik (als Erziehung und Bildung in belasteten Verhältnissen) gibt es nun auch Angebote der Unterstützung und Beratung bzgl. der alltäglichen Schwierigkeiten der Lebensgestaltung und -bewältigung. Die Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit expandieren seit den 1970er Jahren und differenzieren sich immer noch weiter aus (Übersicht in Bieker/Floerecke 2011).

Soziale Arbeit als Teilbereich der Sozialpolitik

Soziale Arbeit ist heute ein „notwendiger und selbstverständlicher Bestandteil der modernen sozialen Infrastruktur“ (Thiersch 1996, 11). Sie agiert als Teil der Sozialpolitik im Zusammenhang der o. g. Hilfe- und Unterstützungssysteme, die auf unterschiedliche Weise zur Bewältigung heutiger Probleme der Lebensgestaltung beitragen. Ihre spezifischen Zwecke und Aufgaben werden im jeweils gegebenen politischen und finanziellen Rahmen ausgehandelt: Beispielsweise hatte in der Nachkriegszeit (ausgehende 1940er sowie 1950er Jahre) die wirtschaftliche Hilfe absoluten Vorrang, während in Zeiten des „Wirtschaftswunders“ (1960er und 1970er Jahre) die Bedeutung der Beratung und Unterstützung bei psychosozialen Problemen und bei der Gestaltung des Alltags stieg. In den 1980er Jahren waren es zunächst von Ausgliederung bedrohte Einzelne und spezielle Gruppen, auf die sich Integrations- und Partizipationsbemühungen richteten. Seit Mitte der 1990er Jahre sind wieder ganze Bevölkerungsgruppen strukturell benachteiligt, womit erneut die Hilfe in wirtschaftlich prekären Lebensverhältnissen in den Vordergrund rückt. Die gesellschaftlichen Aufträge und in ihrer Folge auch die Berufspraxis verändern sich fortwährend mit der sozialen Wirklichkeit und ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sodass sich die Soziale Arbeit auch insgesamt immer wieder neu positionieren muss (Staub-Bernasconi 2010).

Soziale Arbeit als institutionalisierte Hilfe

Soziale Arbeit ist gesellschaftlich organisierte Hilfe, also Hilfe, die – anders als im Alltagsleben – nicht auf Gegenseitigkeit beruht, sondern berufsmäßig durch ausgebildete Fachkräfte erbracht wird, die von dafür geschaffenen Institutionen bezahlt werden. Die Grundlage des Helfens ist in der Regel ein „Problem“, also etwas, das von der „Normalität“ abweicht. Mit Offe (1987, 175) lässt sich die Soziale Arbeit als „Gewährleistung gesellschaftlicher Normalzustände“ beschreiben, wobei einerseits die Besonderheit und die Individualität der Adressatinnen zu wahren, zu respektieren und zu bestätigen ist und andererseits allgemeine Regeln sowie Ordnungs- und Wertvorstellungen zum Maßstab genommen werden müssen. In ihrer gesetzlichen und institutionellen Verfasstheit ist die Hilfe in ihrer Form und ihrer Bandbreite vorstrukturiert, was voraussetzt, dass der zu bearbeitende soziale Hilfebedarf gesellschaftlich definiert und als solcher politisch anerkannt ist (Rauschenbach/Züchner 2010). Um staatliche Unterstützung zu erhalten, müssen Adressaten ihre Anliegen und Probleme so beschreiben, dass die jeweilige Organisation mit ihren Zuständigkeitskategorien berechtigt und in der Lage ist, hierauf zu reagieren (Gildemeister 1983). Die öffentlichen und freien Träger der Sozialen Arbeit bieten teilweise verschiedene und teilweise vergleichbare Leistungen an. Ihre Arbeitsteilung orientiert sich nicht systematisch an den Problemen der Adressaten; sie basiert vielmehr auf dem Subsidiaritätsprinzip, einem historisch gewachsenen Prinzip der Verteilung von Aufgaben auf die Trägerinstitutionen, das einen weltanschaulich organisierten Pluralismus bei der Aufgabenerfüllung gewährleisten soll (Merchel 2008; Bieker/Floerecke 2011).


Müller, C. W. (2009): Wie Helfen zum Beruf wurde. Juventa, Weinheim

1.1.2Funktion und Gegenstand Sozialer Arbeit

Die umfangreiche Diskussion um die Notwendigkeit und den Nutzen einer Funktions- und/oder einer Gegenstandsbestimmung für die Soziale Arbeit kann hier nicht geführt werden; bisher ist es nicht gelungen, verbindliche Bestimmungen zu finden (Krieger 2011). In diesem Abschnitt wird stattdessen je eine gegenwärtig einflussreiche Funktions- und Gegenstandsbestimmung, die auch für das methodische Handeln von Bedeutung ist, in ihrem theoretischen Kontext vorgestellt. Als Beispiel für eine ➔ Funktionsbestimmung wird nun die Theorie von Bommes und Scherr (1996) vorgestellt. Sie fußt auf dem systemtheoretischen Paradigma, das weitgehend auf den Arbeiten des Soziologen Niklas Luhmann beruht.

Eine exemplarische Funktionsbestimmung: Inklusionsvermittlung, Exklusionsvermeidung, Exklusionsverwaltung

Soziale Arbeit als ‚organisierte Hilfe‘

Bommes und Scherr nehmen an, dass man (u.a. mit Hillebrand 2010) Soziale Arbeit als organisierte Hilfe bezeichnen kann. Wer hilfebedürftig ist, bestimmen nicht Einzelne; dies ist vielmehr die Entscheidung „definitionsmächtiger Instanzen des politischen Systems“, beispielsweise der Arbeitsmarkt-, Jugend- und Sozialpolitik oder auch der Organisationen der Sozialen Arbeit selbst. Was jeweils bearbeitet wird, ist demzufolge ein Produkt gesellschaftlicher Aushandlungen, an denen Fachkräfte zwar auch, aber nicht maßgeblich beteiligt sind (Bommes/Scherr 1996, 96 f.).

Exklusions- und Inklusionsmodi in modernen Gesellschaften

Bommes und Scherr setzen diese „soziale Konstruktion sozialer Hilfsbedürftigkeit“ in Bezug zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme und speziell seiner Analyse von Exklusions- und Inklusionsmodi in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften (Luhmann 1995). Sie interpretieren diese Theorie „als Radikalisierung (und Bereinigung) des Marx’schen Grundgedankens […], dass der gesellschaftliche Zusammenhang sich gegenüber den Individuen verselbstständigt hat“ (Bommes/Scherr 1996, 99). Die Gesellschaft organisiert sich nicht entlang der physischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse der Menschen, sondern an den „Erfordernissen der Wertvermehrung“. Eine so organisierte Gesellschaft bezieht die Menschen nicht als Ganzes mit der Gesamtheit ihrer Bedürfnisse ein, sondern sie besteht aus vielen großen und kleinen Funktionssystemen (Arbeit, Familie, Schule, Gruppe), wobei jedes System besondere Zugangsbedingungen und auch Möglichkeiten des Ausschlusses entwickelt hat. Es gibt in der Gesellschaft keinen sozialen Ort (auch nicht die Familie), der die sozialen Möglichkeiten des einzelnen Menschen umfassend definiert. Jeder Mensch befindet sich zunächst außerhalb aller Funktionssysteme (auch jenem der Familie) und muss daran arbeiten, Zugang zu den Funktionssystemen zu erlangen, denen er angehören möchte oder soll. Er orientiert sich an den Zugangsbedingungen (Regeln) des Systems oder weicht von ihnen ab. Erst wenn er in ein System einbezogen ist, ist er oder sie Arbeitnehmerin, Konsument, Patientin, Schüler, Studentin usw.

Selbstsozialisation

Die neuere Systemtheorie versteht Sozialisation als Selbstsozialisation. Demnach sind die Menschen nicht als „Produkte“ ihrer Umwelt zu begreifen, sondern Sozialisation gilt als ein kommunikativer Prozess, in dem die Menschen ständig selbst entscheiden (müssen), ob sie „Konformität oder Abweichung, Anpassung oder Widerstand“ zeigen (Luhmann 1995, zit. in Bommes/Scherr 1996, 103). Probleme entstehen nicht nur aus dem Scheitern der Menschen an Anforderungen der kapitalistischen Ökonomie, sondern auch aus der Selbstexklusion (also dem selbst verursachten Ausschluss aus dem rechtlichen System, der organisierten Erziehung, der Familie oder etwa der Politik).

Soziale Arbeit als Auffang- und Zweitsicherung

Der Wohlfahrtsstaat bearbeitet generelle Exklusionsrisiken seiner Funktionssysteme (des Arbeitsmarktes, des Erziehungs-, Rechts-, Politik- und Gesundheitssystems sowie der Familiensysteme) durch generalisierte Sicherungspotenziale (des Sozialversicherungssystems) (Kap. 1.1.1). Die Soziale Arbeit übernimmt demgegenüber eine Auffang- und Zweitsicherung für die Menschen, die aus diesen Sicherungssystemen herausfallen. Die Hilfe der Sozialen Arbeit ist individuell, also auf die spezifischen Fälle zugeschnitten. Sie setzt ein, wenn generalisierte Absicherungen nicht greifen oder einsetzende Exklusionsdynamiken (Ausgrenzungsprozesse) nicht aufzuhalten sind.

drei Funktionen der Sozialen Arbeit

Bommes und Scherr arbeiten drei Funktionen der Sozialen Arbeit heraus: im Vordergrund steht die Inklusionsvermittlung als Unterstützung der Adressaten beim Erwerb der Fähigkeiten und der Motivation, die Zugangsbedingungen der Funktionssysteme zu erfüllen (das klassische Arbeitsfeld der Sozialpädagogik). Demgegenüber ist die Exklusionsvermeidung als Hilfe zu verstehen, den Ausschluss abzuwenden (das klassische Arbeitsfeld der Sozialarbeit). Darüber hinaus gibt es immer mehr Menschen, deren Exklusion verwaltet werden muss, weil sie dauerhaft aus den Funktionssystemen herausgefallen sind bzw. auch keinen neuen Zugang erhalten sollen (Bommes/Scherr 1996, 95; s. auch Noack 2006).

Die Autoren meinen, dass es mit dieser Funktionsbestimmung auf einem sehr abstrakten Niveau möglich sei, zu beschreiben, was Soziale Arbeit ist, ohne dass dieses eine Bewertung impliziere. Die Definition ist also dem Anspruch nach „wertfrei“. Jeder Professionelle muss hierzu persönlich Position beziehen und selbst entscheiden, mit welcher beruflichen Haltung und Zielsetzung er diese Funktionen in seinem Arbeitsfeld ausübt, was auch zu Identitätsproblemen führen kann.

Eine exemplarische Gegenstandsbestimmung: soziale Probleme

Staub-Bernasconi kritisiert, dass Funktionsbestimmungen vielfach bei der Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stehen bleiben, und dass diese – weil gesetzlich vorgegeben – als unveränderbar betrachtet werden. Die fremd definierten Aufgaben werden im Auftrag der Träger ausgeführt, was zu technologischen Handlungskonzepten führen kann, für die man keine wissenschaftliche Analyse, Begründung und Reflexion braucht (Staub-Bernasconi 2006, 14 ff.). Nach ihrer Überzeugung muss geklärt werden, wie diese Aufgaben ethisch-moralisch zu bewerten sind und welchen Stellenwert das disziplinäre Wissen einnimmt. Die Wissenschaft hat auch die Aufgabe, die gesellschaftliche Funktion Sozialer Arbeit von einem begründeten Standpunkt aus zu beurteilen. Im Folgenden wird ihre Bestimmung des ➔ Gegenstands der Sozialen Arbeit dargelegt.

individuelle und kollektive Bedürfnisse

Einen solchen Standpunkt bilden nach ihrer Überzeugung die individuellen und kollektiven Bedürfnisse von Menschen – als psychische und soziale Tatbestände, die unabhängig von politischen Definitionen existieren. Die Lebenslagen, Lebensweisen und Deutungsmuster von Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft unfähig sind, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, Lernprozesse zu bewältigen und/oder ihr Leben aufgrund eigener Ressourcen zu gestalten, bilden die Kriterien für eine Positionierung gegenüber den jeweils herausgearbeiteten gesellschaftlichen Funktionen der Sozialen Arbeit (Staub-Bernasconi 2006, 26).

Bedürfnisse und Wünsche

Im Zentrum ihrer Theorie steht die Unterscheidung von Bedürfnissen und Wünschen. Biologische, psychische und soziale Bedürfnisse sind allen Menschen gemeinsam, also universell, wobei die Formen und Mittel ihrer Befriedigung an den jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext gebunden sind. Bedürfnisse müssen befriedigt werden, unabhängig von (sozial-)politischen Konjunkturen. Wünsche können dagegen begrenzt oder unbegrenzt, legitim und illegitim sein. Sie sind legitim, wenn sie zur Gesundheit und zum psychischen Wohlbefinden des einzelnen Menschen beitragen und die Bedürfniserfüllung anderer Menschen nicht beeinträchtigen. Wenn Menschen aber ihre Wünsche auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung anderer realisieren oder die ökologischen Systeme als Voraussetzung des Überlebens von Menschen, Tieren und Pflanzen gefährden oder gar zerstören, sind diese Wünsche illegitim.

Gegenstand: soziale Probleme

Staub-Bernasconi postuliert als Gegenstand der ➔ Wissenschaft Soziale Arbeit „Soziale Probleme“. Diese bezeichnet sie als Folgen

nicht erfüllter Grundbedürfnisse und legitimer Wünsche und damit unzureichender Ausstattung von Menschen bei gleichzeitiger überdurchschnittlicher Ausstattung anderer Menschen und Gruppen;

asymmetrischen Gebens und Nehmens und damit von Austauschbeziehungen, die nicht auf Gegenseitigkeit beruhen;

behindernder Machtverhältnisse und

ethisch-moralischer Dilemmata und Asymmetrien im Hinblick auf die Ausbalancierung von Pflichten und Rechten gegenüber sich selbst und anderen Mitgliedern der Gesellschaft (Glossar in Heiner et al. 1998, 324).

Die Definitionsmacht darüber, wer mit welchen Problemen als hilfebedürftig anerkannt wird, muss allen Beteiligten gleichermaßen zugesprochen werden: sowohl „den Adressaten, den Trägern als Repräsentanten der Gesellschaft als auch den Fachkräften aufgrund ihres wissenschaftlichen Wissens und ihrer Professionsethik. Professionelle Diagnose bestimmt, an welchen Punkten interveniert wird (Individuum oder System)“ (Staub-Bernasconi 2010, 53).

Erklärung sozialer Probleme

Zur Erklärung Sozialer Probleme zieht Staub-Bernasconi alle Grundlagendisziplinen und wichtigen Kulturtheorien heran. Soziale Probleme können nicht nur als Folgen psychischer oder sozialer Strukturen und Prozesse verstanden werden, sondern auch von Natur-, Umweltverschmutzungs- und Hungerkatastrophen, von Krankheiten und körperlichen oder geistigen Behinderungen verursacht werden. Staub-Bernasconi sucht daher nach „transdisziplinären“ Erklärungen, die die mikro- und die makrosoziale Ebene verknüpfen. Hinsichtlich der moralischen Beurteilung Sozialer Probleme geht sie davon aus, dass sich individuelle Werte (Freiheit oder Autonomie) und soziale Werte (Zusammenhalt, gesellschaftliche Stabilität und Ordnung, Solidarität und Loyalität) gegenseitig bedingen. Ein Bezugspunkt müssen daher Normen sein, „die eine sachgerechte Kombination von Selbst- und Fremdbestimmung, Individual- und Sozialrechten sowie Pflichten ermöglichen“ (Staub-Bernasconi 2002, 252).

Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession

Staub-Bernasconi knüpft damit auch an die UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948 an und bezeichnet die Soziale Arbeit als „Menschenrechtsprofession“ (s. hierzu auch die internationale Definition der International Federation of Social Workers (IFSW) 2000, die zwischen Fachkräften bzw. Berufsverbänden aus rund 70 Nationen ausgehandelt wurde und die unverkennbar Staub-Bernasconis Handschrift trägt). Gemäß dieses Postulats muss es die Aufgabe beruflicher Sozialer Arbeit sein, „Menschen zu befähigen, ihre Bedürfnisse so weit wie möglich aus eigener Kraft, d. h. dank geförderten und geforderten Lernprozessen zu befriedigen“ und andererseits „darauf hinzuarbeiten, dass menschenverachtende soziale Regeln und Werte – kurz, dass behindernde Machtstrukturen in begrenzende Machtstrukturen transformiert werden – so weit sie der Sozialen Arbeit zugänglich sind“ (Staub-Bernasconi 2002, 254). Die Analyse von Machtstrukturen und der Auswirkungen von Macht sind ihr ein besonderes Anliegen: Sie thematisiert und problematisiert immer wieder die beiden Begriffe „Macht“ und „Hilfe“ und ihre Unvereinbarkeit bzw. Kombination (Staub-Bernasconi 1998). Neben vielfältigen traditionellen Arbeitsweisen zählt sie auch die Einflussnahme auf Wirtschaft, Bildungssystem, (Sozial-)Politik und Rechtssystem zum professionellen Instrumentarium. Eine wissenschaftsbasierte Profession wie die Soziale Arbeit muss „ihr Wissen über Soziale Probleme für öffentliche Entscheidungsträger zugänglich machen und sich in die (sozial-)politischen Entscheidungsprozesse über mögliche Problemlösungen einmischen“ (Staub-Bernasconi 2002, 254).

Bezugspunkt systemistisches Paradigma

Staub-Bernasconi benutzt die Kategorie „Soziale Probleme“ als Ausgangspunkt für eine „transdisziplinäre human- und sozialwissenschaftliche Theorieentwicklung“ und versucht, dieses theoretische Wissen als Begründung für das Veränderungs- und Professionswissen Sozialer Arbeit fruchtbar zu machen. Ihr Bezugspunkt ist das „systemistische“ Paradigma nach Bunge und Obrecht, und ihre Definition Sozialer Probleme integriert „sowohl Probleme von Individuen als auch Probleme im Zusammenhang mit einer Sozialstruktur und Kultur“ (Staub-Bernasconi 2002, 250; zur Pluralität systemischer Ansätze in der Sozialen Arbeit s. Krieger 2010).

Entwicklung einer eigenen Position

Die Gegenstandsbestimmung von Staub-Bernasconi wurde ausgewählt, weil sie m. E. plausibel ausgearbeitet ist und dazu auffordert, sich selbst eine berufsethische und berufspolitische Position gegenüber den Funktionszuschreibungen zu erarbeiten. Insgesamt hat die Soziale Arbeit seit ihrem Entstehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Anzahl von Theorien und darin eingebettete Funktions- und Gegenstandsbestimmungen (eine korrekte Unterscheidung findet man in der vorliegenden Literatur nicht) hervorgebracht, die die Diskussion sehr bereichert haben. Die Theorien fokussieren sehr unterschiedliche Zugänge, Fragestellungen und Denkansätze. May unterscheidet in seiner Übersicht alltags-, lebenswelt-, lebenslagen- und lebensbewältigungsorientierte Ansätze sowie professionstheoretische, systemtheoretische, diskursanalytische und psychoanalytische Ansätze. Er bemängelt, dass diese Ansätze beziehungslos nebeneinander stehen. Selbst bei großen Ähnlichkeiten der Denkfiguren gibt es weder Kritik noch wechselseitige Verweise (May 2008), was zu beklagen ist, denn das könnte die Diskussion sehr befruchten.

notwendige Vielfalt der Theorien

Gemein ist allen Theorien über Soziale Arbeit, dass sie die wechselseitige Bedingtheit von staatlichem Auftrag, institutioneller Organisation und personenbezogener Arbeit mit den Adressaten betonen. Und alle fokussieren mehr oder weniger ausdrücklich eine Arbeit an Problemen (und der Stärkung der Ressourcen) mit dem Ziel der „Normalisierung“, sodass sich die Konturen der Sozialen Arbeit hiermit gut umreißen lassen. Die scheinbare „Unübersichtlichkeit“ der Theorien liegt in der Eigenart der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion. Es wird, kann und sollte nicht die eine, allumfassende Theorie der Sozialen Arbeit geben; jede Theorie expliziert einen anderen Aspekt der umfänglichen Materie. Einen Überblick über klassische Theorien sowie Kurzfassungen zeitgenössischer Theorien bietet Thole (2010a); s. auch Füssenhäuser (2018).


Thole, W. (2010a): Grundriss Soziale Arbeit. Leske und Budrich, Opladen

1.2Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur

In diesem Teilkapitel werden verschiedene Aspekte der beruflichen Handlungsstruktur thematisiert. Die Darlegungen beginnen mit einer Skizze der gesellschaftlich-institutionellen Verfasstheit der Sozialen Arbeit, wonach Fachkräfte zwischen den bürokratischen Anforderungen ihrer Institution und den individuellen Problem- und Lebenslagen der Adressatinnen balancieren müssen (doppeltes Mandat, Kap. 1.2.1). Es folgen gesellschaftsanalytische, philosophische und auch biologisch-psychologische Ausführungen, die alle auf ihre Weise eine Subjektorientierung begründen (Kap. 1.2.2). Weiterhin wird das strukturelle Technologiedefizit der Sozialen Arbeit beschrieben, das Folgen für den Umgang mit Planung und Evaluation zeitigt (Kap. 1.2.3). Das sog. „uno actu-Prinzip“, also der Zusammenfall von Produktion und Konsumtion, gilt auch für die Soziale Arbeit, weshalb Fachkräfte auf eine Koproduktion mit ihren Adressaten angewiesen sind (Kap. 1.2.4). Diese vier Besonderheiten werden als „Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur“ bezeichnet, weil sie die Art und Weise der Berufsausübung entscheidend beeinflussen.

1.2.1Doppeltes Mandat

gesellschaftliche Aushandlung von Hilfebedarf

Das ➔ doppelte Mandat entsteht u. a. aus dem Umstand, dass die Soziale Arbeit eine „staatsvermittelte“ Profession ist. Der Staat fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen der Profession und ihrer Klientel, indem festgelegt wird, welchen Zielgruppen welche Leistungen und welche Ressourcen zuteilwerden. Dabei werden Bedürfnisse und Rechtsansprüche der Adressaten auseinanderdividiert: bearbeitet wird nicht jede Bedürfnisäußerung, sondern nur, was als Aufgabe der Sozialen Arbeit ausgehandelt und gesetzlich verankert ist (Kap. 1.1.1). Auf diese Weise werden die Bedürfnisse der Betroffenen in politisch akzeptierten und finanzierten „Bedarf“ verwandelt. Die Aushandlung von Hilfebedarf geschieht in der politischen Öffentlichkeit und ist in den Medien zu verfolgen. Im Bereich der Sozialversicherungsleistungen gibt es hierzu immer wieder öffentliche Diskussionen; im Bereich der Sozialen Arbeit erfolgt das Ganze geräuschloser – und meist auch ohne Beteiligung der ➔ Profession.

Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen

Dabei werden tendenziell strukturelle, gesellschaftliche Problemlagen definitorisch in individuelle Fälle umgewandelt, die von Fachkräften mit den Mitteln der Sozialen Arbeit bearbeitet werden können. Damit ist der implizite Auftrag verbunden, die individuellen Motive und Handlungsorientierungen der Adressaten in der Annahme/Hoffnung zu verändern, dass damit auch die verursachende Gesellschaftsstruktur aus dem Fokus verschwindet (Böllert 2018). Als Strategien gelten sowohl Hilfekonstruktionen als auch kontrollierende Interventionen, wenn Hilfe nicht greift.

Parteilichkeit als Identitätsstrategie

Diese Doppelstrategie von Hilfe und Kontrolle wurde besonders in den 1970er Jahren als „Grundwiderspruch“ analysiert und thematisiert. Die konstruierte Dualität forderte Fachkräften scheinbar eine Entscheidung ab: für eine Identifizierung mit der Institution (Kontrolle) oder für die stellvertretende Durchsetzung von Adressateninteressen (Hilfe). Politisch-moralisch gesehen war das für viele „kritische Sozialarbeiter“ keine Frage, weshalb das Konzept der Parteilichkeit großen Einfluss gewann. Im Kern ging es darum, den wohl verstandenen Bedürfnissen und Interessen der Adressaten gewissermaßen „undercover“ und gegen die Kontrollinteressen der staatlichen Institutionen zu ihrem Recht zu verhelfen. Hierfür sollten die vorhandenen institutionellen Handlungsspielräume genutzt werden, die sich aus der ➔ technischen Autonomie der Fachkräfte ergaben (White 2000). Teile der Frauenbewegung arbeiteten das Konzept der Parteilichkeit offensiv aus, was möglich war, weil sie ihre Arbeit außerhalb der staatlichen Institutionen ansiedelten (z. B. autonome Frauenhäuser oder frei getragene feministische Mädchenarbeit).

Gefahr durch Parteilichkeit

Das Prinzip der Parteilichkeit birgt jedoch die Gefahr, dass Fachkräfte ihre professionelle Identität auf die von ihnen gesellschaftsanalytisch herausgearbeiteten Interessen und Bedürfnisse ihrer Adressatinnen gründen, ohne diese direkt zu beteiligen. Das kann zur Vermischung von Interessen und zum Verlust der professionellen Distanz führen. Adressatinnen fühlen sich in solchen Settings eher als Objekte und verweigern die Mitarbeit, was wiederum zur Enttäuschung der engagierten Fachkräfte beiträgt. Zudem sind Fachkräfte eigenständige Akteure. Sie können nicht parteilich arbeiten, denn sie bewegen sich in einem sog. „Leistungsdreieck“ von Leistungsempfängern (Adressaten/Nutzerinnen), Kostenträgern (Auftraggeber/Kommune) und Leistungsträgern (Einrichtungen und Dienste) und verfolgen immer auch eigene Interessen gegenüber allen Beteiligten.

Anwaltschaft in freier Praxis?

Eine andere Idee, den „Grundwiderspruch“ zu entschärfen, war es, sich – wie in den USA – als selbstständige Professionelle niederzulassen und somit nur den Bedürfnissen und Interessen der Adressaten verpflichtet zu sein (Kap. 2.1.1). Diese Frage stellte sich in Deutschland – und auch in der Schweiz und in Österreich – allerdings nur theoretisch, denn nur Psychotherapeuten bzw. Psychologinnen können sich in freier Praxis niederlassen und selbst mit den Klienten abrechnen. Es gibt zwar mehr und mehr Fachkräfte, die ihre sozialen Dienstleistungen unabhängig von den klassischen Trägern Sozialer Arbeit anbieten, aber die Struktur der Arbeit verändert sich nicht wesentlich. Die institutionelle Verfasstheit der Sozialen Arbeit ist Realität, und die Fachkräfte werden eben nicht von ihren Adressaten bezahlt, sondern von staatlich finanzierten Trägern. Daher ist Soziale Arbeit keine reine Dienstleistung, und Adressaten können keine Kunden oder Mandanten sein. Sie kaufen die angebotenen Leistungen nicht,

„weil erstens für viele ‚Produkte‘ der kommunalen Sozialverwaltung kein Markt existiert und weil zweitens Sozialpolitik – als Politik eben – das Angebot der als notwendig erachteten Leistung normativ bestimmt“ (Ortmann 1996, 65).

Für viele Leistungen der Sozialen Arbeit würden sich auch keine Käufer finden, weil sie mitunter gegen den erklärten Willen von Adressatinnen erfolgen, wie z. B. die Sicherstellung des Kindeswohls nach SGB VIII (Kap. 1.2.4).

Hilfe ist Kontrolle

Eine Entscheidung für die eine oder andere Seite des Grundwiderspruchs wurde Fachkräften in Wirklichkeit nie abgefordert, denn Hilfe und Kontrolle sind zwei Seiten des gleichen Sachverhalts: Hilfe kann als andere Form der Kontrolle gesehen werden (Urban 2004). Das zeigt sich am deutlichsten im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe, speziell in den Jugendämtern. Im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) sind Hilfen zur Erziehung für Familien und staatliches Wächteramt nicht strukturell voneinander zu trennen. „Hilfen können sogar die Funktion haben, das staatliche Wächteramt zu erfüllen“ (Urban 2004, 34). Fachkräfte müssen verantwortlich mit dem doppelten Mandat balancieren, wobei sich die Frage nach den Kriterien für Kontroll- und Hilfemaßnahmen stellt. Fachkräfte übernehmen meistens die Normalitätsstandards der gesellschaftlichen Institutionen, obwohl sie vielleicht meinen, die Interessen ihrer Adressaten zu vertreten. Diese Haltung wird problematisch, wenn sie unreflektiert bleibt oder so weit geht, dass man Kontrollmaßnahmen in Hilfe (um-)deutet, um Widersprüche im eigenen „Helferselbstbild“ auszugleichen (Urban 2004, 190).

Expertentum versus Diskursivität

Urban hat idealtypisch herausgearbeitet, wie Fachkräfte ihren Umgang mit dem doppelten Mandat in ihr berufliches Selbstverständnis integrieren. Sie stellt zwei Idealtypen vor: Die einen verstehen sich als Expertinnen und betonen ihre Autonomie als Fachkraft. Sie entscheiden aufgrund ihres persönlichen Gespürs und mithilfe professioneller Diagnosen über die Art und Weise der Hilfegewährung und setzen diese durch. Sie übermitteln den Adressaten ihre Erklärungen und Deutungen und verhandeln nicht mit ihnen. Eine externe Kontrolle der Arbeit wehren sie eher ab. Den anderen Typus bilden aushandlungsorientierte Fachkräfte, die sich selbst über eine gewisse Diskursivität definieren. Sie erheben ihre Diagnosen mehrperspektivisch und beziehen ihre Adressaten und ihre Kolleginnen so weit wie möglich in die Entscheidungsfindung ein (Urban 2004). Die Debatte um das Spannungsfeld zwischen Expertentum und Aushandlung durchzieht viele Bereiche der Sozialen Arbeit und wird teilweise sehr polarisierend geführt (s. die Diskussion um den Diagnosebegriff in Kap. 2.2.2). Darum sei an dieser Stelle herausgestellt, dass ich mit meinen Darlegungen den Aushandlungstypus präferiere.

Konsequenzen aus dem doppelten Mandat

Das doppelte Mandat hat nichts von seiner Bedeutung verloren, auch wenn es sich um zwei Seiten derselben Medaille und nicht um einen Grundwiderspruch handelt. Fachkräfte sollten sich darüber klar werden, welche Position sie ihm gegenüber einnehmen und welche Folgen dies für ihre professionelle Identität hat:

Es macht einen Unterschied, ob man sich als Expertin definiert, die gezielt Änderungen im Verhalten ihrer Adressaten „herbeiführt“, oder ob man Partizipation und Aushandlung als Leitlinien der Arbeit versteht und sich selbst als Assistenz bei der Suche nach gangbaren Wegen anbietet (Kap. 3.1).

Man muss die gesellschaftlichen und institutionellen Arbeitsaufträge und die damit verbundenen Interessen in der eigenen Einrichtung untersuchen und bewerten. Wie wird der Bedarf definiert? Wo werden Bedürfnisse von Adressaten nicht aufgegriffen? Inwiefern wird Kontrolle ausgeübt, wo Hilfe notwendig wäre?

Zu fragen ist auch, wo gesellschaftliche Strukturen ungerechtfertigt in individuelle Probleme umgedeutet und der Sozialen Arbeit zur Lösung übergeben werden. Ggf. muss eine Einrichtung die Aufgaben, die mit den Mitteln der Sozialen Arbeit nicht zu bearbeiten sind, in die Verantwortung der Politik zurückgeben.


Urban, U. (2004): Professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle. Juventa, Weinheim

1.2.2Subjektorientierung

Adressaten als Objekte von Erziehung und Sozialer Arbeit

Wenn ➔ Individualisierung und Pluralisierung die Lebensbedingungen charakterisieren, sollte das für die Soziale Arbeit grundlegende Menschenbild darauf abgestimmt sein. Die Bandbreite der pädagogischen Grundannahmen schwankte im Lauf der Geschichte zwischen weitgehender Formbarkeit (Kind als tabula rasa, als Objekt von Erziehung) und der Annahme, dass der Mensch von Geburt an ein eigenständiges Subjekt ist, das sich und seine Identität unter Verwendung der ihm verfügbaren individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen selbst entwickelt. Je stärker die Vorstellung von Formbarkeit ist, desto höher die Konjunktur von Erziehungs- und Trainingsprogrammen und somit auch die Erwartungen an die Veränderungsmöglichkeiten durch Soziale Arbeit und Erziehung. Die (im erzieherischen Sinne „optimistische“) Überzeugung, man könne Menschen durch gut geplante Interventionen zu einem spezifizierten Ziel führen, nährt so radikal unterschiedliche Ansätze wie kommunistische oder nationalsozialistische Volkserziehung oder auch problem- oder zielorientierte ➔ Konzepte (etwa Antigewalttraining oder feministische Erziehung).

Adressaten als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung

Die (erzieherisch „pessimistische“) Grundannahme, dass sich jeder Mensch seine eigene Biografie mit eigenen Zielen erschafft, ist hingegen seltener vorzufinden. Hierzu zählen etwa das Prinzip Summerhill (A. S. Neill), konstruktivistische Ansätze und das Konzept „Familiengruppenkonferenz“ bzw. „Familienrat“ (Hansbauer et al. 2009). Subjektorientierte Konzepte halten sich mit Zielen eher zurück und konzentrieren sich darauf, Ressourcen zu erschließen und die Bedingungen für das Aufwachsen so zu arrangieren, dass sich Eigenaktivität und Eigenverantwortung herausbilden – wobei davon auszugehen ist, dass die förderlichen Bedingungen je nach ➔ Lebenslage eines Individuums bzw. einer Gruppe sehr verschieden sind. Die methodische Vorgehensweise bezieht sich auf die Unterstützung und Begleitung der subjektgesteuerten Entwicklung.

subjektive Wirklichkeitswahrnehmung und -konstruktion

Die Subjektorientierung wird auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse über die Art und Weise der menschlichen Wahrnehmung und der darauf bezogenen ➔ subjektiven Wirklichkeitskonstruktion gestützt. Menschen nehmen die Wirklichkeit nach einem individuellen Modell und auf der Folie ihres erfahrungsbedingten und theoretischen Vorverständnisses wahr: Sie rekonstruieren Beziehungen und auch sog. harte Fakten selektiv, im Lichte ihres Modells der Wirklichkeit. Das Vorverständnis beeinflusst die Wahrnehmung dessen, was man für bedeutsam hält, sowie die Suche nach Erklärungen desselben. Man nimmt das auf, was sich mit bisherigen Erfahrungen und Einschätzungen („Deutungsmustern“) deckt, und holt nicht systematisch Informationen über andere mögliche Zusammenhänge ein. Das Wahrgenommene wird zu Kausalketten verknüpft und auf vergleichbare Phänomene übertragen, auch wenn sich die Kontexte dieser Phänomene unterscheiden. So bilden sich Deutungsmuster von selbst heraus. Hierzu ist anzumerken, dass die Auffassungen über die Bandbreite der subjektiven Wirklichkeitskonstruktion auseinander gehen. Sog. radikale Konstruktivisten bestreiten, dass es überhaupt so etwas wie eine gemeinsam geteilte und damit annähernd objektive Wirklichkeit gibt, während moderate Auffassungen von graduellen und partikulären Unterschieden ausgehen, die sich aber doch um einen beschreibbaren Kern kulturspezifischer Gewissheiten (Normalitätsstandards) gruppieren. Für die Soziale Arbeit ergibt sich dann Handlungsbedarf, wenn Wahrnehmungen und Konstruktionen von Adressatinnen so weit von allgemein geteilten Standards abweichen, dass ihre Chancen auf Inklusion gefährdet sind, bzw. ihre Exklusion aus einem oder mehreren Funktionssystemen droht (Kap. 1.1.2).

dialogische Verständigung

Vor diesem Hintergrund gestaltet sich der Umgang mit Adressaten schwierig. Kunstreich et al. (2004) zweifeln an, dass ein wirkliches Verstehen möglich ist. Es müsste eher eine „dialogische Verständigung“ angestrebt werden.

Fachkräfte sollten Adressaten als andersartige, aber gleichwertige Beteiligte verstehen und sich mit diesen auf ein „gemeinsames Drittes“ verständigen, z. B. auf ein Ziel und einen Weg dorthin. Damit gewinnen sie eine ausgehandelte Grundlage, auf die der jeweils nächste Arbeitsschritt aufbauen kann. Die Rolle der Professionellen beschränkt sich hierbei auf eine, auch von den Adressatinnen so gesehene „nützliche Assistenz“ (Kunstreich et al. 2004).

Konsequenzen aus der Subjektorientierung

Ich gehe von der Subjektivität jedes einzelnen Menschen aus, was bedeutet, dass die Erarbeitung einer subjektiven Identität zu den Lebensaufgaben der Individuen gehört (Haußer 1995, Beck 1986). Soziale Verhältnisse – und damit Ressourcen für die Entwicklung derselben – werden weitestgehend gesellschaftlich produziert. Sie bilden das „Material“ für diese Identitätsarbeit und stehen den Menschen je nach gesellschaftlichem Status und Lebenslage in sehr unterschiedlichem Maße zur Verfügung:

Eine plurale Gesellschaft, die ihren Mitgliedern ein hohes Maß an Individualisierung abfordert, muss auch die Ressourcen für solche Entwicklungsprozesse bereitstellen. Die Adressatinnen sollten (entwicklungs-)förderliche Bedingungen vorfinden, die es ihnen erlauben, subjektive Identität und Ich-Stärke auszubilden. Fachkräfte sind daher gefordert, sich in gesellschaftliche Verteilungsdiskussionen einzumischen, um die materiellen Rahmenbedingungen zu beeinflussen.

Eine Soziale Arbeit, die der Vorstellung von der Selbstbildung des Subjekts folgt, muss sich auf das Arrangement einer (entwicklungs-)förderlichen Umgebung konzentrieren (z. B. für die Gestaltung eines Lebens in Würde für Menschen mit geistiger Behinderung oder an Demenz Erkrankte).

Hierzu passt eine berufliche Haltung, die jeden Menschen als eigenständiges Subjekt wertschätzt, das seinen eigenen Weg gestaltet, und nicht als Objekt, das auf seine pädagogische Prägung wartet. Die berufliche Aufgabe liegt daher in der Unterstützung von Selbstbildungsprozessen statt in einer „Menschenveränderung nach Plan“.

Man kann optimistisch darauf hoffen, dass ein Subjekt in jeder Situation danach strebt, „das Beste“ aus seiner Lebenslage zu machen. Assistenz bedeutet daher auch, die Motivation für ein „besseres Leben“ (Böhnisch 2011) zu wecken und Adressaten auf dem Weg zu einem für sie besseren Leben zu begleiten.

Methodisches Handeln erfordert, die subjektiven Konstruktionen aller Beteiligten in ihrer biografischen Gewordenheit und in ihrem lebensweltlichen Kontext zu erkunden und miteinander in Beziehung zu setzen.

Da es nicht möglich ist, den jeweils anderen in allen Facetten zu „verstehen“, sollte es doch gelingen, sich „dialogisch“ auf Problemverständnis, Ziele und Vorgehensweisen zu verständigen.

Diese Erkenntnisse betreffen nicht nur die Wirklichkeitskonstruktionen der Adressatinnen, sondern auch jene der Fachkräfte und Wissenschaftler. Niemand ist allein das Maß aller Dinge und kann die eigene Sicht absolut setzen oder den Weg missionarisch und unter Einsatz der institutionellen Definitionsmacht für die Adressatinnen verbindlich festlegen.

1.2.3Technologiedefizit

Technologien für die Soziale Arbeit?

Seitdem Soziale Arbeit an Hochschulen gelehrt wird, arbeitet man auch daran, wissenschaftlich abgesicherte ➔ Technologien zu entwickeln. Die Grundidee war zunächst, dass die Bedingungen sozialer Prozesse ebenso gesetzmäßig erklärbar sein müssten wie naturwissenschaftliche Phänomene. Daraus folgte die Überlegung, dass man das Erklärbare auch in soziale Technologien umwandeln könne. Der Niederländer van Beugen (1972) plante z. B. ein Programm zur Erforschung der Wirkmechanismen verschiedener Methoden der Sozialen Arbeit, um daraus angemessene Technologien abzuleiten. Ein Stück weiter gingen die Amerikaner Rothman et al. (1979): Sie befragten eine repräsentative Anzahl von Praktikern nach ihren Methoden und deren Wirksamkeit. Sie entwickelten daraus spezifische Leitlinien für praktisches Handeln, die unter kontrollierten Bedingungen praktisch erprobt und evaluiert wurden. Heraus kamen außerordentlich allgemein gehaltene Leitlinien mit geringer Aussagekraft. Die Entwicklung ging nach einer längeren Pause aber weiter, sodass nun komplette Programme, wissenschaftlich generierte Leitlinien oder „Practice Guidelines“ entwickelt und implementiert werden.

evidenzbasierte Technologien

Der „Methodenmarkt“ wird derzeit von einer Vielzahl spezifischer „Trainingsprogramme“ gegen beunruhigende Symptome wie Gewalt, Mobbing und andere abweichende Verhaltensweisen überschwemmt. Sie wurden meist auf der Grundlage verhaltenstheoretischer Erkenntnisse konzipiert, in einer kontrollierten Praxis erprobt und evaluiert und gelten somit als ➔ evidenzbasiert (Schmidt 2006). Gemäß einer Technologie müssen sie in der Praxis ohne Abänderung, also als Blaupause („blue print“) eingesetzt werden. Je mehr von der Persönlichkeit einer Fachkraft ins Spiel kommt, desto ungenauer die Übertragung. Daher wird das Programmpersonal in kostenaufwändigen Kursen eigens dafür geschult und teilweise auch zertifiziert. Luthe (2003) plädiert dafür, den Technologiebegriff für die Soziale Arbeit zu übernehmen, um als ➔ Disziplin und Profession die gleiche Reputation zu erhalten wie die Naturwissenschaften.

strukturelles Technologiedefizit

Kausale Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung oder finale Zusammenhänge zwischen methodischer Vorgehensweise und Ergebnis, die eindeutig und wiederholbar sind (im Sinne von „Methode X bewirkt Ereignis Z“), lassen sich jedoch in der Sozialen Arbeit nicht planmäßig herstellen (und auch nicht immer in naturwissenschaftlichen Zusammenhängen). Auch Ursachenerklärungen sind Konstrukte. Ein und dieselbe problematische Verhaltensweise kann vielfältige Ursachen haben und eine Ursache kann sehr verschiedene Folgen auslösen. Somit führt die vermeintliche Kenntnis einer Ursache nicht im Umkehrschluss zu einer Methode zur Beseitigung dieser Ursache. Alle Komponenten einer Situation können sich aufgrund der strukturellen Komplexität sozialer Prozesse wandeln und sind daher prinzipiell nicht vorhersehbar. Selbst wenn sich ein gewünschtes Ereignis (eine Wirkung) einstellt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob sich dieses Ereignis aufgrund einer methodischen Vorgehensweise oder trotz dieser eingestellt hat. Der Systemtheoretiker Luhmann hat zusammen mit Schorr diese Unmöglichkeit, kausale Zusammenhänge zu bilden, als ➔ strukturelles Technologiedefizit bezeichnet, das für alle sozialen Prozesse und somit auch für die Soziale Arbeit gilt (Luhmann/Schorr 1982).

Bedeutung des Kontextes

Die Herausforderung beginnt schon damit, herauszufinden, worin die Aufgabe und/oder das zu bearbeitende Problem bestehen, wer das Problem „hat“, welche Faktoren es aufrechterhalten, wo es anzusiedeln ist und welche Bedeutung es im Gesamtzusammenhang der Lebensumstände einer Person hat. Denn davon hängt ab, mithilfe welcher Theorien es erklärt werden kann und welche methodische Vorgehensweise ggf. entworfen werden könnte. Dieses alles ist nur in Kenntnis der genauen Umstände und im Dialog mit den Adressatinnen herauszufinden, denn auch vergleichbares Handeln kann sehr verschiedene Motive und Ursachen haben. Die Bedeutung einer ➔ Handlung erschließt sich erst in ihrem individuellen, biografischen und situativen Kontext. Methodisches Handeln beruht gerade auf diesem Phänomen der Einzigartigkeit von Situationen, auf die hin die ➔ Person als Werkzeug ihre Handlungskompetenz einsetzt.

technische Autonomie

Aus all den Gründen wird Fachkräften der Sozialen Arbeit eine „technische Autonomie“ (White 2000) zugestanden: Der in diesem Zusammenhang etwas missverständliche Begriff „technisch“ meint, dass der Staat bzw. seine Instanzen zwar mithilfe von Gesetzen und der Ressourcenverteilung die Zwecke der Sozialen Arbeit steuern, dass aber niemand in der Lage ist, den Professionellen während der Koproduktion (Kap. 1.2.4) sinnvolle Vorschriften zu machen. In ihrer Wahl der Arbeitsmittel und methodischen Vorgehensweisen wurde ihnen daher schon immer eine breite Handlungs- und Entscheidungsautonomie zugestanden (White 2000, 10; Ziegler 2009, 208).

hypothetisch konstruierte Wirkungszusammenhänge

Die strukturelle Besonderheit des Technologiedefizits darf jedoch nicht zum Verzicht auf Planung führen. Handeln zielt grundsätzlich auf Wirkung, daher bildet jeder Handlungsentwurf – ob im Alltag oder im Beruf – explizit oder implizit eine Ziel-Mittel-Relation ab. Hierbei unterscheiden sich Fachkräfte nicht von ihren Adressaten. Könnte man nicht auf Erfahrungen und Wissen zurückgreifen, wäre man ständig auf neue Versuch-und-Irrtum-Strategien angewiesen. Das Planungsproblem in der Sozialen Arbeit lässt sich bearbeiten, indem man hypothetisch die Situation, die Aufgabe oder das Problem und seine (wissenschaftliche) Erklärung, den gewünschten Zustand (ein Ziel) sowie vermutlich dazu passende Handlungsschritte und ihre abzusehenden Folgen in einen vorläufigen ➔ Wirkungszusammenhang bringt, auf dessen Grundlage man weiter vorgehen kann. Dieser kann immer noch falsch oder unangemessen sein, weshalb die Planung weiter offen gehalten und ggf. verändert werden muss (Sturzenhecker 2009). Hypothetisch entworfene Wirkungszusammenhänge sollen – im Gegensatz zum technologischen Denken – nicht die Illusion erzeugen, man könne „Ergebnisse“ in der Sozialen Arbeit wie industrielle Produkte planmäßig herstellen. Sie dienen in erster Linie dazu, die eigenen Konstruktionen transparent zu halten (Kap. 4.2.4).

Konsequenzen aus dem strukturellen Technologiedefizit

Versuche, die Praxis durch Technologien „in den Griff zu bekommen“, beruhen auf der in Kap. 1.2.2 skizzierten, im erzieherischen Sinne „optimistischen“ Vorstellung, man könne Menschen durch gut geplante Interventionen zu einem spezifizierten Ziel führen. Dass dies so nicht geht, besagen u. a. Befunde aus der nutzerfokussierten ➔ Wirkungsforschung: direkte Interventionen „am Menschen“ sind nur mit etwa 7 % an Erfolgen beteiligt; andere Wirkfaktoren, wie z. B. die Qualität der Arbeitsbeziehung, sind wesentlich einflussreicher (Ziegler 2009, ausführl. Kap. 2.2.3).

In Anbetracht der systemtheoretisch begründeten Einsicht, dass soziale Zusammenhänge durch subjektive Konstruktions- und Rekonstruktionsprozesse konstituiert werden, sind Technologien kritisch zu beurteilen. Menschen sind keine trivialen Maschinen, die wie ein Waschmaschinenprogramm funktionieren. Sie haben Bedürfnisse, Interessen, Emotionen, können Entwicklungen voraussehen, Folgen von Handlungen abschätzen, Pläne durchkreuzen oder ändern, zusammenarbeiten oder sich verweigern, sich selbst beim Handeln beobachten und gleichzeitig darüber reflektieren, dass sie beobachten usw. Das alles macht methodische Planung schwierig – manche meinen, es mache sie sogar unmöglich (Weber 2012). Das den Technologien immanente Menschenbild (Mensch als Objekt) steht auch im Widerspruch zu den Anforderungen einer ➔ individualisierten und pluralisierten Gesellschaft, die auf Menschen angewiesen ist, die ihr Leben weitestgehend selbst gestalten (Beck 1986). Somit wäre es ein Widerspruch, ihnen den Subjektstatus vorzuenthalten. Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?

Es ist nicht zu verwerfen, dass Technologien entwickelt werden, denn eine Wissenschaft Soziale Arbeit muss bestrebt sein, das Wissen über soziale Prozesse und auch Wirkfaktoren zu vermehren und für die Praxis nutzbar zu machen. Der Unterschied liegt im Umgang der Professionellen mit diesen.

Technologien beinhalten – sofern sie nicht einfach vermeintlich kausale Zusammenhänge in (finale) Ziel-Mittel-Entwürfe überführen – eine Kombination von Zielen und methodischen Vorgehensweisen, die sich bei der Bearbeitung bestimmter Probleme bewährt haben. Meist beruhen sie auf empirisch gewonnenen Forschungsergebnissen. Insofern sind sie ähnlich konstruiert wie ➔ Konzepte. Beide bilden wertvolle Fundgruben für die Konstruktion hypothetischer, revidierbarer Wirkungszusammenhänge.

Nimmt man jedoch den Anspruch einer Technologie als konkrete Handlungsanleitung, die ohne Abweichung umgesetzt werden muss, wörtlich, begeht man einen „Kunstfehler“. Es gilt die alte sozialpädagogische Weisheit, dass „jeder Fall anders“ ist. ➔ Professionalität zeigt sich gerade darin, dass man für jede Situation eine spezielle Vorgehensweise entwirft bzw. diese passgenau auf die Situation „zuschneidet“. Dieses ist die wichtigste und vornehmste Aufgabe der Professionellen, denen hierfür eine technische Autonomie zugestanden wird.


Sturzenhecker, B. (2009): Revisionäre Planung – Bedeutung und Grenzen von Konzeptentwicklung in der „organisierten Anarchie“ von Jugendarbeit. Juventa, Weinheim.

1.2.4Koproduktion

neues Steuerungsmodell im Dienstleistungsdiskurs

Angestoßen durch die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt 1993, 1994) begann Mitte der 1990er Jahre die Umstellung der öffentlichen Sozialverwaltung gemäß den betriebswirtschaftlichen Prinzipien des ➔ Neuen Steuerungsmodells, die sich weit über zehn Jahre hinzog und Mitte des ersten Jahrzehnts noch einmal durch die ➔ wirkungsorientierte Steuerung intensiviert wurde. Damit änderte sich auch ein Teil des Begriffsinventars der Sozialen Arbeit (Peters 2011, 190 f.). Leistungen und Angebote wurden zu Produkten, Adressaten/Klienten/Betroffene wurden als Kunden bezeichnet, und die Soziale Arbeit als Ganzes firmierte unter soziale Dienstleistung. Kritisch auf diese Entwicklung bezogen arbeitete eine Gruppe von Wissenschaftlern im Zusammenhang mit der Universität Bielefeld an einer Theorie der Sozialen Arbeit als personenbezogene soziale Dienstleistung (Böllert 2018). Sie entstand in den 1990er Jahren und bereicherte die Fachtermini u. a. um den Begriff der ➔ Koproduktion.

Produktion und Konsumtion fallen zusammen

Ein industriell gefertigtes Produkt (z. B. ein Auto) ist das Ergebnis eines sorgfältig geplanten und in allen Einzelheiten festgelegten Produktionsprozesses. Es wird nach seiner Fertigstellung gelagert und früher oder später verkauft. Im Unterschied dazu ist eine personenbezogene Dienstleistung ein Akt, in dem eine Leistung gleichzeitig produziert und konsumiert (verbraucht) wird. Sie ist nicht „lagerfähig“ wie das fertige Auto. Fachkräfte der Sozialen Arbeit können ihre Angebote nicht vorproduzieren, sondern müssen ihre Arbeit direkt mit ihren „Kunden“ erbringen: Beide Seiten müssen zur gleichen Zeit in der „Produktion“ zusammenarbeiten und dazu in eine mehr oder weniger persönliche, vertrauensvolle Beziehung zueinander treten. Soziale Arbeit erfolgt somit „uno actu“, d. h. „Produktion“ und „Konsumtion“ fallen zusammen. Das gewünschte Ergebnis erfordert also immer die Mitwirkung der Adressatinnen, mehr noch: Es ist ein gemeinsames „Produkt“, das Ergebnis einer Koproduktion (Ortmann 1996, 63).

Adressaten als aktive Konsumenten bzw. Koproduzenten

Des Weiteren wurde diskutiert, neben der gemeinsamen räumlichen und zeitlichen Anwesenheit der Adressatinnen (Kundenpräsenz) auch die Kundenpräferenz einzubeziehen. Das beinhaltet die alte Forderung, sich an den Bedürfnissen und Interessen der Adressaten zu orientieren, hier mit einer neuen Begründung und mit neuen Begriffen. Indem man die Adressaten zu Kunden stilisiert, stattet man sie mit „Marktmacht“ aus und erhebt sie in einen höheren Status. Sie werden zu „aktiven Konsumenten“ (Gartner/Riessman 1978) bzw. „Koproduzenten“ (Badura/Gross 1976) in einer per Definition „klientengesteuerten“, personenbezogenen sozialen Dienstleistung. Flößer (1994) formuliert auf der Basis dieser Grundannahmen und mit Bezug auf Beck (1986) eine Dienstleistungskonzeption, die sich nicht mehr auf die Erbringung von Leistungen gegenüber den Adressaten beschränkt. Es geht auch um das Angebot der Sozialen Arbeit an sich und um die Aushandlungsprozesse zwischen der Organisation und ihren Abnehmern. Das Angebot soll sich an den „Nachfragebedingungen“ orientieren und die „Beteiligung der Nachfragenden“ in der Organisation sowie zwischen Sozialer Arbeit und den „Instanzen lokaler Politik“ (Flößer 1994, 151 ff.) etablieren. Adressaten bzw. Nutzer sozialer Dienstleistungen erhalten in diesem Konzept eine zentrale Position.

Adressaten als Produzenten ihres eigenen Lebens

Schaarschuch (2001, 272) nimmt die ➔ Subjektorientierung zum Ausgangspunkt und folgert, dass die Tätigkeit der Professionellen der Tätigkeit der Adressaten – als den Produzenten ihres eigenen Lebens – strukturell nachgeordnet sein muss. Aufgrund dessen werden Professionelle zu „Ko-Produzenten“, während die Nutzer die Profession steuern. Schaarschuch konstatiert jedoch, dass diese Sichtweise eine Demokratisierung der sozialen Institutionen erfordere, für deren Realisierung es leider keine Anzeichen gäbe. Jedoch deuten einige Projekte zur umfassenden Demokratisierung von Einrichtungen (MfSGFG Schleswig-Holstein 2012, Diakonieverbund Schweicheln 2006) in diese Richtung.

Konsequenzen aus der Koproduktion

Es ist nicht nur eine moralische Frage, ob man die Adressaten als Objekte oder als Subjekte versteht und behandelt:

Befunde aus der Theorie der sozialen Dienstleistung bestätigen Erkenntnisse aus anderen Zusammenhängen. In der Sozialen Arbeit können „Ergebnisse“ nicht als Resultat einseitiger, im Voraus geplanter sozialpädagogischer Interventionen betrachtet werden. Sie entstehen in Interaktionssituationen – als Produkt aller Beteiligten. Ohne die Adressatinnen kommt eine soziale Dienstleistung nicht zustande. Diese lassen sich nur dann auf die Zusammenarbeit ein, wenn sie sich davon einen Nutzen erhoffen.

Fachkräfte sollten sich als Koproduzenten verstehen, die den Produzenten (Adressaten) bei der Gestaltung ihrer Lebensaufgaben „assistieren“ (Kunstreich et al. 2004). Dazu gehört, Rahmenbedingungen zu arrangieren, Anregungen und kritische Unterstützung zu geben und ihnen eine Umgebung und „Material“ zur Verfügung zu stellen, die solche Produktionsprozesse ermöglichen. Damit tragen sie einen (ihren) Teil zum Gelingen der Koproduktion bei.

Ob die Angebote angenommen werden, in welcher Form die Adressaten diese für sich nutzen, und was dabei herauskommt, ist nicht in Gänze vorhersehbar. Fachkräfte müssen jedoch wissen, für welchen Bereich der Koproduktion sie zuständig und verantwortlich sind. Es wäre unverantwortlich, Adressatinnen im wörtlichen Sinne als „Kundinnen“ zu stilisieren, die Angebote annehmen oder ablehnen und auch die Folgen ihrer Ablehnung tragen. Adressaten sind häufig (zumindest vorübergehend) gerade nicht in der Lage, ihre Belange selbstverantwortlich zu gestalten. Professionelle müssen mitreflektieren, unter welchen Umständen es zum Scheitern der Arbeitsbeziehung kommt, denn sie sind auch für die Gestaltung der Bedingungen einer förderlichen Zusammenarbeit verantwortlich.


MfSGFG Schleswig-Holstein (2012): Demokratie in der Heimerziehung. Kiel

Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit

Подняться наверх