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Kapitel 5

Seit dem Erlebnis mit dem Hahn mochte sie keine Hühner mehr. Wenn sie die Tiere füttern oder Eier aus dem Stall holen musste, tat sie dies nur widerwillig. Auch dem nächsten Hahn, den ihr Vater irgendwann mitgebracht hatte, ging sie wenn möglich aus dem Weg. Den Hahn, der ihr die Narbe zugefügt hatte, hatte ihr Vater kurze Zeit später geschlachtet und am Sonntag darauf gab es ihn zum Mittagessen.

Sie hatte sich immer davor geekelt, die Tiere zu essen, die sie zuvor gestreichelt und beim Namen genannt hatte. Doch zumindest bei diesem Hahn und auch bei den Hühnern verdarb ihr der Gedanke daran nicht den Appetit. Sie hatten keine Namen und ließen sich nicht streicheln. Außerdem liebte sie es, einen Hähnchen-Schenkel oder Flügel abzunagen und die knusprige Haut zu essen.

Meist gab es ein solches Essen immer nur zu besonderen Anlässen, wenn jemand Geburtstag hatte und Besuch gekommen war. Dann war sie froh, wenigstens ein kleines Stück davon abzubekommen. Selbst die Hasen, die sie später hatten und die sie immer sehr gerne gestreichelt hatte, hießen alle Hans oder Hänschen. Heute musste sie darüber lachen und war sich sicher, dass ihre Eltern dahinter steckten, weil derselbe Name für alle Hasen sehr viel anonymer war und es deshalb später am Küchentisch weniger Ärger gab.

Ihre Mutter war immer darauf bedacht, dass ihre Kinder nicht zusahen, wenn der Vater ein Tier schlachtete. Vor allem bei ihren Brüdern erhöhte dies den Reiz, unauffällig in der Nähe zu stehen. Einmal war auch sie dabei, als ein Huhn sozusagen kopflos noch einige Meter auf dem Hof umher rannte und irgendwann liegen blieb.

Später, nach dem Tod der Mutter, musste sie ihrem Vater dabei helfen und hatte sich irgendwann damit abgefunden. Was sie bis heute nicht ertragen konnte, war, beim Schlachten eines Hasen oder eines Schweins zuzusehen. Einmal hatte sie es getan und der Geruch des warmen Blutes verursachte bei ihr einen Brechreiz, dem sie nicht sehr lange widerstehen konnte.

Ihre Mutter starb bei der Geburt von Anton, ihres jüngeren Bruders, den sie von ihren drei Geschwistern am liebsten hatte. Die anderen mochte sie auch, sogar ihren älteren Bruder Albert, der nie eine Gelegenheit ausgelassen hatte, sie zu ärgern und ihr das Leben schwer zu machen. Mittlerweile konnte sie darüber schmunzeln und vermisste ihn sogar. Er war gleich zu Beginn des Krieges eingezogen worden und bereits einen Tag nach dem Einmarsch in Polen gefallen.

Zu ihrer Mutter hatte sie immer ein gutes und meist sogar ein sehr gutes Verhältnis. Sie hatten oft unter vier Augen und in Ruhe miteinander geredet. Meist saß die Mutter abends noch an ihrem Bett und sie sprachen über die Dinge, die ein kleines Mädchen eben beschäftigten. Über Dinge, die ihr auf dem Herzen lagen und die sie nicht einmal ihrer besten Freundin anvertraut hätte.

Sie erzählte davon, wenn sie sich mit Albert gestritten hatte. Wenn der Vater den Streit zu schlichten versuchte und sie sich dabei ungerecht behandelt fühlte. Dies kam hin und wieder vor, obwohl sie heute, mit dem entsprechenden Abstand dazu, manche Dinge nicht mehr so dramatisch sah wie damals.

Sie erzählte ihr von den Kindern in der Schule und vom strengen Lehrer, der ihr einmal sogar mit dem Lineal den Hintern versohlte. Sie hatte während des Unterrichts mit ihrer besten Freundin gesprochen, die neben ihr saß und ihr heimlich Fotos von Pferden zeigte, die sie aus der Zeitung ausgeschnitten hatte. Wie das jüngere ihrer beiden Pferde hieß auch ihre Freundin Elsa und manchmal musste sie selbst lachen, wenn Albert Witze darüber machte.

Die Pferde auf den Bildern waren Araber, die so stolz und majestätisch aussahen, dass sie in Gedanken sofort weit weg war und mit offenen Augen davon träumte, auf einem solchen Vollblüter durch die Wüste zu reiten. Die Luft war heiß und schwer und sie meinte zu spüren, wie ihre Kehle vor Durst immer trockener wurde. Der schwarze Hengst war so mühelos und schnell unterwegs, dass sie den Wind in ihrem Gesicht und in ihren Haaren fühlen konnte. Die Luft tat ihr gut, doch bevor sie mit dem Pferd am Horizont verschwunden war, holte sie ihr Lehrer aus dem Traum in die Realität und auf die Schulbank zurück.

Den Rest des Tages tat ihr der Hintern weh und sie versuchte sich einzureden, dass es von ihrem Ritt auf dem Araber kam. Sie traute sich nicht, zuhause davon zu erzählen und schaffte es sogar, Albert zu überreden, den Eltern nichts zu sagen. Er hatte es mitbekommen, weil schon damals alle Klassen in einem einzigen Raum unterrichtet wurden. Und erst abends, als die Mutter an ihr Bett kam, brach es aus ihr heraus und sie schluchzte so leise wie möglich vor sich hin.

Paula, mit der sie das kleine Zimmer teilte, war bereits eingeschlafen und merkte tatsächlich nichts davon, dass die Mutter am Bett saß und ihre ältere Schwester am Weinen war. Auch ihre Mutter flüsterte nur und versuchte sie leise zu trösten. Später hatte sie diese Situation hin und wieder ausgenutzt, wenn sie ihrer Mutter etwas beichten musste und verhindern wollte, dass sie zu sehr mit ihr schimpfte.

Allzu oft kam dies aber nicht vor und sie liebte ihre Mutter, die sich auch tagsüber immer wieder Zeit nahm und eine gute Zuhörerin war. Den anderen Kindern ging es genauso und die Mutter war für sie alle die wichtigste Anlaufstelle und der Mittelpunkt der Familie. Heute war sie sich sicher, dass auch ihr Vater dies zu schätzen wusste. Dass ihre Eltern eine glückliche Ehe führten und die beiden bis zum Tod der Mutter ein sehr enges und vertrauensvolles Verhältnis hatten.

An die Beerdigung ihrer Mutter konnte sie sich noch gut erinnern. Die Anteilnahme der Dorfbewohner war sehr groß und sie sah noch heute den Pfarrer vor sich, der mit Tränen in den Augen die Trauerrede hielt. Ihr Vater hatte danach nicht mehr geheiratet und vor allem sie und Albert mussten ihn so gut es ging im Haushalt und in der Landwirtschaft unterstützen. Der damals elfjährige Bruder in der Landwirtschaft, sie vor allem im Haushalt.

Den Verlust ihrer Mutter hatte sie erstaunlich gut verkraftet. Mit ihren neun Jahren war sie anscheinend noch nicht dazu in der Lage und hatte auch keine Zeit, zu trauern und sich leid zu tun. Das Leben auf dem Hof war hart und musste weitergehen. Einen geliebten Menschen zu verlieren, war damals auch in anderen Familien zwar nicht die Regel, kam aber doch immer wieder vor.

Heute hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie aufgrund der vielen Arbeit nicht richtig Zeit dazu gefunden hatte, um angemessen um ihre Mutter zu trauern und sie zu vermissen. Doch gleichzeitig war die Situation, mit der ihr Vater und die Kinder plötzlich zurechtkommen mussten, die einzige Möglichkeit, den Tod der Mutter irgendwie zu verkraften.

Trotzdem hinterließ sie eine unendlich große Lücke und es war nicht nur die Frage, wie das neugeborene Kind nun versorgt werden sollte. Es ging ebenso und noch viel mehr um die Frage, was die Familie weiterhin zusammenhielt. Ihre Mutter war der Mittelpunkt dessen, was sich im Haus und auf dem Hof abgespielt hatte. Bei ihr liefen die Fäden zusammen und jeder, einschließlich ihres Vaters, hatte bei ihr einen Ort, an dem er zur Ruhe kommen konnte.

Dieser Zufluchtsort, an dem sie sich bei Bedarf hatte ausweinen können, war nun plötzlich nicht mehr da. Und trotz der vielen Verpflichtungen, die sie vom Verlust ihrer geliebten Mutter erfolgreich ablenkten, fehlte sie ihr sehr. Auch die anderen, und selbst ihr Vater, hatten Momente, in denen der Schmerz so urplötzlich und rücksichtslos hochkam, dass es keine Möglichkeit gab, sich dagegen zu wehren.

Sie hatte ihren Vater ansonsten nie weinen sehen. Selbst bei der Beerdigung stand er mit regungslosem Blick am Grab oder lenkte sich damit ab, nach den Kindern zu sehen. Doch an diesem Abend saßen sie beim Essen und aßen das Brot, das nun sie als älteste Tochter immer zu backen hatte. Schon damals in ihrem Heimatort ging sie dazu ins Backhaus, weil sie zuhause keinen Backofen hatten.

Sie machte das Brot nach dem Rezept, das ihr die Mutter beigebracht hatte. Sie zerrieb die Hefe zwischen den Fingern und tat sie in einen Liter Wasser. Dann gab sie fünf Prisen Salz dazu und schüttete etwa eineinhalb Pfund Mehl in die graue Flüssigkeit. Oder eben so viel, bis der Teig nicht mehr an den Fingern kleben blieb und sich gut kneten ließ. Dann gab sie den Teig in zwei Blechformen, legte ein Geschirrtuch darüber und ließ ihn etwa eine Stunde gehen. Schließlich kamen die Kapseln für etwa eine Stunde in den Backofen.

Das Brot war noch warm und schmeckte hervorragend. Doch Albert nahm einen Bissen und meinte spontan, dass die Mutter viel besseres Brot backen konnte und dass er sie sehr vermisst. Normalerweise hasste sie ihren Bruder, wenn er sie kritisierte. Doch heute widersprach sie ihm nicht und auch die anderen waren schlagartig still. Wenn fünf Personen um den Küchentisch sitzen, ist dies normalerweise unmöglich. Obwohl ihre Eltern sie dazu erzogen hatten, beim Essen nicht zu reden, sondern ihre Teller leer zu essen.

Die älteren Kinder schauten betreten auf ihren Teller und wagten nicht, etwas zu sagen oder gar ihren Vater anzusehen. Der saß einen Moment lang ebenfalls still am Tisch und fing dann an zu heulen, wie sie es seither nur bei kleinen Kindern gesehen hatte. Anscheinend hielt er es für unpassend, vor den Kindern Schwäche zu zeigen. Er stand auf und ging schnell, immer noch weinend, aus der Küche. Sie sahen ihn an diesem Abend nicht mehr und kümmerten sich selbst darum, die Kleinen ins Bett zu bringen und dann selbst schlafen zu gehen.

Bei der Laterne wolln wir stehn

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