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Kapitel 1 Gibt es einen »Neo-Rassismus«?*

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Étienne Balibar

Wieweit ist es heute angebracht, von einem »Neo-Rassismus« zu sprechen? Das aktuelle Geschehen, dessen Formen von Land zu Land etwas verschieden ausfallen, aber doch deutlich erkennen lassen, dass es sich um ein transnationales Phänomen handelt, zwingt uns dazu, diese Frage zu stellen. Allerdings können dieser Frage zwei verschiedene Bedeutungen gegeben werden: Einerseits die, ob wir heute vor einer historischen Erneuerung der rassistischen Politiken und Bewegungen stehen, die ihre Erklärung in einer Krisenlage oder etwa auch in anderen Ursachen findet, andererseits die, ob es sich hinsichtlich der von ihm besetzten Themen und seiner gesellschaftlichen Bedeutung um einen neuen Rassismus handelt, der sich nicht auf die früher aufgetretenen »Modelle« reduzieren lässt. Ich werde im Folgenden vor allem der Frage in der zweiten Bedeutung nachgehen.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Hypothese, es handele sich um einen »Neo-Rassismus« – jedenfalls in Bezug auf Frankreich – im Ausgang von einer immanenten Kritik der Theorien, der Diskurse, entwickelt worden ist, die auf der Ebene einer Anthropologie oder einer Geschichtsphilosophie dazu beitragen, eine Politik der Ausgrenzung zu legitimieren. Dabei ist nur wenig Mühe darauf verwandt worden, eine Verbindung zwischen der Neuartigkeit der vorgetragenen Thesen und dem neuen Charakter der politischen Situationen bzw. den gesellschaftlichen Veränderungen herzustellen, die dazu geführt haben, dass diese neuen Thesen überhaupt »greifen«. Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass die theoretische Dimension des Rassismus heute wie damals zwar historisch relevant, aber weder eigenständig noch primär ist. Der Rassismus gehört vielmehr – als ein wahrhaft »totales soziales Phänomen« – in den Zusammenhang einer Vielzahl von Praxisformen (zu denen Formen der Gewaltanwendung ebenso gehören wie Formen der Missachtung, der Intoleranz, der gezielten Erniedrigung und der Ausbeutung) sowie von Diskursen und Vorstellungen, die nichts weiter darstellen als intellektuelle Ausformulierungen des Phantasmas der Segregation bzw. der Vorbeugung (d. h. der Notwendigkeit, den Gesellschaftskörper zu reinigen, die Identität des »eigenen Selbst« bzw. des »Wir« vor jeder Promiskuität, jeder »rassischen Vermischung« oder auch jeder »Überflutung« zu bewahren) und die sich um die stigmatisierenden Merkmale des radikal »Anderen« (wie Name, Hautfarbe und religiöse Praxisformen) herum artikulieren. Im Rassismus geht es demgemäß darum, Stimmungen und Gefühle zu organisieren (deren zwanghaften Charakter, aber auch deren »irrationale« Ambivalenz die Psychologen vielfach beschrieben haben), indem sowohl ihre »Objekte«, als auch ihre »Subjekte« stereotypisiert werden. Aus ebendieser Kombination unterschiedlicher Praxisformen, Diskursformen und Vorstellungen in einem ganzen Netz von Gefühls-Stereotypen lässt sich die Herausbildung einer rassistischen Gemeinschaft erklären (oder auch einer Gemeinschaft von Rassisten, zwischen denen aus wechselseitigem Abstand wirksame »Nachahmungs«-Verbindungen bestehen) sowie auch die Art und Weise, wie sich gleichsam spiegelbildlich die Individuen und Kollektive, die dem Rassismus ausgesetzt sind (also dessen »Objekte«), dazu gezwungen sehen, sich selbst als eine Gemeinschaft wahrzunehmen.

Wie absolut, wie unerbittlich, dieser Zwang auch sein mag, für seine Opfer bleibt er offenbar dennoch immer als Zwang wahrnehmbar: Weder kann er (wie bei A. Memmi nachzulesen) ohne Konflikte verinnerlicht werden, noch den Widerspruch auslöschen, dass kollektiven Zusammenhängen eine Gemeinschaftsidentität zugeschrieben wird, denen zugleich das Recht bestritten wird, sich selbst zu definieren (lesen wir Fanon!). Dieser Zwang, sich als Gemeinschaft wahrzunehmen, hebt auch nicht den in den Handlungen, Diskursen, Theorien und Rationalisierungen (der Rassisten, A. d. Ü.) enthaltenen Überschuss an Gewaltsamkeit auf. Aus der Perspektive seiner Opfer besteht also eine wesentliche Asymmetrie des rassistischen Komplexes, die den Taten und dem Übergang zur Tat einen unbestreitbaren Primat über die Lehren verleiht – wobei als Taten natürlich nicht nur physische Gewalttaten und Diskriminierungen zu begreifen sind, sondern auch durchaus Worte, die durch Worte ausgeübte Gewalt in Form von Verachtung und Aggression. Dies führt uns zunächst dazu, die Veränderungen in der Lehre und der Sprache (der Rassisten, A. d. Ü.) zu relativieren: Muss man solchen Rechtfertigungen, die immer dieselbe Struktur bewahren (die Struktur, jedes Recht zu verweigern), auch wenn sie aus der Sprache der Religion in die der (Natur-) Wissenschaft oder aus der Sprache der Biologie in die der Kultur und der Geschichte überwechseln, solange sie zu denselben Taten führen, überhaupt eine derartige Bedeutung zuschreiben?

Diese Bemerkung ist durchaus richtig, sie ist sogar von zentraler Bedeutung – aber sie beseitigt noch nicht das Problem. Denn eine Zerstörung des Rassismus setzt nicht nur voraus, dass dessen Opfer dagegen revoltieren, sondern auch die Rassisten selbst müssen sich verändern. Dementsprechend muss es zu einer Ersetzung der rassistischen Gemeinschaft von innen heraus kommen. Dies lässt sich mit der Bekämpfung des Sexismus vergleichen, dessen Überwindung zugleich die Revolte der Frauen und die Zersetzung der Gemeinschaft der »Männchen« erfordert. Nun sind aber die rassistischen Theorien für die Herausbildung dieser Gemeinschaft unverzichtbar. Es gibt in der Tat ohne Theorie(n) keinen Rassismus. Es wäre ganz und gar müßig, sich zu fragen, ob die rassistischen Theorien eher aus den Eliten oder aus den Massen, aus den herrschenden oder aus den beherrschten Klassen stammen. Dagegen liegt es auf der Hand, dass sie jedenfalls von Intellektuellen »rationalisiert« werden. Und es ist sogar äußerst wichtig, sich die Frage zu stellen, welche Funktion die theoretischen Ausarbeitungen des Rassismus (dessen Prototyp die evolutionistische Anthropologie der »biologischen Rassen« darstellt, wie sie sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts herausgebildet hat) für die Verfestigung der Gemeinschaft haben, die sich um den Signifikanten der »Rasse« herum bildet.

Diese Funktion scheint mir nicht ausschließlich in der allgemeinen Fähigkeit zu einer Organisierung der intellektuellen Rationalisierungen (was Gramsci als deren »Organizität« bezeichnet hat und Auguste Comte als deren »geistige Macht«) zu bestehen, und auch nicht in der Tatsache, dass die Theorien des Rassismus ein Bild einer Gemeinschaft, einer auf der Herkunft beruhenden Identität ausarbeiten, in dem sich Individuen aus allen Klassen wieder erkennen können. Sie liegt vielmehr in der Tatsache, dass diese Theorien den wissenschaftlichen Diskurstyp nachahmen, indem sie sich auf sichtbares »Beweismaterial« stützen (von daher erklärt sich die wesentliche Bedeutung der rassischen, insbesondere der körperlichen Stigmata, für den Rassismus). Genauer gesagt ahmen sie die Art und Weise nach, in der der wissenschaftliche Diskurstyp »sichtbare Tatsachen« auf »verborgene« Ursachen zurückführt und bilden so die Vorhut einer spontanen Theoriebildung, wie sie sich innerhalb des Rassismus der Massen vollzieht.1 Ich möchte mich hier zu dem Gedanken vorwagen, dass sich im Rassismus auf eine unauflösbare Weise die zentrale Funktion der Verkennung (ohne die Gewalttätigkeit nicht einmal für diejenigen, die sie ausüben, zu ertragen wäre) mit einem »Willen zum Wissen« vermischt, d. h. mit einem heftigen Begehren nach Erkenntnis, nach einer unmittelbaren Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese beiden Funktionen verstärken sich ständig wechselseitig, weil für alle gesellschaftlichen Individuen und Gruppen die eigene kollektive Gewalttätigkeit ein beängstigendes Rätsel bildet, für das dringend eine auflösende Erklärung gefunden werden muss. Hier zeigen übrigens die Ideologen des Rassismus eine besondere intellektuelle Haltung, wie raffiniert ihre Ideologien auch ausgearbeitet sind. Im Unterschied beispielsweise zu den Theologen, die unbedingt zwischen einem esoterischen spekulativen Denken und einer Lehre für den Volksgebrauch einen Abstand aufrechterhalten müssen (wenn auch, um nicht in den Fehler der Gnosis zu verfallen, keinen vollständigen Schnitt), haben die historisch wirksamen rassistischen Ideologen immer in diesem Sinne »demokratische« Lehren ausgebildet, d. h. solche, die unmittelbar zugänglich und gleichsam im Vorhinein dem niedrigen Intelligenzgrad angepasst waren, der den Massen dort zugeschrieben wird, wo es um die Ausarbeitung einer Ideologie der Elitebildung geht. D. h. es ging ihnen immer um solche Lehren, die in der Lage waren, ganz unmittelbar einen Schlüssel dafür an die Hand zu geben, nicht nur das zu interpretieren, was die Individuen erleben, sondern auch das, was sie innerhalb der gesellschaftlichen Welt sind – darin sind sie der Astrologie, der Charakterologie und Ähnlichem verwandt. Das gilt selbst dann, wenn ein solcher Schlüssel die Form der Offenbarung eines »Geheimnisses« der conditio humana annimmt (d. h. wenn mit ihm ein Geheimnis-Effekt als wesentliche Bedingung für seine imaginäre Wirksamkeit verknüpft ist, wie dies vor allem Léon Poliakov2 belegt hat).

Genau hierin liegt auch die Schwierigkeit, vor der jeder Versuch steht, den Inhalt des Rassismus der Wissenschaftler und vor allem dessen Einfluss zu kritisieren. Es ist in der Tat eine der Konstruktionsvoraussetzungen seiner Theorien, dass es sich bei dem gesuchten, von den Massen begehrten Wissen um ein ganz elementares Wissen handelt, das nichts weiter tut, als deren spontane Gefühle zu rechtfertigen bzw. diese Massen zur Wahrheit ihrer Instinkte zurückzuführen. Bebel hat bekanntlich den Antisemitismus als den »Sozialismus der dummen Kerls« bezeichnet und Nietzsche hat ihn für die Politik der Schwachsinnigen gehalten (was ihn allerdings keineswegs daran gehindert hat, seinerseits einen großen Teil der rassistischen Mythologie wieder aufzugreifen). Können wir unsererseits, wenn wir hier die rassistischen Lehren als auf spezifische Weise demagogische Theorien kennzeichnen, deren Wirksamkeit darauf beruht, dass sie auf das bei den Massen vorliegende Begehren nach Wissen im Vorhinein eine Antwort zu geben versuchen, dieser Doppeldeutigkeit entgehen? Die Kategorie der »Masse« (oder auch des Volkstümlichen) ist als solche keineswegs neutral, sondern steht in direktem Zusammenhang mit der Logik der Unterwerfung des Gesellschaftlichen unter die Denkformen von Natur und Rasse. Um auch nur zu beginnen, diese Doppeldeutigkeit aufzulösen, genügt es keinesfalls, zu untersuchen, wie der »Mythos« des Rassismus dazu kommt, einen derartigen Einfluss auf die Massen auszuüben, wir müssen uns auch fragen, warum es anderen soziologischen Theorien, die im weitesten Sinne im Rahmen einer Arbeitsteilung zwischen »Kopf-« und »Handarbeit« erarbeitet worden sind, nicht ebenso leicht gelingt, sich mit diesem Begehren nach Wissen zu verbinden. Die Mythen des Rassismus (der »Mythos der arischen Rasse« und der Mythos der Vererbung) sind dies nicht allein aufgrund ihres pseudowissenschaftlichen Inhalts, sondern ebenso als Formen einer imaginären Überwindung des Grabens, der die Intellektuellen von der Masse trennt, und als solche untrennbar mit dem Fatalismus verbunden, der die Massen in ihrer sogenannten natürlichen Infantilität festhält.

Hiermit können wir zur Frage des »Neo-Rassismus« zurückkehren. Wie ich bereits gesagt habe, liegt die Schwierigkeit nicht so sehr darin, die Tatsache das Rassismus zu erkennen – hierfür bietet die Praxis ein hinreichend sicheres Kriterium, jedenfalls wenn wir uns nicht von den Verleugnungen ablenken lassen wollen, die die Praxis des Rassismus insbesondere von Seiten eines großen Teils der »politischen Klasse« erfährt, die damit nur ihr geheimes Einverständnis oder ihre interessierte Blindheit zum Ausdruck bringt. Die Frage ist vielmehr, wie wir erkennen können, in welchem Maße eine relativ neue Sprache als Ausdruck einer neuen Artikulation zu begreifen ist, in der sich in einer auf Dauer angelegten Weise gesellschaftliche Praxis und kollektive Vorstellungen, Lehren von Wissenschaftlern und politische Bewegungen miteinander verbinden. Kurzum, um mit Gramsci zu sprechen, die entscheidende Frage liegt darin, zu erkennen, ob sich hier so etwas wie ein Hegemonie-Verhältnis abzeichnet.

Die Art und Weise, wie die Kategorie der Immigration als Ersatz für den Begriff der Rasse und damit als Agens einer Zersetzung des »Klassenbewusstseins« funktioniert, liefert uns hierfür einen ersten Hinweis. Ganz offensichtlich haben wir es hier nicht einfach mit einer Tarnungsoperation zu tun, die aufgrund des mehr als schlechten Rufs des Ausdrucks »Rasse« und seiner Ableitungen nötig geworden wäre; und es handelt sich auch nicht ausschließlich um eine Auswirkung der Strukturveränderungen, die sich innerhalb der französischen Gesellschaft vollzogen haben. Schon seit langem sind die kollektiven Zusammenhänge der Arbeitsimmigranten Diskriminierungen und fremdenfeindlichen Gewalttätigkeiten ausgesetzt, die ihrerseits von den Stereotypen des Rassismus durchdrungen sind. Bereits in der Zwischenkriegszeit, also in einer früheren Krisenperiode, konnte man erleben, wie Kampagnen gegen die »Mischlinge« (seien sie nun Juden gewesen oder nicht) entfesselt wurden, die über den Rahmen der faschistischen Bewegungen hinaus wirksam waren und deren logische Vollendung dann der Beitrag des Vichy-Regimes zum Hitler’schen Vernichtungsunternehmen gewesen ist. Warum hat man damals nicht den »biologischen« Signifikanten durch den »soziologischen« ersetzt und ihn zum ideologischen Schlussstein der Darstellungsformen des Hasses auf den Anderen und der Furcht vor ihm gemacht? Neben dem unbestreitbaren Gewicht der spezifisch französischen Tradition des anthropologischen Mythos ist ein Grund wahrscheinlich der institutionelle und ideologische Bruch, der damals noch zwischen der Wahrnehmung der (im wesentlichen aus Europa kommenden) Einwanderung und den Erfahrungen des Kolonialismus bestand (einerseits wird Frankreich »erobert«, andererseits »herrscht« es). Der Andere ist das Fehlen eines neuen weltweiten Modells der Artikulation von Staaten, Völkern und Kulturen.3 Diese beiden Gründe hängen im Übrigen zusammen. Der neue Rassismus ist ein Rassismus der Epoche der »Entkolonialisierung«, in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten »Mutterländern« umkehrt und sich zugleich die Aufspaltung der Menschheit innerhalb eines einzigen politischen Raumes vollzieht. Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines »Rassismus ohne Rassen«, wie er sich außerhalb Frankreichs, vor allem in den angelsächsischen Ländern, schon recht weit entwickelt hat: eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf »beschränkt«, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differenzialistischer Rassismus bezeichnet worden (vgl. etwa P. A. Taguieff4).

Um die Bedeutung dieser Argumentation hervortreten zu lassen, sind die politischen Konsequenzen festzuhalten, die sich aus dieser Veränderung ergeben. Die erste ist eine Erschütterung der Abwehrmechanismen des traditionellen Antirassismus und zwar durch Umstülpung seiner eigenen Argumentation; sie wird gegen ihn selbst gewendet (was Taguieff sehr treffend als Retorsionseffekt des differentiellen Rassismus bezeichnet hat). Der Umstand, dass die Rassen keine isolierbaren biologischen Einheiten darstellen, dass es in der Tat keine »menschlichen Rassen« gibt, wird hier sofort zugegeben. Auch die Tatsache, dass sich das Verhalten der Individuen und deren »Eignung« nicht aus dem Blut und nicht einmal aus den Genen erklären lässt, sondern allein aus ihrer Zugehörigkeit zu historischen »Kulturen«, kann hier ebenfalls zugegeben werden. Nun hatte der anthropologische Kulturalismus aufgrund seiner ausschließlichen Orientierung auf die Anerkennung der Unterschiedlichkeit und Gleichwertigkeit der Kulturen – deren polyphone Gesamtheit allein die menschliche Zivilisation konstituiert – dem humanistischen und kosmopolitischen Antirassismus der Nachkriegszeit den größten Teil seiner Argumente geliefert. Der Wert dieses Kulturalismus bestätigte sich darüber hinaus noch durch den Beitrag, den er zum Kampf gegen bestimmte, auf Uniformierung hinwirkende Formen des Imperialismus und zum Widerstand gegen die Ausschaltung von Minderheitskulturen oder auch beherrschten Kulturen, also gegen den »Ethnozid« leistete.

Der differenzialistische Rassismus nimmt nun diese Argumentation ganz und gar wörtlich. Ein bekannter Anthropologe, berühmt geworden durch den Nachweis, dass alle Kulturen gleichermaßen komplex und gleichermaßen für das Fortschreiten des menschlichen Denkens erforderlich sind (Claude Levi-Strauss), findet sich jetzt – ganz gleich ob freiwillig oder unfreiwillig – in den Dienst des Gedankens gestellt, »Kulturvermischungen«, die Beseitigung »kultureller Distanzen« entsprächen dem geistigen Tod der Menschheit und gefährdeten vielleicht sogar die Regulierungsmechanismen, von denen das biologische Überleben der Menschheit abhängt.5 Und diese »Beweisführung« wird dann auch noch ganz unvermittelt mit der »spontanen« Tendenz aller menschlichen Gruppen (womit in der Praxis Nationen gemeint sind, auch wenn ganz offenbar die anthropologische Bedeutung der politischen Kategorie der Nation ganz offensichtlich einigermaßen zweifelhaft ist) in Beziehung gebracht, ihre Traditionen, und damit ihre Identität, zu bewahren. Hier kommt die Tatsache zum Ausdruck, dass ein biologischer oder genetischer »Naturalismus« keineswegs den einzigen möglichen Modus einer Naturalisierung menschlicher Verhaltensweisen und Gesellschaftlichkeit darstellt. Wenn sie dafür das – ohnehin stärker dem bloßen Anschein verhaftete als reale – Modell einer Hierarchie (von Natur und Kultur, A. d. Ü.) aufgibt, kann auch die Kultur durchaus als eine solche Natur fungieren, ganz besonders als eine Art und Weise, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine, Genealogie einzuschließen, in ein unveränderliches und unberührbares Bestimmtsein durch den Ursprung.

Aber dieser erste Umstülpungseffekt zieht unmittelbar einen zweiten nach sich: Wenn die irreduzible kulturelle Differenz die wahrhafte »natürliche Umwelt« des Menschen bildet, gleichsam die Atmosphäre, ohne die sein historischer Atem nicht möglich wäre, dann muss jede Verwischung dieser Differenz notwendig Abwehrreaktionen auslösen, zu »interethnischen« Konflikten und generell zu einem Anstieg der Aggressivität führen. Dabei handelt es sich, wie man uns erklärt, um »natürliche« Reaktionen, die aber zugleich gefährlich sind. In einer staunenswürdigen Kehrtwendung bieten sich uns derart die differenzialistischen Lehren für die Aufgabe an, den Rassismus zu erklären (und ihm präventiv zu begegnen).

Tatsächlich vollzieht sich eine ganz allgemeine Verlagerung der Problematik. Von der Theorie der Rassen bzw. des Kampfes der Rassen in der Menschheitsgeschichte – ganz gleich, ob diese auf biologische oder auf psychologische Grundlagen zurückgeführt wurden – wird der Übergang zu einer Theorie der »ethnischen Beziehungen« (oder auch der »race relations«) innerhalb der Gesellschaft vollzogen, die nicht die rassische Zugehörigkeit, sondern das rassistische Verhalten zu einem natürlichen Faktor erklärt. Der differenzialistische Rassismus ist also, logisch betrachtet, ein Meta-Rassismus, bzw. ein Rassismus, den wir als »Rassismus zweiter Linie« kennzeichnen können, d. h. ein Rassismus der vorgibt, aus dem Konflikt zwischen Rassismus und Antirassismus seine Lehren gezogen zu haben, und sich selbst als eine politisch eingriffsfähige Theorie der Ursachen von gesellschaftlicher Aggressivität darstellt. Wenn man den Rassismus vermeiden wolle, so müsse man den »abstrakten« Anti-Rassismus vermeiden, d. h. dessen Verkennung der psychologischen und soziologischen Gesetze, nach denen sich menschliche Bevölkerungen bewegen: Man müsse die »Toleranzschwellen« beachten und die »natürlichen Distanzen« einhalten, d. h. man müsse – gemäß dem Postulat, dass die Individuen jeweils ausschließlich die Erben und Träger einer einzigen Kultur sein dürfen – die kollektiven Zusammenhänge voneinander abgrenzen (wobei die nationalen Grenzen in dieser Hinsicht die besten Trennmauern bilden). Damit verlassen wir an genau dieser Stelle die Sphäre des spekulativen Denkens und treten ganz unmittelbar in die der Politik und der Interpretation der Alltags- Erfahrung ein. Dabei ist wohlgemerkt die Kennzeichnung als »abstrakt« keine wissenschaftstheoretische Bestimmung; es handelt sich vielmehr um ein Werturteil, das um so mehr zur Anwendung kommt, je konkreter und wirksamer die Praxisformen sind, auf die es gemünzt ist – also etwa Programme der Stadterneuerung oder der Bekämpfung von Diskriminierung, d. h. der Gegen-Diskriminierung in Schule und Beruf. Von der amerikanischen Neuen Rechten wird dies als »umgekehrte Diskriminierung« bezeichnet, und auch in Frankreich kann man zunehmend hören, wie »vernünftige« Menschen, die mit dieser oder jener extremistischen Bewegung überhaupt nichts zu tun haben, erklären, dass »der Anti-Rassismus den Rassismus erst hervorbringt«, und zwar aufgrund der von ihm betriebenen Agitation, aufgrund seiner Art und Weise, die Masse der Bürger in ihrem Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit zu »provozieren«.6

Es ist kein bloßer Zufall, dass die Theorien des differenzialistischen Rassismus (die sich von nun an als Träger des wahrhaften Anti-Rassismus und damit auch des wahrhaften Humanismus darstellen können) sich leicht mit der »Massenpsychologie« verbinden, die durch ihre allgemeinen Erklärungen die irrationalen Bewegungen, die kollektive Aggressivität und Gewalttätigkeit und insbesondere die Xenophobie rehabilitiert. Darin kommt das schon weiter oben von mir angesprochene Doppelspiel voll zum Zug: Einerseits wird der großen Menge eine Erklärung für ihre eigene »Spontanität« angeboten, andererseits wird implizit dieselbe Menge eben dadurch als »primitive Masse« abgewertet. Die neo-rassistischen Theoretiker sind keine Mystiker des Erbguts, sondern ganz »realistische« Techniker der Sozialpsychologie …

Indem ich die Retorsionseffekte des Neo-Rassismus auf diese Weise darstelle, vereinfache ich sicherlich die Genese und die Komplexität seiner inneren Variationen. Aber mir geht es hier darum, klar herauszuarbeiten, worum es in der Entwicklung des Neo-Rassismus strategisch geht. Das macht dann anschließend Korrekturen und Ergänzungen erforderlich, die ich an dieser Stelle nur andeuten kann.

Der Gedanke eines »Rassismus ohne Rassen« ist gar nicht so revolutionär, wie man vielleicht denken könnte. Ohne hier auf alle Wendungen der Bedeutungsgeschichte des Wortes »Rasse« einzugehen, dessen »historiosophischer« Gebrauch etwa tatsächlich noch vor jeder Neuformulierung der »Genealogie« im Rahmen der »Genetik« liegt, müssen hier einige bedeutende historische Tatsachen gekennzeichnet werden, so unbequem diese auch (für eine gewisse Vulgärform des Anti-Rassismus, aber auch für die Umstülpungen, die diese durch den Neo-Rassismus erfahren hat) sein mögen.

Es hat immer schon einen Rassismus gegeben, für den der pseudobiologische Rassenbegriff kein wesentlicher Springpunkt war –nicht einmal auf der Ebene seiner sekundären theoretischen Ausarbeitungen. Sein Prototyp ist der Antisemitismus. Der moderne Antisemitismus – jener also, der sich im Europa der Aufklärung herauszukristallisieren beginnt, d. h. ausgehend von der etatistischen und nationalistischen Wendung, die das Spanien der Reconquista und der Inquisition dem theologischen Antijudaismus gegeben haben – ist bereits ein »kulturalistischer« Rassismus. Gewiss haben die körperlichen Stigmata darin einen bedeutenden phantasmatischen Stellenwert, jedoch eher als Zeichen einer tief sitzenden Psychologie, eines geistigen Erbes, denn eines biologischen Erbgutes.7 Diese Zeichen sind sogar, wenn man das so sagen kann, um so verräterischer, desto weniger sichtbar sie sind, und der Jude ist um so »echter«, je unerkennbarer er ist. Sein Wesen besteht darin, eine kulturelle Tradition und ein Ferment moralischer Zersetzung zu bilden. Der Antisemitismus ist also differenzialistisch par excellence – und unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten lässt sich der gegenwärtige differenzialistische Rassismus seiner Form nach als ein verallgemeinerter Antisemitismus betrachten. Dieser Hinweis ist besonders wichtig, um die gegenwärtige Feindschaft gegenüber den Arabern, vor allem in Frankreich, zu begreifen. Sie ist verbunden mit einem Bild des Islam als einer mit dem europäischen Denken (européicité) unvereinbaren »Weltanschauung« und als eines auf universelle ideologische Herrschaft angelegten Unternehmens, d. h. sie verwechselt systematisch »Arabertum« und »Islamismus«.

Damit richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf eine historische Tatsache, die zuzugeben noch schwerer fällt, die aber für ein Verständnis der für Frankreich spezifischen, nationalen Form der rassistischen Traditionen von zentraler Bedeutung ist. Gewiss gibt es auch eine spezifisch französische Traditionslinie der Lehre von der arischen Rasse, der Anthropometrie und des biologischen Genetizismus. Aber die wirkliche »französische Ideologie« ist das nicht. Sie liegt vielmehr in dem Gedanken eines universellen Erziehungsauftrags gegenüber dem ganzen Menschengeschlecht, der der Kultur eines »Landes der Menschenrechte« übertragen sei, und dem dann in der Praxis die Assimilierung beherrschter Bevölkerungen entspricht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Individuen oder Gruppen nach ihrer mehr oder minder großen Eignung bzw. nach ihrem mehr oder minder großen Widerstand gegen diese Assimilierung zu unterscheiden und zu bewerten. Diese sowohl subtile als auch erdrückende Form einer Ausschließung in Gestalt der Einschließung hat sich im Prozess der Kolonisierung entfaltet, in der spezifisch französischen (oder auch »demokratischen«) Variante der »Bürde des weißen Mannes«. Ich werde weiter unten auf die paradoxen Verhältnisse von Universalismus und Partikularismus innerhalb der Funktionsweise der rassistischen Ideologien bzw. innerhalb der rassistischen Dimension der Funktionsweise der Ideologien generell zurückkommen.

Umgekehrt wird ohne Schwierigkeiten sichtbar, dass in den neo-rassistischen Lehren das Thema der Hierarchie eher dem bloßen Anschein nach ausgelöscht ist. Der Gedanke der Hierarchie – dessen Absurdität man sogar lautstark proklamieren kann – stellt sich einerseits in der Praxis dieser Lehren her (braucht also nicht ausdrücklich ausgesprochen werden), andererseits ist er in den Kriterien angelegt, die verwendet werden, um die Differenz der Kulturen zu denken (und damit kommen wiederum die besonderen logischen Möglichkeiten des »Meta-Rassismus«, der Position der »zweiten Linie« ins Spiel).

Die vorbeugende Behandlung gegen die »Krankheit der Vermischung« findet dort statt, wo die institutionell etablierte Kultur die Kultur des Staates, der herrschenden Klassen und, zumindest offiziell, auch die der »nationalen« Massen ist, wo also deren Lebens- und Denkweise durch die Institution für legitim erklärt wird. Diese Prophylaxe ist faktisch ein Verbot, sich auszudrücken und sozial aufzusteigen, das als Einbahnstraße funktioniert. Kein theoretischer Diskurs über die Gleichwertigkeit aller Kulturen kann einen wirklichen Ausgleich für die Tatsache schaffen, dass von einem »Black« in Großbritannien oder von einem »Beur« in Frankreich die Assimilation als Voraussetzung dafür verlangt wird, sich in die Gesellschaft »integrieren« zu dürfen, in der er doch bereits lebt (wobei zugleich unterschwellig immer der Verdacht gehegt wird, seine Assimilation sei oberflächlich, unvollständig und bloß vorgetäuscht) und dass dies als ein Fortschritt, ein Emanzipationsakt, als Gewährung eines Rechtes dargestellt wird. Und hinter dieser Tatsache sind dann noch kaum veränderte bzw. erneuerte Varianten des Gedankens wirksam, die historischen Kulturen der Menschheit ließen sich in zwei große Teilmengen einordnen, nämlich in diejenigen, die universalistisch und fortschrittlich und in diejenigen, die unheilbar partikularistisch und primitiv seien. Diese Paradoxie ergibt sich keineswegs zufällig: Ein »konsequenter« differenzialistischer Rassismus müsste notwendigerweise ganz einheitlich konservativ sein und für die Fixierung aller Kulturen eintreten. Er ist auch insofern konservativ, als er der europäischen Kultur- und Lebensweise – unter dem Vorwand, sie vor jedem Einfluss der Dritten Welt (tiersmondisation) schützen zu wollen – jede Art von wirklicher Entwicklung verschließen will. Aber zugleich greift er auch die alten Unterscheidungen von »geschlossenen« und »offenen«, von »unbeweglichen« und »unternehmerischen«, »kalten« und »warmen«, »herdenartigen« und »individualistischen« usf. Gesellschaften wieder auf. Eine Unterscheidung, die ihrerseits die gesamte Doppeldeutigkeit des Begriffs der Kultur (wie sie besonders im Französischen existiert)8 ins Spiel bringt.

Wenn die kulturellen Unterschiede jeweils als getrennte Einheiten (bzw. als symbolische Strukturen) gedacht werden (also jeweils als »Kultur«)9, verweist uns das auf die kulturelle Ungleichheit im »europäischen« Raum selbst; oder, genauer, auf die »Kultur« als Bildung10 (als gelehrte oder populäre, technische oder volkstümliche Bildung), d. h. auf Strukturen der Ungleichheit, die sich in einer industrialisierten, verschulten und mehr und mehr internationalisierten, durch weltweite Einflüsse konstituierten Gesellschaft tendenziell reproduzieren. Die »unterschiedliche« Kulturen sind also die Hindernisse für den Erwerb der Kultur, bzw. sie werden institutionell (durch die Schule oder durch die Normen der internationalen Verständigung) zu Hindernissen aufgebaut. Und umgekehrt erscheinen die »kulturellen Defizite« der beherrschten Klassen als praktische Seite ihrer Fremdheit bzw. als Lebensformen, die den zerstörerischen Auswirkungen der »Vermischung« in besonderem Maße ausgesetzt sind (d. h. den zerstörerischen Auswirkungen der materiellen Bedingungen, unter denen sich diese »Vermischung« vollzieht).11 Diese latente Gegenwart des Themas der Hierarchie ist nicht neu: In durchaus gleicher Weise musste der offen anti-egalitäre Rassismus der vorhergehenden Epoche, um die wesentliche Konstanz der rassischen Typen postulieren zu können, eine differenzialistische Anthropologie voraussetzen, ganz gleich ob diese nun genetisch oder auf Völkerpsychologie begründet wurde. Heute jedoch kommt das Thema vor allem in Gestalt des Vorranges des individualistischen Modells zum Ausdruck: als die implizit überlegenen Kulturen gelten diejenigen die die »individuelle« Initiative, den sozialen und politische Individualismus, besonders hoch bewerten und fördern, im Gegensatz zu denjenigen Kulturen, die ihn hemmen und einengen. Die überlegenen Kulturen wären demnach diejenigen, deren »Gemeinschaftsgeist« von nichts anderem als vom Individualismus gebildet würde.

Von daher lässt sich auch begreifen, woraus sich schließlich die Wiederkehr des Themas der Biologie legitimiert, die Ausarbeitung neuer Varianten des biologischen »Mythos« im Rahmen eines kulturellen Rassismus. Bekanntlich bestehen in dieser Hinsicht national ganz unterschiedliche Situationen. In den angelsächsischen Ländern, wo sie zugleich an die Traditionen des Sozial-Darwinismus und der Eugenik anknüpfen können und sich zugleich ganz unmittelbar mit den politischen Zielsetzungen eines kämpferischen Neoliberalismus kurzschließen können,12 verfügen die theoretischen Modelle der »Ethologie« und der »Soziobiologie« (die zum Teil zueinander in Konkurrenz stehen) über einen größeren Einfluss. Allerdings beruhen selbst noch diese eher biologistischen Ideologien auf dem, was die »differenzialistische Revolution« erbracht hat. Nicht etwa die Konstitution der Rassen bildet ihr Erklärungsziel, sondern die lebenswichtige Bedeutung, die die Abgeschlossenheit der Kulturen und der Traditionen für die Akkumulation der individuellen Fähigkeiten hat, sowie die »natürlichen« Grundlagen von Xenophobie und gesellschaftlicher Aggressivität. Die Aggressivität stellt ein fiktives Wesen dar, dessen Anrufung allen Formen des Neo-Rassismus gemeinsam ist und die es ermöglicht, den Biologismus ein Stück zu verschieben: zweifellos gibt es keine »Rassen«, es gibt nur Bevölkerungen und Kulturen, aber es gibt doch biologische (und biopsychische) Ursachen und Wirkungen der Kultur sowie biologische Reaktionen auf die kulturelle Differenz (die gleichsam so etwas wie eine unauslöschliche Spur der Animalität des immer noch an seine erweiterte »Familie« und an sein »Territorium« gebundenen Menschen bilden). Wo umgekehrt der »reine« Kulturalismus vorzuherrschen scheint (wie in Frankreich), kann man eine schleichende Verschiebung in Richtung auf Diskurse über Biologie beobachten: Diskurse über die Kultur als einer externen Regulierungsform des »Lebendigen«, über seine Reproduktion, seine Leistungen und seine Gesundheit werden ausgearbeitet. Es war unter anderem Michel Foucault, der dies vorausgeahnt hatte.13

Es kann durchaus sein, dass die gegenwärtigen Varianten des Neo-Rassismus nur eine ideologische Übergangsformation bilden, der es bestimmt ist, sich in Richtung auf soziale Diskurse und Techniken weiterzuentwickeln, in denen die Dimension der historischen Erzählung genealogischer Mythen (und damit das Spiel der Substitutionsverhältnisse von Rasse, Volk, Kultur und Nation) relativ zurücktritt gegenüber der Dimension psychologischer Bewertungen intellektueller Fähigkeiten und der »Disposition« zu einem »normalen« gesellschaftlichen Leben (oder umgekehrt zu Kriminalität und Abweichung) sowie zu einer (in gefühlsmäßiger ebenso wie in gesundheitlicher oder eugenischer usw. Hinsicht) »optimalen« Reproduktion. Diese Fähigkeiten und Dispositionen würden dann von einer ganzen Armee sich dafür anbietender kognitiver, sozialpsychologischer oder auch statistischer Wissenschaften gemessen, selektiert und kontrolliert, indem die jeweiligen Anteile von Vererbung und Umwelt richtig dosiert würden …

Eine solche Entwicklung ginge in Richtung auf einen »Post-Rassismus«. Und zwar meiner Überzeugung nach um so mehr, je mehr die sozialen Beziehungen sich zu Beziehungen auf globaler Stufenleiter entwickeln und die Ortsveränderungen ganzer Bevölkerungsgruppen im Rahmen eines Systems von Nationalstaaten dazu führen werden, den Begriff der »Grenze« neu zu denken und seine Anwendungsweise auf die Funktion einer gesellschaftlichen Prophylaxe zu beschränken, die auf eine zunehmend individualisierte Ebene bezogen wird: Die technologischen Strukturveränderungen werden dazu führen, dass ungleiche Schulausbildungen und intellektuelle Hierarchien eine immer wichtigere Rolle im Klassenkampf spielen, in der Perspektive einer verallgemeinerten techno-politischen Selektion der Individuen. Vielleicht stehen wir erst vor einem wirklichen »Zeitalter der Massen« in einer Epoche von Unternehmer-Nationen.

Anmerkungen

1 Colette Guillaumin hat diesen m. E. grundlegenden Punkt klar herausgearbeitet: »Die Aktivität der Kategorienbildung ist auch eine Aktivität der Erkenntnisgewinnung […] Daher ergibt sich zweifellos die Ambiguität jedes Kampfes gegen die Stereotypen sowie die Überraschungen, die dieser Kampf für uns bereithält. Die Kategorisierung kann sowohl Erkenntnis als auch Unterdrückung gebären.« (L’Idéologie raciste. Genèse et langage actuel, Paris/La Haye, Mouton, 1972, S. 183f.)

2 L. Poliakov, Le Mythe arien, Calmann-Lévy, 1971 (dt. Ausg.: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Wien, Europaverlag, 1977); La Causalité diabolique, Calman-Lévy, 1980.

3 Vergleichen wir etwa die Art und Weise, wie in den USA das »Schwarzen-Problem« vom »ethnischen Problem«, das die sukzessiven Einwanderungswellen aus Europa und deren gesellschaftliche Aufnahme aufgeworfen hatte, getrennt geblieben ist, bis schließlich in den Jahren von 1950 bis 1960 ein neues »Ethnizitäts- Paradigma« eine Projektion der letzteren Problematik auf die erstere zur Folge hatte (vgl. Michael Omi und Howard Winant, Racial Formation in the United States, London/New York, Routledge and Kegan Paul, 1986).

4 Vor allem in »Les présuppositions définitionnelles d’un indéfinissable: le racisme« (Mots, Nr. 8, März 1984); »L’identité nationale saisie par les logiques de racisation. Aspects, figures et problèmes du racisme différentialiste« (Mots, Nr. 12, März 1986); »L’identité française au miroir du racisme différentialiste«, in: Espaces 89, L’identité française, Edition Tierce, 1985. Der Grundgedanke ist auch schon in den Untersuchungen Colette Guillaumins enthalten, ebenso in: Véronique de Rudder, »L’obstacle culturel: la différence et la distance«, L’Homme et la société, Januar 1986. Für die angelsächsischen Länder vgl. Martin Barker, The New Racism. Conservatives and the Ideology of the Tribe, London, Junction Books, 1981.

5 Ein 1971 für die Unesco verfasster Vortrag, jetzt wieder aufgenommen in Le Regard éloigné, Plon, 1983, S. 21–48. Vgl. die Kritik von M. O’Callaghan und C. Guillaumin, »Race et race … la mode ›naturelle‹ en sciences humaines«, L’Homme et la société, Nr. 31–32, 1974. Heute wird Lévi-Strauss von einer ganz anderen Position aus als Vertreter eines »Anti-Humanismus« und »Relativismus« kritisiert (vgl. T. Todorov, »Lévi-Strauss entre universalisme et relativisme«, Le Débat, Nr. 42, Nov.–Dez. 1986; A. Finkielkraut, La Défaite de la pensée, Gallimard, 1987; dt. Ausg.: Die Niederlage des Denkens, Reinbek, Rowohlt, 1989). Die Diskussion ist in keiner Weise abgeschlossen, sie kann vielmehr allererst beginnen. Ich für meinen Teil gehe davon aus, dass zwar die Lehre von Lévi-Strauss nicht »rassistisch ist«, dass aber die rassistischen Theorien des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sich auf dem Begriffsfeld des Humanismus herausbilden: von daher könnte man sie also nicht voneinander trennen. (Vgl. dazu weiter unten meinen Beitrag »Rassismus und Nationalismus«.)

6 In den angelsächsischen Ländern lassen sich diese Themen überreich an Hand von Beispielen aus der »Humanethologie« und der »Soziobiologie« belegen. In Frankreich beruhen sie dagegen auf einer unmittelbar kulturalistischen Grundlage. In dem von A. Béjin und J. Freund herausgegebenen Sammelband (Racismes, antiracismes, Méridiens-Klincksieck, 1986) findet sich eine ganze Anthologie derartiger Äußerungen, die von den Theoretikern der Neuen Rechten bis zu erheblich gesetzteren Universitätslehrern reichen. Es ist nicht ganz unnütz, darüber hinaus noch zu wissen, dass dieses Werk auch in einer popularisierten Fassung, in einer volkstümlichen Publikation mit sehr großer Auflage unter die Leute gebracht worden ist: G. Faye (Hg.), »Dossier choc: Immigrés: Demain la haine«, J’ai tout compris. Nr. 3, Juni 1987.

7 Ruth Benedict hat dies u. a. bei H. S. Chamberlain bemerkt: »Allerdings unterschied Chamberlain die Semiten nicht anhand von physischen Zügen oder anhand ihrer Abstammung: wie er wusste, ist es nicht möglich, im modernen Europa die Juden vom Rest der Bevölkerung durch tabellarische anthropometrische Messungen zu unterscheiden. Aber sie waren für ihn Feinde, weil sie eine besondere Art des Denkens und Handelns hatten. ›Man kann ganz rasch zum Juden werden …‹ usw.« (R. Benedict, Race and Racism, London/New York, Routledge and Kegan Paul, 1983, S. 132f.) In ihren Augen ist dies sowohl ein Zeichen für den »Freimut« Chamberlains als auch sein innerer »Widerspruch«. Dieser Widerspruch ist zur Regel geworden, ohne dass es in Wirklichkeit eine solche Regel gäbe. Bekanntlich ist im Antisemitismus das Thema der Minderwertigkeit des Juden sehr viel weniger wichtig als das der unaufhebbaren Andersartigkeit. Das geht sogar so weit, dass man sich über die intellektuelle, kaufmännische »Überlegenheit« der Juden beklagt, die sie so »gefährlich« mache. Das Nazi-Unternehmen offenbarte sich häufiger als Unternehmen zur Reduktion der Juden auf den Status von »Untermenschen«, als dass es sich als Konsequenz eines tatsächlich vorhandenen »Untermenschentums« darstellte: deshalb konnten Juden nicht zu Sklaven gemacht, sie mussten vernichtet werden.

8 Vgl. weiter unten meinen Beitrag »Rassismus und Nationalismus«. (Auch im Deutschen wechselt der Begriff der Kultur – was auch seine künstliche Entgegensetzung zur »Zivilisation« ermöglicht hat – zwischen einer deskriptiven (»die Kultur der Minoer«) und einer bewertenden (»ein Mann von Kultur«) Bedeutung. A. d. Ü.)

9 Im Original deutsch (A. d. Ü.).

10 Im Original deutsch (A. d. Ü.).

11 Offenbar muss man die Schärfe der »Rassenkonflikte« und der Ressentiments gegenüber der Anwesenheit von Immigranten in der Schule sehr viel eher auf diese Subsumtion der »soziologischen« Differenz der Kulturen unter die institutionalisierte Hierarchie der Kultur als der entscheidenden Instanz für die soziale Kategorisierung und deren Naturalisierung zurückführen als auf den Effekt einer bloßen Nachbarschaft. Vgl. S. Boulot, D. Boyson-Fradet, »L’échec scolaire des enfants de travailleurs immigrés«, in: L’Immigration maghrébine en France, Sondernummer, Les Temps modernes, 1984.

12 Vgl. M. Barker, The New Racism, a.a.O.

13 Michel Foucault, La Volonté de savoir, Gallimard, 1976 (dt. Ausg.: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1979).

Nachbemerkung: Erst nach Abfassung dieser Untersuchung ist mir das Buch von Pierre-André Taguieff (La Force du préjugé. Essai sur le racisme et ses doubles, Editions La Découverte, 1988) zugänglich geworden, in dem er die Analyse, auf die ich mich oben bezogen habe, beträchtlich weiterentwickelt, vervollständigt und zugleich in ihrem Resultat verschiebt. Ich hoffe, dieses Buch demnächst so diskutieren zu können, wie es dies verdient.

* Dieser Beitrag erschien unter dem Titel »Gibt es einen ›neuen Rassismus‹?« erstmals in Das Argument 175 (Mai/Juni 1989). Die Übersetzung stammt von Frieder Otto Wolf. Sie wurde für diesen Band geringfügig überarbeitet.

Rasse, Klasse, Nation

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