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Kapitel 2 Ideologische Spannungsverhältnisse im Kapitalismus: Universalismus vs. Sexismus und Rassismus

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Immanuel Wallerstein

Lange Zeit hat man uns glauben machen wollen, dass die moderne Welt als erste die Grenzen der engen, regional fixierten Bindungen aufgesprengt und die allumfassende Verbrüderung der Menschen verkündet habe. Spätestens seit den siebziger Jahren aber ist uns bewusst geworden, dass schon die Terminologie des Universalismus, die in Sätzen wie Alle Menschen werden Brüder ihren Ausdruck findet, sich selbst Lügen straft, denn dieser Satz zielt nur auf das männliche Geschlecht und schließt somit implizit alle Frauen aus oder verbannt sie in einen untergeordneten Bereich. Es dürfte nicht schwer fallen, die Zahl solcher sprachlichen Beispiele zu vermehren, in denen eine unterschwellige Spannung zwischen der fortwährenden ideologischen Legitimation des Universalismus in der modernen Welt und der fortwährenden (sowohl materiellen als auch ideologischen) Wirklichkeit rassistischer und sexistischer Strukturen in ebendieser Welt zu Tage tritt. Diese Spannung, oder, genauer gesagt, diesen Widerspruch will ich hier diskutieren. Denn Widersprüche sind nicht nur konstitutiv für die Dynamik historischer Systeme, sie enthüllen auch deren wesentliche Charakterzüge.

Nach dem Ursprung und dem Verbreitungsgrad der universalistischen Lehre oder nach dem Grund für die Dauer und Fortdauer von Rassismus und Sexismus zu fragen, ist eine Sache. Eine andere ist es, der ursprünglichen Vereinigung der beiden Ideologien nachzuforschen, also dem, was man als symbiotische Beziehung dieser mutmaßlichen Gegensätze bezeichnen könnte. Wir stellen ein offensichtliches Paradoxon an den Anfang. Rassismus und Sexismus sind in der Hauptsache durch universalistische Vorstellungen in Frage gestellt worden, und der Universalismus ist vor allem durch rassistische und sexistische Vorstellungen in Frage gestellt worden. Wir nehmen an, dass die Hauptträger der jeweiligen Vorstellungen gegnerischen Lagern angehören. Nur bisweilen gestatten wir uns die Einsicht, dass (um mit Pogo zu sprechen) wir selbst der Feind sind; dass die meisten von uns (wenn nicht gar alle) überhaupt kein Problem darin sehen, beide Lehren gleichzeitig zu vertreten. Das ist zweifellos beklagenswert, doch will es auch erklärt sein, und es reicht keineswegs aus, einfach auf Heuchelei zu verweisen. Denn dies Paradoxon (oder diese Heuchelei) ist zählebig, weit verbreitet, und strukturell bedingt. Es ist kein vorübergehendes menschliches Fehlverhalten.

In historischen Systemen älteren Datums war es einfacher, mit sich selbst im Einklang zu sein. Wie sehr sich diese Systeme auch im Hinblick auf ihre Strukturen und Voraussetzungen voneinander unterschieden, so hatten sie alle doch keine Bedenken, bestimmte politisch-moralische Kriterien der Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit zum jeweiligen System aufzustellen. Dabei gewannen der Glaube an die moralische Höherwertigkeit der je eigenen Gruppe und das Gefühl gegenseitiger Verpflichtung innerhalb dieser Gruppe den Vorrang vor irgendwelchen abstrakten Begriffen, die sich auf die menschliche Gattung insgesamt bezogen – falls solche Abstraktionen überhaupt existierten. Sogar die drei monotheistischen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – unterschieden auf diese Weise zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, obwohl sie theoretisch einem einzigen Gott verpflichtet waren, der der gesamten Menschheit sein Gesetz gab.

Dieser Aufsatz beschäftigt sich zunächst mit den Ursprüngen moderner universalistischer Lehren, untersucht dann die Quellen des modernen Sexismus und Rassismus und wendet sich schließlich der Wirklichkeit zu, die mit der Verbindung der beiden Ideologien (des Universalismus und des Sexismus/Rassismus) vermacht ist, wobei es gleichermaßen um die Entstehung wie auch die Konsequenzen dieser Verbindung geht.

Es gibt in der Hauptsache zwei Erklärungsweisen für die Entstehung des Universalismus als einer unser gegenwärtiges historisches System kennzeichnenden Ideologie. Man kann den Universalismus zum einen als Kulminationsform einer älteren geistigen Tradition, zum anderen als eine der kapitalistischen Weltwirtschaft besonders angemessene Ideologie betrachten. Die beiden Erklärungsweisen müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Das Argument, der Universalismus sei das Ergebnis oder der Höhepunkt einer langen Tradition, bezieht sich genau auf die Trias der monotheistischen Religionen. Der entscheidende moralische Schritt, so hieß es, wurde vollzogen, als die (oder einige) Menschen dem Glauben an die Stammesgötter abschworen und die Einheitlichkeit Gottes (und damit implizit die Einheitlichkeit der Menschengattung) an/erkannten. Natürlich, so lautet das Argument weiter, sind diese monotheistischen Religionen ihrer eigenen Logik nur zum Teil gefolgt. Das Judentum reservierte dem von Gott erwählten Volk einen besonderen Platz und stand der Proselytenmacherei eher distanziert gegenüber. Christentum und Islam öffneten die Schranken, die den Eintritt in die Gruppe der Erwählten versperrten, und schlugen, indem sie Andersgläubige zu bekehren suchten, de facto eine andere Richtung ein. Doch verlangten sowohl Christentum als auch Islam für den vollständigen Zugang zum Reich Gottes normalerweise ein Treuebekenntnis (Erwachsene, die den neuen Glauben annahmen, unterzogen sich einem Bekehrungsritual). Das moderne aufklärerische Denken, so wird gesagt, führte diese monotheistische Logik einfach noch einen Schritt weiter, indem es die moralische Gleichheit und die Menschenrechte aus der menschlichen Natur selbst ableitete, aus einer Eigenschaft also, die uns allen angeboren ist und aus der sich ergibt, dass unsere Rechte als Ansprüche, nicht aber als Privilegien aufgefasst werden.

Dieser ideengeschichtliche Ansatz ist durchaus nicht falsch. Das späte achtzehnte Jahrhundert hat uns einige bedeutsame Dokumente politischmoralischen Inhalts hinterlassen, in denen diese aufklärerische Ideologie ihren Niederschlag findet und die in der Folge großer politischer Umwälzungen (wie der Französischen Revolution und der Entkolonialisierung beider Amerika) vielerorts Glaubwürdigkeit genossen und Anhängerschaft gewannen. Darüber hinaus können wir auch die ideologische Geschichte vorantreiben. Diese ideologischen Dokumente des achtzehnten Jahrhunderts waren durch viele faktische Auslassungen gekennzeichnet, wobei am augenfälligsten ist, dass die nicht Weißen und die Frauen keine Erwähnung finden. Doch mit der Zeit sind diese und andere Auslassungen berichtigt worden, indem man diesen Gruppen explizit einen Platz in der universalistischen Lehre einräumte. Heute legen selbst solche sozialen Bewegungen, deren Daseinsgrund in der Durchsetzung rassistischer oder sexistischer Politik liegt, ein Lippenbekenntnis zur universalistischen Ideologie ab, wobei sie sich anscheinend schämen, ihre Vorstellungen und Gedanken über Prioritäten in der Politik vor aller Öffentlichkeit zu verkünden. Es ist von daher nicht weiter schwierig, aus der Ideengeschichte eine Art ansteigender Zeitkurve abzuleiten, an der sich die Übernahme der universalistischen Lehre ablesen lässt. Und diese Kurve kann zugleich als Grundlage dienen, um die Existenz eines unvermeidlich sich vollziehenden welthistorischen Prozesses zu behaupten.

Da aber der Universalismus nur in der modernen Welt als politische Lehre ernsthaft vertreten worden ist, lässt sich auch die Behauptung nicht von der Hand weisen, dass seine Ursprünge in den bestimmten sozioökonomischen Rahmenbedingungen eben dieser Welt zu suchen seien. Das System der kapitalistischen Weltwirtschaft beruht auf der endlosen Akkumulation von Kapital. Einer der hauptsächlichen Mechanismen, die diese Akkumulation ermöglichen, ist die Verwandlung aller Dinge in Waren. Diese Waren fließen in der Form von Gütern, Kapital und Arbeitskraft auf den Weltmarkt. Je ungehemmter dieser Strom fließt, desto umfassender ist vermutlich der Warencharakter aller Dinge. Folgerichtig sollte alles, was diesen Strom hemmt, was Güter, Kapital oder Arbeitskraft daran hindert, in vermarktbare Waren sich zu verwandeln, zumindest hypothetisch beseitigt werden. Alle Kriterien, mit deren Hilfe Güter, Kapital oder Arbeitskraft auf andere Weise als zu ihrem Marktwert bestimmt werden, tragen in dem Maße, in dem sie den Vorrang erhalten, dazu bei, dass das jeweils betreffende Objekt weniger oder gar nicht vermarktbar wird. Dergestalt gelten, aufgrund einer Art von zwingender Logik, alle möglichen Partikularitäten als mit der Funktionsweise eines kapitalistischen Systems unvereinbar, oder doch zumindest als Hindernis für die Optimierung dieser Funktionsweise. Daraus würde folgen, dass es innerhalb eines kapitalistischen Systems zwingend notwendig ist, sich einer universalistischen Ideologie zu bedienen, die ein wesentliches Element der endlosen Akkumulation von Kapital darstellt. So sprechen wir denn auch von den kapitalistisch determinierten gesellschaftlichen Verhältnissen als einem »universellen Lösungsmittel«, das darauf abzielt, alles auf eine homogene Warenform, die durch den einheitlichen Maßstab des Geldes bezeichnet wird, zu reduzieren.

Der Behauptung nach ergeben sich daraus zwei grundsätzliche Konsequenzen. Zum einen soll die Homogenität der Warenform die größtmögliche Effizienz der Güterproduktion gewährleisten. Das gilt insbesondere für die Arbeitskraft: Wenn wir (wie es seit der Französischen Revolution heißt) »freie Bahn dem Tüchtigen« gewähren, dann können wir Kompetenz und Beruf in der weltweiten Arbeitsteilung in höchst vorteilhaften Einklang miteinander bringen. Und wir haben ja tatsächlich institutionelle Mechanismen entwickelt – das öffentliche Schulsystem, den Staatsdienst, Regeln zur Verhinderung der »Vetternwirtschaft« – die zur Errichtung dessen dienen, was wir heute ein »meritokratisches« System oder eine »Leistungsgesellschaft« nennen.

Des Weiteren soll diese Leistungsgesellschaft nicht nur die wirtschaftliche Effizienz, sondern auch die politische Stabilität sichern. Sicher gibt es, wie in früheren Systemen, auch im historischen Kapitalismus Ungleichheiten hinsichtlich des Entgelts für geleistete Arbeit. Doch wird die Missgunst der einkommensschwächeren gegenüber den vermögenderen Schichten geringer sein, weil, so lautet das Argument, diese Differenzen auf der Grundlage von Leistung und Verdienst gerechtfertigt werden, und nicht unter Berufung auf die Tradition. Man denkt, mit anderen Worten, dass ein durch Leistung erworbenes Privileg für die meisten Menschen moralisch und politisch akzeptabler sei als ein vererbtes Vorrecht.

Das ist zweifelhafte politische Soziologie. Tatsächlich liegt die Wahrheit gerade im Gegenteil. Die Unterdrückten konnten sich lange Zeit mit der Existenz vererbter Privilegien abfinden, weil sie einem mystischen oder fatalistischen Glauben an eine ewige Ordnung anhingen, der ihnen zumindest den Komfort sicherer Überzeugungen bot. Wenn aber jemand Vorrechte genießt, weil er möglicherweise gewitzter, sicherlich aber besser ausgebildet ist als andere, so ist das viel schwerer zu verkraften, außer für diejenigen, welche ohnehin auf dem Karrieretrip sind. Yuppies werden allerhöchstens von ihresgleichen bewundert oder geliebt. Fürsten können unter Umständen als freundliche Vaterfiguren erscheinen; dagegen ist ein Yuppie nichts als ein überprivilegiertes Geschwisterkind. In politischer Hinsicht ist die Leistungsgesellschaft eines der instabilsten Systeme, und genau aus diesem Grunde können Sexismus und Rassismus auf der Bildfläche erscheinen.

Lange Zeit ging man davon aus, dass die ansteigende Kurve der universalistischen Ideologie theoretisch mit einer abfallenden Kurve zusammenhängt, die den Grad der durch Rasse oder soziales Geschlecht erzeugten (faktischen und ideologischen) Ungleichheit anzeigt. Das wird durch die Erfahrung jedoch nicht bestätigt. Man könnte sogar entgegengesetzt argumentieren und behaupten, dass die Kurve der durch Rasse und soziales Geschlecht determinierten Ungleichheiten in der modernen Welt angestiegen oder zumindest nicht abgefallen ist. Für die faktische Ebene trifft das ganz sicher zu, möglicherweise aber auch für die ideologische Ebene. Um zu erkennen, warum das so ist, sollten wir einen Blick auf das werfen, was die Ideologien des Rassismus und des Sexismus tatsächlich behaupten.

Man kann Angehörige einer anderen Gruppe, die durch genetische Merkmale (wie etwa Hautfarbe) oder soziale Kriterien (religiöse Zugehörigkeit, kulturelle Prägung, Sprachformen) gekennzeichnet ist, verachten oder sich vor ihnen fürchten. Doch ist der Rassismus, obwohl er solche Haltungen einschließt, sehr viel mehr als das. Im Verhältnis zu dem, was die Praxis des Rassismus in der kapitalistischen Weltwirtschaft definiert, sind Furcht und Verachtung lediglich Sekundärerscheinungen. Tatsächlich ließe sich sogar behaupten, dass diese durch Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) bestimmten Haltungen einen Aspekt des Rassismus darstellen, der in sich einen Widerspruch enthält.

In allen dem Kapitalismus vorangegangenen historischen Systemen hatte die Xenophobie in erster Linie ein bestimmtes Verhalten zur Folge: den physischen Ausschluss des »Barbaren« aus der jeweiligen Gemeinschaft, Gesellschaft oder In-group – wobei der Tod die extremste Form dieser Ausschließung darstellte. Wann immer wir den anderen physisch ausschließen, erlangen wir die »Reinheit« der sozialen Umgebung, die wir vermutlich erstreben, gleichzeitig jedoch verlieren wir unwiderruflich etwas anderes. Wir verlieren die Arbeitskraft der ausgeschlossenen Person, und damit ihren Beitrag zur Schöpfung eines Mehrwerts, den wir uns auf einer geregelten Grundlage aneignen können. Das stellt für jedes historische System einen Verlust dar, als besonders ernst erweist er sich jedoch dann, wenn die ganze strukturelle Logik des Systems auf der endlosen Kapitalakkumulation beruht.

Ein expandierendes kapitalistisches System (und es expandiert während der Hälfte der Zeit) benötigt die gesamte Arbeitskraft, die es finden kann, weil nur sie die Güter hervorbringt, mittels derer mehr Kapital produziert, realisiert und akkumuliert werden kann. Von daher ist der Ausschluss aus dem System sinn- und zwecklos. Doch zur Maximierung der Kapitalakkumulation ist es notwendig, zugleich die Produktionskosten (und mithin die Kosten der Arbeitskraft) und die Kosten, die durch politische Störungen entstehen, zu minimieren (das heißt, den politischen Protest der Arbeiterschaft möglichst gering zu halten, denn gänzlich beseitigen lässt er sich nicht). Der Rassismus ist die Zauberformel, die diese Zielvorstellungen miteinander in Einklang bringt.

Werfen wir einen Blick auf einige der frühesten und bekanntesten Diskussionen über den Rassismus als Ideologie. Als die Europäer die Neue Welt entdeckten, trafen sie auf Menschen, die sie in großer Zahl abschlachteten – entweder auf direkte Weise, durch das Schwert, oder auf indirekte Weise, durch Krankheiten. Ein spanischer Mönch, Bartolomé de Las Casas, nahm sich der Sache dieser Menschen an, indem er die Behauptung aufstellte; auch Indianer hätten eine des ewigen Heils bedürftige Seele. Damit gewann er die formelle Zustimmung der Kirche und schließlich auch die der Staaten. Wir wollen die Implikationen seiner Argumentation ein Stück weit verfolgen. Da die Indianer eine Seele besaßen, waren sie menschliche Wesen und der Gültigkeit des Naturrechts unterstellt. Von daher war es moralisch nicht erlaubt, sie unterschiedslos umzubringen (aus dem Herrschaftsgebiet zu verstoßen). Stattdessen war es geboten, ihre Seelen zu retten (sie zu den universalistischen Werten des Christentums zu bekehren). Wenn sie dementsprechend lebendig und auf dem Wege der Bekehrung befindlich wären, könnten sie in die arbeitende Bevölkerung integriert werden, und zwar auf dem Niveau ihrer Fähigkeiten, das heißt auf der untersten Stufe der Beschäftigungs- und Lohnskala.

In seiner Funktion hat der Rassismus die Form dessen angenommen, was man als »Ethnisierung« der Arbeiterschaft nennen könnte. Damit meine ich, dass es zu allen Zeiten ein hierarchisches System von Arbeitsleistungen und Vergütungen gegeben hat, das seiner Tendenz nach mit einigen sogenannten gesellschaftlichen Kriterien korrelierte. Doch während das Muster der Ethnisierung konstant geblieben ist, haben sich die Details je nach Zeit und Ort unterschiedlich gestaltet und hingen von den jeweiligen genetischen und gesellschaftlichen Strukturen, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort existierten, ebenso ab wie von den hierarchisch organisierten Bedürfnissen der Wirtschaftsform zu jener Zeit und an jenem Ort.

Das heißt, der Rassismus behauptet einerseits die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart (in genetischer und/oder gesellschaftlicher Hinsicht), verbindet dies aber andererseits immer mit einer gegenwartsbezogenen Flexibilität, wenn es um die Definition der exakten Grenzen jener verdinglichten Wesenheiten geht, die wir Rassen oder ethnische, nationale, religiöse Gruppierungen nennen. Diese Flexibilität, die das Weiterbestehen von in der Vergangenheit liegenden Grenzen behauptet und zugleich in der Gegenwart diese Grenzen ständig neu bestimmt, nimmt die Form der Schöpfung und fortwährenden Neuschöpfung rassisch und/oder ethnisch, national und religiös gekennzeichneter Gruppen oder Gemeinschaften an. Diese Gemeinschaften gibt es zu jeder Zeit, und sie sind immer hierarchisch organisiert, doch sie existieren nicht immer in genau der gleichen Form. Einige Gruppen sind in der hierarchischen Ordnung nicht auf einen bestimmten Rang fixiert; einige Gruppen können verschwinden oder sich mit anderen zusammenschließen; andere wiederum brechen auseinander und es entstehen neue Formationen. Doch es gibt immer einige, die die »Nigger« sind. Wenn es keine Schwarzen gibt, oder zu wenige, die die Rolle übernehmen könnten, dann werden eben »weiße Nigger« erfunden.

Ein so geartetes System, d. h. ein der Form und Bösartigkeit nach konstanter, bezüglich der Grenzziehungen aber einigermaßen flexibler Rassismus, ist in dreierlei Hinsicht äußerst leistungsfähig. Zum einen erlaubt es, zu jeder Zeit und an jedem Ort entsprechend den aktuellen Bedürfnissen die Anzahl der Menschen, welche die niedrigsten Löhne erhalten und die anspruchslosesten Arbeiten verrichten, zu vergrößern oder zu verringern. Zum Zweiten führt es zur Entstehung und kontinuierlichen Reproduktion von Gemeinschaften, deren Sozialisationsformen Kinder auf die Übernahme entsprechender Rollen vorbereiten (wobei diese Sozialisation allerdings auch widerständige Haltungen hervorruft). Zum Dritten schafft das System eine nicht auf Verdienst und Leistung beruhende Grundlage, um Strukturen der Ungleichheit zu rechtfertigen. Gerade dieser letzte Punkt verdient es, hervorgehoben zu werden. Gerade weil der Rassismus eine anti-universalistische Lehre vertritt, erweist er sich bei der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems als hilfreich. Dank seiner Existenz können die Vergütungen für einen Großteil der Arbeiterschaft viel geringer ausfallen, als es auf der Basis von Verdienst und Leistung zu rechtfertigen wäre.

Aber wenn der Kapitalismus als System den Rassismus hervorbringt, muss er dann notwendigerweise auch den Sexismus hervorbringen? Ja, weil die beiden de facto eng miteinander verbunden sind. Die Ethnisierung der Arbeiterschaft hat ihren Daseinsgrund in den äußerst niedrigen Löhnen für ganze Gruppen innerhalb der arbeitenden Klasse. Diese Niedriglöhne sind faktisch nur deswegen möglich, weil die Lohnabhängigen in Haushaltsstrukturen eingebunden sind, in denen die Lohneinkünfte nur einen geringen Bruchteil des gesamten Haushaltseinkommens bilden. Solche Haushalte erfordern einen extensiven Aufwand für die sogenannten Subsistenzarbeiten, die zum Teil natürlich von den männlichen Erwachsenen, in viel größerem Maße aber von den Frauen und, nicht zu vergessen, den Alten und Jungen beiderlei Geschlechts ausgeführt werden müssen.

In so einem System »kompensiert« die für unbezahlte Arbeit aufgewendete Leistung das geringe Ausmaß der Lohneinkünfte und stellt von daher faktisch eine Subvention der Unternehmer dar, die in solchen Haushalten lebende Lohnabhängige beschäftigen. Der Sexismus lässt uns das vergessen. Wie der Rassismus mehr ist als nur Fremdenfeindlichkeit, so ist der Sexismus mehr als die Tatsache, dass die Frauen gezwungen sind, andere, wo nicht gar als gering eingestufte Arbeiten zu leisten. Rassismus und Sexismus verfolgen die gleiche Absicht: die Menschen sollen innerhalb des Arbeitssystems bleiben und nicht aus ihm hinausgeworfen werden.

Auf welche Weise werden Frauen – wie auch die Alten und die Jungen – dazu veranlasst, für die Kapitaleigner Mehrwert zu erwirtschaften, ohne auch nur einen Pfennig Geld dafür zu bekommen? Ganz einfach: ihre Arbeit wird als Nicht-Arbeit ausgegeben. So erfindet man die »Hausfrau« und behauptet, dass sie keine »Arbeit verrichte«, sondern lediglich »den Haushalt führe«. Wenn folglich eine Regierung die Prozentzahl der tatsächlich in Lohn- und Brot- Stehenden berechnet, sind »Hausfrauen« weder im Nenner noch im Zähler der Berechnung enthalten. Dergestalt kann man so tun, als würde die Arbeit der Hausfrau keinen Mehrwert produzieren, und genau das Gleiche gilt für die vielfältigen unbezahlten Arbeitsleistungen der Jungen und Alten. Denn mit dem Sexismus geht die Abwertung bestimmter Altersstufen Hand in Hand.

Keine dieser Behauptungen reflektiert die wirklichen Strukturen der Arbeitswelt. Doch sie summieren sich zu einer Ideologie, die äußerst wirksam ist und in der alles zusammenpasst. Universalismus und Leistungsgesellschaft – die Grundlage, auf der die Mittelschichten das System legitimieren können – verbinden sich mit Sexismus und Rassismus, die ihrerseits die Mehrheit der arbeitenden Klassen strukturieren. Das Ganze funktioniert einigermaßen reibungslos, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die beiden ideologischen Muster der kapitalistischen Weltwirtschaft in offenem Widerspruch zueinander stehen. Die mühsam ausbalancierte Kombination ist in ständiger Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten, und zwar immer dann, wenn verschiedene Gruppen die Logik des Universalismus einerseits und die des Sexismus/Rassismus andererseits ins Extrem zu treiben suchen.

Wir wissen, was bei der Übersteigerung von Rassismus und Sexismus geschieht. Rassisten können versuchen, die zum Feind stilisierte Gruppe völlig auszumerzen – auf schnelle Art und Weise, wie etwa in der Vernichtung der Juden durch die Nazis, oder mit geringerem Tempo, wie bei der Durchsetzung totaler Apartheid. In diesen extremen Formen sind die rassistischen und sexistischen Ideologien irrational, und genau deshalb treffen sie auf Widerstand. Dieser Widerstand geht natürlich von den Opfern aus, ebenso jedoch von wirtschaftlichen Machtstrukturen, die gegen den Rassismus an sich nichts einzuwenden haben, aber Wert darauf legen, dass sein hauptsächliches Ziel – eine ethnisierte und zugleich produktive Arbeiterschaft – nicht in Vergessenheit gerät.

Wir können uns auch vorstellen, was die Übersteigerung des Universalismus zu bewirken vermag. So könnte man auf eine wahrhaft egalitäre Verteilung von Arbeitsleistungen und -vergütungen hinarbeiten, in der Gesichtspunkte der ethnischen Herkunft oder des sozialen Geschlechts keine Rolle mehr spielen. Doch lässt sich der Rassismus leichter ins Extreme steigern als der Universalismus, denn was Letzteres angeht, so müssten nicht nur die gesetzlichen und institutionellen Hindernisse, die dem Universalismus im Wege stehen, beseitigt werden, sondern auch die internalisierten Muster der Ethnisierung, und das dauert mindestens eine Generation. Von daher fällt es relativ leicht, der Übersteigerung des Universalismus Widerstand zu leisten. Man kann nämlich immer dann, wenn es um konkrete Schritte zur Beseitigung der institutionalisierten Strukturen von Rassismus und Sexismus geht, im Namen des Universalismus selbst anklagend auf den sogenannten umgekehrten Rassismus verweisen.

Was wir also vor uns haben, ist ein System, dessen Funktionieren auf einer engen Verbindung zwischen Universalismus und Sexismus/Rassismus (jeweils in der richtigen Dosierung) beruht. Und es gibt immer Bestrebungen, die eine oder die andere Seite dieser Gleichung gewissermaßen »ins Unendliche« zu steigern. Daraus ergibt sich eine Art von Zickzack-Muster, das beliebig weitergeführt werden könnte, gäbe es da nicht ein Problem. Nach einer bestimmten Zeit schlägt die Linie nach beiden Seiten immer stärker aus, sowohl in Richtung des Universalismus als auch in Richtung des Rassismus/ Sexismus. Beide Seiten spielen mit immer höherem Einsatz, und zwar aus zwei Gründen.

Einerseits gibt es den auf Informationen beruhenden Einfluss, der Akkumulation historischer Erfahrung, der sich auf alle Beteiligten auswirkt. Andererseits gibt es die konjunkturellen Trends des Systems selbst. Denn die universalistischen und rassistisch-sexistischen Ideologien bilden nicht das einzige Zickzack-Muster dieses Systems, sondern hängen zum Teil mit anderen Schwankungen zusammen, wie zum Beispiel mit wirtschaftlichen Expansions- und Kontraktionsvorgängen, die sich ebenfalls im Lauf der Zeit verschärfen. Die Gründe dafür können hier nicht weiter ausgeführt werden. Je schärfer aber die dauerhafte strukturelle Krise ist, in die der Kapitalismus durch die hauptsächlichen Widersprüche des modernen Weltsystems gezwungen wird, desto stärker kristallisiert sich die zunehmende Spannung zwischen Universalismus und Rassismus/Sexismus als der eigentliche ideologisch-institutionelle Ort einer Suche nach einem System heraus, das die Nachfolge der kapitalistischen Weltwirtschaft antreten kann. Es kann nicht darum gehen, welche Seite dieser Antinomie in irgendeiner Hinsicht den Sieg über ihren Gegenpart davontragen wird, denn sie sind einander schon von ihrer Konzeption her eng verbunden. Es geht vielmehr darum, ob und auf welche Weise wir neue Systeme erfinden werden, die weder der universalistischen, noch der rassistisch-sexistischen Ideologie bedürfen. Darin besteht unsere Aufgabe, und sie ist alles andere als einfach.

Rasse, Klasse, Nation

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