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5.

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„Diese Zeitungsartikel verbreiten Angst und Schrecken. Es ist unverantwortlich, wie mit der Thematik umgegangen wird,“ maulte Krohmer und warf dabei die Tageszeitung auf den Tisch. „Abgesehen von den vielen, vielen Fotos wird der Unfall haarklein zerpflückt und dabei dem Opfer eine Mitschuld vorgeworfen. Widerlich, besonders für die Angehörigen des Toten.“

„Seien Sie nicht ungerecht, Chef,“ sagte Hans. „Es ist die Pflicht der Journalisten, die Bevölkerung aufzuklären. Ich finde, dass die Informationen längst hätten veröffentlicht werden müssen. Vielleicht nicht gerade in dieser Form und dem unterschwelligen Vorwurf, aber darüber kann man streiten.“

„Ja, das weiß ich. Trotzdem würde ich diesen Idioten, die Gegenstände von Brücken werfen, nicht die Ehre dieser Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie in meinen Augen nicht verdient haben. Was gibt es Neues?“

„Ich habe mit den Altöttinger Kollegen gesprochen,“ sagte Leo, der dieses Thema eben absprechen wollte. „Es wurden bisher in den letzten Monaten tatsächlich nur ungefährliche Gegenstände von Brücken geworfen. Die Altöttinger Kollegen sprachen von Kürbissen und Kleinobst, die keinen Schaden angerichtet hatten. Man fand auch einen Fahrradreifen, der aber wie andere Gegenstände auch nicht zwingend damit zu tun haben muss. Bewiesen sind aufgrund Zeugenaussagen nur die Würfe von Zierkürbissen, Zwetschgen und Äpfel.“ Leo hatte stundenlang mit den Kollegen gesprochen, die anfangs nicht begeistert darüber waren, mit ihm zu sprechen. Erst als Schenk deutlich machte, dass jeder Einzelne mit der Kripo zusammenarbeiten musste, wurden Details genannt. Leo markierte die verschiedenen Brücken auf einer Karte, die Schenk zur Verfügung stellte. Es ergab sich, dass weit mehr Brücken genannt wurden, die nicht in den Unterlagen auftauchten. Auch private Handyfotos wurden ausgehändigt.

„Gibt es Täterbeschreibungen oder irgendeinen Hinweis?“

„Nein.“

„Haben die Kollegen einen Verdacht geäußert?“

„Nein.“

Während Leo gestern mit den Altöttinger Kollegen sprach, nahm sich Werner nochmals die Zeugin Alramseder, die Ersthelfer am Unfallort und Journalisten der Tagespresse vor. Auch mit den Verkehrsteilnehmern, die Anzeige erstattet hatten, hatte er gesprochen.

„Nichts. Nicht der kleinste Hinweis,“ schloss er seinen kurzen Bericht.

Krohmer hatte sich mehr von den Befragungen erhofft. Was sollte er Eberwein berichten? Der würde sich mit diesem Ermittlungsstand sicher nicht zufriedengeben.

Es war still. Hätten sie selbst mehr herausgefunden als die Altöttinger Kollegen, wenn man sich umgehend an die Kriminalpolizei gewandt hätte? Fraglich, wenn keine Hinweise oder Beweise vorlagen.

„Es ist völlig gleichgültig, was von Brücken geworfen wird. Die Tatsache, dass so etwas geschieht, ist schlimm genug und muss schnellstmöglich aufgeklärt werden. Ein Fahrer braucht sich nur zu erschrecken und die Kontrolle zu verlieren. Ich brauche nicht zu betonen, dass das jeden von uns treffen könnte.“ Krohmer war wütend. Solche Vorkommnisse hätten der Kriminalpolizei sofort gemeldet werden müssen. Statt sich darum zu kümmern, bearbeiteten seine Leute alte Fälle, was gerne warten konnte.

„Es gibt noch ein Problem,“ fügte Leo hinzu. „Die Bürgerwehr ist nach dem tödlichen Vorfall sehr aktiv geworden und lässt sich nicht davon abhalten, verstärkt auf Brücken zu patrouillieren. Den Altöttinger Kollegen ist es gelungen, einige Namen der Mitglieder herauszufinden, die vor einer Stunde übermittelt wurden. Das sind keine harmlosen Spinner, sondern bekannte und angesehene Bürger, die sich zusammengeschlossen haben.“

„Das ist mir völlig egal, um wen es sich dabei handelt. Gehen Sie der Sache nach und ziehen Sie die Leute aus dem Verkehr, und zwar so schnell wie möglich. Wir können keine Stümper brauchen, die unsere Arbeit unnötig erschweren. Was ist mit den Pflastersteinen?“

„Da sind wir noch dran,“ sagte Werner, der sich dieses Themas angenommen hatte. Da er selbst erst im Frühjahr seine Einfahrt neu pflastern ließ, war ihm die Besonderheit der roten Steine, dessen Reste die Polizei sichergestellt hatte, sofort aufgefallen. Das waren teure Pflastersteine, die nur auf Vorbestellung gefertigt wurden und die nur ein Betonwerk herstellte, das Werner rasch ausfindig gemacht hatte. Man wollte sich wieder bei ihm melden.

„Sie haben mit den Eltern des Toten gesprochen?“, wandte sich Krohmer an Tatjana. Er wusste längst von Eberwein von dem Besuch der Kollegen Struck und Hiebler.

„Ja. Das Opfer fuhr seit einem guten Jahr werktags dieselbe Strecke, wegen des Schichtdienstes allerdings immer zu unterschiedlichen Zeiten. Er arbeitete in einer Kfz-Zulieferfirma in Erding und pendelte täglich. Laut den Eltern hatte er keine Feinde. Auch Arbeitskollegen und Nachbarn sprachen nur positiv über ihn.“

„Wie alt war das Opfer? Einundzwanzig Jahre? In dem Alter wissen Eltern nicht alles über ihre Kinder. Wie sieht es mit dem Freundeskreis aus? Mit einer Freundin?“

„Die Eltern wissen nicht viel, kennen teilweise nur die Vornamen der Freunde. Von einer Freundin wissen sie nichts. Das Handy ist verbrannt, Daten auszulesen ist zwecklos. Wir haben die Verbindungsdaten des Telefonanbieters angefordert. Die Eltern haben uns den Laptop des Opfers überlassen. Fuchs ist dabei, diesen auszuwerten.“

„Das ist sehr dürftig. Es gibt keine anderen Hinweise?“

„Noch nicht. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass wir mit den Ermittlungen im Umfeld des Opfers nur unnötig viel Zeit verschwenden,“ sagte Werner und alle starrten ihn an. „Ich gehe davon aus, dass es sich um ein Zufallsopfer handelt. Ja, das Opfer fuhr jeden Werktag dieselbe Strecke, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Ich denke, dass es das Opfer zufällig getroffen hat, der Anschlag hätte jeden anderen treffen können. Die Zeugin Alramseder hätte die Brücke nur wenige Sekunden später passiert und dann hätte es vermutlich sie getroffen. Wir sollten uns auf denjenigen konzentrieren, der Gegenstände von Brücken wirft.“

„Wenn es einen Täter im direkten Umfeld des Opfers gibt?“, sagte Leo. „Mir ist klar, dass derjenige den Schichtplan des jungen Mannes sehr gut hätte kennen müssen. Trotzdem halte ich diese Möglichkeit für wahrscheinlich.“

„Und wenn es die Zeugin Alramseder treffen sollte? Diese Möglichkeit wurde bisher noch nicht überdacht.“ Hans machte sich Sorgen. Vielleicht hatte Werner recht und sie vergeudeten nur unnötig Zeit.

„Ermitteln Sie in alle Richtungen. Machen Sie sich an die Arbeit und sehen Sie zu, dass dieser Unsinn so schnell wie möglich aufhört. Es versteht sich von selbst, dass Urlaube gestrichen sind, bis der Fall gelöst ist. Tut mir leid, Herr Schwartz.“

Leo hatte bereits damit gerechnet, obwohl er dringend Urlaub brauchte. Er sehnte sich schon seit Monaten nach seiner alten Heimat und freute sich auf seine Ulmer Freunde, die er lange nicht gesehen hatte. Wer weiß, vielleicht schafften sie es noch, den Fall vor Weihnachten zu lösen.

Alle arbeiteten auf Hochtouren. Hans und Werner sprachen nochmals mit Carmen Alramseder, die die Möglichkeit einer vorsätzlichen Tat gegen sie selbst völlig abwegig fand. Sie hatte kaum soziale Kontakte und war stets bemüht, mit allen gut auszukommen.

„Sie können versichert sein, dass dies nicht mir gegolten hat,“ wiederholte sie. Auch, um sich selbst von dieser Aussage zu überzeugen. Ihre Gedanken rasten in ihrem Kopf hin und her, als die Polizisten bereits verschwunden waren. Zitternd schenkte sie sich einen Schnaps ein, obwohl es noch nicht einmal Mittag war. Was, wenn doch sie gemeint war? Gab es irgendjemanden, der solch einen Hass auf sie hatte? Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein! Trotzdem war sie beunruhigt und nahm sich vor, ihre Umgebung genauer im Auge zu haben, und sie wusste, was das bedeutete. Die Unbeschwertheit, der normale Alltag war nicht mehr existent.

„Wir haben die Frau verunsichert,“ sagte Hans, der sich Vorwürfe machte. Er hatte in ihren Augen gesehen, dass sie schreckliche Angst hatte, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ.

„Das musste sein,“ erwiderte Werner. „Wenn der Anschlag doch ihr gegolten hat, wird sie vorsichtiger sein.“

Bis zum späten Abend hatten die Kriminalbeamten nicht den kleinsten Hinweis auf den oder die vermeintlichen Täter. Hans machte früher Feierabend, um sich nochmals ausführlich mit Carmen Alramseder zu unterhalten. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, dass sie vielleicht ängstlich zuhause saß und sich sorgte. So konnte er sie nicht sich selbst überlassen. Nachdem er sie beruhigen konnte, unterhielten sie sich noch lange und hatten sich völlig verquatscht. Frau Alramseder machte auf ihn endlich einen gefestigten Eindruck. Die Frau gefiel ihm. Sie hatte nichts Künstliches an sich und ihr Humor war köstlich. Hätte er sie einladen sollen? Carmen Alramseder schien darauf zu warten, die Signale waren eindeutig, nachdem sie aus ihm herausgekitzelt hatte, dass er Single war. Normalerweise war es seine Art, sofort darauf einzugehen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. War es die lose Einladung einer flüchtigen Bekannten für den späten Abend, die er vorhatte, anzunehmen? Als er im Wagen saß, ärgerte er sich über sich selbst. Er nahm sich vor, eine Einladung so schnell wie möglich nachzuholen.

Carmen Alramseder stand am Fenster und sah ihm nach. Sie hatte es darauf angelegt, dass der hübsche Polizist sie einlud und sie auf privater Ebene miteinander in Kontakt traten. Sie kannte solche Männer, sie waren leicht zu haben, auch wenn sie nicht lange blieben. Aber sie war allein und fühlte sich oft auch sehr einsam. Vor allem die Advents- und Weihnachtszeit war allein kaum zu ertragen. Mit einem Lächeln räumte sie die Kaffeetassen in die Spülmaschine. Herr Hiebler hatte sich Sorgen um sie gemacht, was ihr sehr guttat. Es war lange her, dass sich jemand um ihr Wohlergehen kümmerte. Sie war sicher, dass der Kommissar irgendwann vor ihrer Tür stehen würde.

Es klopfte an der Tür und Fuchs trat herein.

„Hier ist der Laptop, den Sie mir überlassen haben, Herr Schwartz. Wollten Sie mich veräppeln oder auf die Probe stellen?“

„Ich? Nein! Das ist der Laptop des Opfers. Wir haben ihn aus dessen Zimmer mitgenommen. Was ist damit?“

„Der ist fabrikneu. Da wurde noch nie darauf gearbeitet. Einen schönen Abend noch.“

Leo schüttelte unverständlich den Kopf und legte den Laptop in seine Schreibtischschublade.

„Vielleicht ist der Junge noch nicht dazu gekommen, sich darum zu kümmern. Seine Mutter sagte, dass er ihn zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Wann war der?“

„Am zweiundzwanzigsten September,“ rief Hans.

„Ist das nicht seltsam?“

„Nein. Junge Leute machen heute fast alles mit dem Smartphone. Laptops sind schon lange nicht mehr in.“

„Lasst uns für heute Schluss machen,“ stöhnte Tatjana auf, als sie auf die Uhr sah und erschrocken feststellte, dass es fast zwanzig Uhr war.

„Das ist doch mal ein Wort,“ rief Leo erfreut, dem der Kopf brummte. „Zur Feier deiner Rückkehr gebe ich einen aus. Na? Wie sieht es aus?“

Werner lehnte dankend ab, er hatte andere Pläne. Er hatte seiner Frau versprochen, mit ihr und der kleinen Tochter den ersten Weihnachtsmarkt in der Gegend zu besuchen. Drei Weihnachtsmärkte öffneten am heutigen Freitag die Tore und Werners Frau hatte sich für den in Altötting entschieden. Es war zwar schon sehr spät, aber noch nicht zu spät.

„Ich glaube, ich gehe nach Hause,“ sagte Tatjana. „Der erste Arbeitstag war hart und ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.“ Das war gelogen. Tatjana schlief fast überhaupt nicht mehr und auf Gesellschaft legte sie keinen gesteigerten Wert. Sie war am liebsten alleine und genoss die Ruhe.

„Schade.“ Leo war enttäuscht, er hätte sich gerne mit Tatjana ausführlich unterhalten. Er kannte noch nicht jedes Detail des schrecklichen Vorfalls und war neugierig. Wieder ein Abend, den er allein verbringen musste.

Er parkte seinen Wagen und sah bei seiner Vermieterin und Vertrauten Tante Gerda noch Licht. Leo bewohnte die ausgebaute obere Etage des einsam gelegenen Hofes vor den Toren Altöttings und fühlte sich sehr wohl hier, obwohl er die Freunde in Ulm vermisste. Er hasste die dunkle Jahreszeit, die ihn melancholisch werden ließ. Nein, heute wollte er nicht allein bleiben und klopfte bei Tante Gerda. Sie hatte nichts gegen einen Plausch mit Leo einzuwenden. Seit Leos Freundin Viktoria nach Berlin gegangen war, beobachtete sie, wie Leo immer einsamer und trauriger wurde. Daran änderten sich auch die nächtlichen Streifzüge mit ihrem Neffen Hans nichts, zu denen sie ihn angestiftet hatte. Wie viele Damen sie Leo in den letzten Monaten vorgestellt hatte, konnte Tante Gerda nicht mehr zählen. Sie hatte es längst aufgegeben, ihn zu verkuppeln. Leo war stur, anspruchsvoll und eigensinnig. Als er jetzt wie ein Häufchen Elend vor ihr stand, ließ sie ihn herein. Sie schaltete den Fernseher aus und öffnete eine Flasche Rotwein. Nach dem ersten Glas erzählte Leo von Tatjanas Rückkehr und von dem Fall, von dem Tante Gerda in der Zeitung gelesen hatte. Tante Gerda hörte aufmerksam zu und wurde hellhörig, als sie den Namen des Opfers hörte.

„Patrick Ziegler? Ist das der Sohn von Paul Ziegler?“

„Richtig. Warum fragst du?“

„Ich kenne ihn von früher,“ antwortete Tante Gerda und schenkte einen weiteren Schnaps ein, worauf sofort das Thema gewechselt wurde. Tante Gerda kannte Paul sehr gut. Sie war früher mit dessen Vater liiert, aber das war lange her. Paul war damals noch ein Teenager und wuchs bei der Mutter auf. Ein Kind, das mit der Trennung seiner Eltern nur schwer zurechtkam. Immer wieder tickte der Junge aus und fiel durch aggressives Verhalten auf. Verständlich, wenn die Welt einer Kinderseele zerbricht, sie hatte damals Verständnis für ihn und seine Ausraster. Wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen? Das muss weit über dreißig Jahre her sein, wenn nicht noch länger. Der arme Paul!

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