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6.

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Andreas Hegel lud zu den bereits eingesammelten Äpfeln mehrere Zierkürbisse in seinen Rucksack, die er von einem Stand in der Altöttinger Burghauser Straße klaute. Kistenweise stand das Zeug seit Wochen hier und man konnte sie kaufen, indem man Geld in eine Kasse warf. Blödsinn! Als wenn jemand freiwillig da Geld reinwarf. Und warum sollte er Ende November dafür bezahlen? Die Kürbissaison war längst vorbei und danach landete sowieso alles auf dem Müll.

Der Rucksack war brechend voll. Er nahm das Fahrrad und fuhr Richtung Neuötting. Nach über einer Stunde war er völlig außer Atem endlich an der Autobahnbrücke in Neuötting angekommen, die über die A94 führte. Der Verkehr auf der Bundesstraße war trotz der späten Stunde immer noch sehr dicht. Verdammt, er musste warten, denn mit dem Verkehr im Rücken konnte er keine Gegenstände auf die Fahrbahn der unter ihm liegenden Autobahn werfen.

Er ging auf der Brücke auf und ab und beobachtete mit Zorn die in seinen Augen rücksichtslose Fahrweise der Auto- und Lkw-Fahrer. Sowohl auf der Autobahn als auch auf der Bundesstraße fuhr nicht einer die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Jeder schien es eilig zu haben. Nicht einer von ihnen hatte von dem gelernt, was kürzlich geschah. Die vorsichtige Fahrweise hatte nicht mal einen Tag gedauert. Andreas wurde kalt. Auch heute war es eine sternklare, klirrend kalte Nacht. War morgen nicht schon der erste Advent? Mag sein, er wusste es nicht, er hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Weihnachten fiel für ihn in diesem Jahr sowieso aus. Was sollte er feiern? Und mit wem? Familie und Freunde hatten sich längst von ihm abgewandt. Selbst gute Kunden, die er zu seinen Freunden zählte und denen er oft ausgeholfen hatte, kannten ihn seit der Gerichtsverhandlung nicht mehr. Alle, mit denen er früher in engem Kontakt stand, wechselten die Straßenseite, wenn sie ihm begegneten. Natürlich redete er sich immer ein, andere nicht zu brauchen, aber trotzdem kränkte ihn deren Verhalten. Er fühlte sich allein, alle ließen ihn im Stich. Selbstmitleid kroch in ihm hoch, was ihn von der Kälte ablenkte.

Nach ein Uhr wurde es endlich ruhiger und er konnte es wagen, Gegenstände auf die Fahrbahn zu werfen. Er nahm zwei Zierkürbisse aus dem Rucksack. Würde er diesmal treffen? Er hatte noch nie Fahrzeuge getroffen. Er zweifelte daran, welche mit dieser Geschwindigkeit zu treffen. Ob es ihm gelang, wenigstens eines zu treffen? Er war nervös, die Kälte war vergessen.

Es näherte sich ein Wagen mit hohem Tempo. Mit zitternden Händen warf er einen Kürbis – und verfehlte sein Ziel. Der Wagen war viel zu schnell, er musste eine andere Wurftechnik anwenden. Dann geschah lange nichts. Auf der Gegenfahrbahn war mehr los, also konzentrierte er sich auf die andere Spur. Er warf mehrere Kürbisse, die allesamt ihr Ziel verfehlten. Er musste schneller werfen und begann, seine Wurftechnik zu perfektionieren. Ein erster Erfolg stellte sich insofern ein, dass er zumindest die Plane eines Lieferwagens getroffen hatte. Dann näherte sich ein Wagen hinter ihm von der Bundesstraße, die bis jetzt völlig leer war. Andreas erschrak. Er legte den Kürbis, den er eben werfen wollte, wieder zurück und warf den Rucksack über die Schulter. Der Wagen wurde auf dem nahen Parkplatz abgestellt. Mist! Hatte der Fahrer ihn entdeckt? Zwei Personen stiegen aus und kamen direkt auf ihn zu! Andreas wurde schlecht. Wer war das und was wollten die beiden hier? Waren das die, die für den Tod des jungen Fahrers verantwortlich waren? Oder waren das Typen der Bürgerwehr, die ihm gefährlich werden konnten, wenn sie mitbekämen, was er hier machte? Er wurde hektisch, zitterte und stieg auf sein Rad. So schnell er konnte, fuhr er in entgegengesetzter Richtung davon, wobei er ein Stück auf der Bundesstraße fahren musste, die für Fahrräder eigentlich verboten war. Er verzichtete darauf, sein Licht einzuschalten. Nichts durfte ihn verraten. Er war den beiden gerade noch rechtzeitig entkommen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten ihn gehabt.

Irgendwann blieb Andreas stehen und beobachtete, wie die beiden Männer auf der Brücke standen. Waren das nun die Steinewerfer oder diese Bürgerwehr? Er konnte es nicht erkennen. Dann lief einer Männer in seine Richtung und kam immer näher. Konnte es sein, dass der Typ ihn entdeckt hatte? Nein, das war nicht möglich, dafür war er zu weit weg. Außerdem war es stockdunkel. Andreas konnte kein Risiko eingehen, stieg aufs Rad und fuhr in Panik davon. Er hielt erst wieder an, als er in seiner Garage war. Rasch verschloss er die Tür und verschwand im Haus. Er getraute sich nicht, Licht anzumachen, und blickte vorsichtig durch die Fenster. Er sah niemanden, aber das hieß nichts. Noch sehr lange lief er von einem zum anderen Fenster, bis er endlich sicher war, dass ihm niemand gefolgt war.

„Was ist los?“, sagte Karl Lahmbrenner, als sein Kumpel Heinz wieder zurückkam.

„Nichts. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen. War hier nicht vorhin ein Fahrrad auf der Brücke?“

„Ich habe nichts gesehen. Trotzdem sollten wir den anderen deine Beobachtung mitteilen. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein. Wir müssen die Augen und Ohren offenhalten. Nicht auszudenken, wenn sich der Typ auch noch eine Autobahnbrücke vornimmt. Es sind zu viele Brücken und wir sind zu wenig Leute. Wir müssen die Bürgerwehr verstärken, auf die Polizei ist kein Verlass. Seit Tagen habe ich nicht einen Polizeiwagen gesehen. Du etwa?“

„Nein,“ sagte Heinz Ott, dem schlecht wurde. War das vorhin mit dem Fahrrad der Verrückte, nach dem sie Ausschau hielten? Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, in welcher Gefahr er schwebte. Was passierte, wenn der Mann bewaffnet war? Schließlich hatten sie es mit einem Irren zu tun, der ohne Skrupel mit dem Leben von unbescholtenen Bürgern spielte. Hätte er auf seine Inge hören sollen, als sie ihn bat, zuhause zu bleiben? Nein. Er hatte drei Kinder, von denen zwei ständig nachts unterwegs waren. Er musste nicht nur die Bevölkerung, sondern vor allem seine Kinder vor diesem Irren schützen.

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