Читать книгу Meerestiere - Iris Antonia Kogler - Страница 5

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Alfred

Alfred saß in einem Sessel jener Wohnung, die schon seit so vielen Jahren sein Heim war. Hier, umgeben von vertrauten Gegenständen, dem Mobiliar und den vielen Fotos fühlte er sich zuhause. Er sah auf die Teile seines Lebens, von denen nun ein großer Teil nicht mehr an seinem angestammten Platz stand, sondern in Koffern und Umzugskisten verstaut war. Judy lag in ihrem Körbchen und döste vor sich hin. Noch immer gab es vieles, das nicht verpackt war, und er wusste nicht, wie er es anstellen sollte, sein ganzes Leben einzupacken, um es an einen anderen Ort zu bringen. Mit seiner Schrift, die die eines alten Mannes war, hatte er in den letzten Tagen versucht, die Umzugskartons sinnvoll zu packen und zu beschriften, aber es verwirrte ihn, dass sich scheinbar nicht zusammenhängende Dinge in ein und demselben Karton befanden. Auf einem las er die Worte Socken, Ordner, zwei Kochtöpfe, Gießkanne. Das passte nicht, und so stand er auf, öffnete den Karton, packte die Töpfe aus und versuchte, in einem anderen einen Platz für sie zu finden. Der Karton mit dem Brockhaus war zu schwer. Alfred überlegte, ob er vier Ausgaben herausnehmen sollte, um Platz für die Töpfe zu bekommen. Aber wohin könnte er den Brockhaus packen? Zu den Socken? Alfred setzte sich zurück in seinen Sessel. Nichts an dieser Situation fühlte sich richtig an. Seit achtundvierzig Jahren lebte er in dieser Wohnung, er kam noch zurecht, kaufte Kleinigkeiten selbst ein und löste jeden Tag zwei Kreuzworträtsel. Er schrieb seinen Freunden regelmäßig Briefe und kümmerte sich um die Bonsais. Die Nachbarstochter besserte ihr Taschengeld auf, indem sie manchmal für ihn Besorgungen machte, und einmal am Tag kam jemand vorbei, um nach ihm zu sehen. Er stand jeden Morgen um sieben Uhr auf, zog sich an und band sich eine Krawatte um.

Jeden Tag.

In regelmäßigen Abständen telefonierte er mit seiner Tochter, was er immer akribisch in einem Kalender notierte. Diese Gespräche waren sich alle sehr ähnlich, und das stimmte Alfred traurig. Immer sprachen sie darüber, wie selten sie sich doch sahen, wie wenig er von den Enkelkindern und auch von seiner Tochter selbst mitbekam. Immer wieder antwortete sie, es läge an der weiten Entfernung, sie könne es sich nicht leisten, ein Wochenende auf der Autobahn zu verbringen, nur um ein paar Stunden bei ihm zu sein. „Dann kommt doch für länger“, schlug er oft vor, aber von seiner Tochter kamen nur Ausreden, dieselben, die er schon seit Jahren hörte. Alfred gefielen die Telefonate mit seiner Tochter seit langem nicht mehr, denn jedes Mal fühlte er sich danach besonders einsam. Und nun hatte sie entschieden, dass er seine geliebte Wohnung verlassen solle. Dieser Gedanke schmerzte ihn sehr, und so stand er auf, um mit Judy eine kleine Runde durch den Park zu drehen, vorbei am Ententeich, an dem eine Bank stand, auf der er und Judy sich gern ausruhten. Beim Aufstehen fiel sein Blick auf die Kommode mit den Bilderrahmen. In der letzten Zeit war es vorgekommen, dass ihn ein leichter Schwindel überkam. So war es auch jetzt im Moment des Aufstehens, denn Alfred war es, als bewege sich der Bilderrahmen mit dem Bild seiner Frau ein kleines Stück auf den Rand der Kommode zu. Er setzte sich vorsichtig zurück in den Sessel und ließ seinen Blick durch den Raum streifen. Er fühlte keinen Schwindel mehr, auch keine anderen körperlichen Symptome, nur die Einsamkeit bedrückte ihn. Als er wieder aufstand, fiel ihm ein Stuhl auf, der um einige Zentimeter verschoben schien. Alfred erhob sich aus dem Sessel und ging aufmerksam durch seine Wohnung. Er betrachtete die Bilder an der Wand, einen Spiegel und die Stelle, an der das Bein des Sofas den Teppich niederdrückte. Als er an einem Tisch vorbeikam, der dort im Flur schon seit mindestens fünfundzwanzig Jahren stand, stieß er sich sein Knie an. Leise und in seiner Wortwahl kultiviert fluchte Alfred und lief weiter in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er trank es dort direkt im Stehen aus. Auf dem Rückweg stieß er sich seinen Fuß am Bein des Tisches an. Wie seltsam, dachte er, diesen Weg konnte er blind oder im Schlaf entlang laufen, so vertraut war er ihm doch in all den Jahren geworden. Alfred strich mit seiner Hand über die Tischplatte. Alte Haut auf rauem Holz. Er prüfte, ob der Tisch verschoben war, vielleicht weiter von der Wand weg stand. Aber er war nicht verrückt worden, das erkannte Alfred an den Abdrücken im Teppich, als er den Tisch ein klein wenig anhob. Er stellte ihn wieder an die richtige Stelle exakt auf die Abdrücke, ging zurück in die Küche und füllte das Glas erneut mit Wasser. Er trank einen kleinen Schluck daraus, lief zurück ins Wohnzimmer und achtete dabei genau auf den Tisch im Flur. Insgesamt drei Mal lief er den Weg von der Küche am Tisch vorbei in das Wohnzimmer und zurück.

Etwas stimmte nicht.

Etwas an der Wohnung war verändert.

Als ob sie kleiner geworden sei oder die Möbel näher zusammengerückt waren. Alfred überprüfte einige Schränke und die Couch, konnte aber keinen Abstand zwischen ihnen und der Wand erkennen. Bedeutete das, dass die ganze Wohnung selbst ihre Ausmaße veränderte? „Die Dinge kommen näher, Judy. Die Wohnung wird immer kleiner“, sagte er, und Judy sah auf, als sie ihren Namen hörte. Früher wäre sie aufgesprungen, aber heute war sie eine alte Hundedame, die sich nicht mehr so viel bewegen mochte. Alfred setzte sich in seinen Sessel und beobachtete die Dinge, die in der Wohnung standen und die er noch einpacken musste. Er beobachtete sie dabei, wie sie ihn beobachteten, weil sie wussten, dass etwas vorging. Alfred fühlte, wie die Dinge näher rückten, wenn er nicht hinsah, wie bei diesem Kinderspiel, bei dem sich die Kinder nur dann bewegen durften, wenn das Kind, das vorne stand, sich wegdrehte und die Augen zuhielt.

Das Läuten des Telefons zerriss die Stille.

„Hast du fertig gepackt?“ Die Stimme seiner Tochter war laut, weil sie über die Freisprechanlage ihres Autos sprach. „Wenn wir nachher kommen, musst du deine privaten Sachen schon gepackt haben, wir haben nicht so viel Zeit.“

„Aber meine Sachen sind alle privat.“

„Ach Papa, du weißt schon, was ich meine. Vor allem die Sachen, die du in deinem Zimmer haben willst.“

„Und was ist mit dem Rest?“

„Du kannst nicht alles mitnehmen, Papa. Ich habe dir das gesagt, wir haben darüber gesprochen.“

„Aber das sind meine Sachen.“

„Ich sitze gerade im Auto und habe gleich einen Termin. Du kannst nicht alles mitnehmen, nur die Sachen, die dir wichtig sind.“

„Und was ist mit den Sachen, die ihr wichtig waren?“

„Was meinst du?“

„Deine Mutter! Was ist mit den Sachen, die deiner Mutter wichtig waren?“

„Papa, wir haben darüber geredet, und wir haben uns entschieden, was das Beste für dich ist. Ich muss jetzt zu meinem Termin. Ich rufe dich wieder an.“

Sie legte auf.

Alfred streichelte Judy den Kopf, die ihn mit ihren kleinen dunklen Augen ansah. Früher waren sie oft über eine Stunde im Park unterwegs, aber inzwischen fühlte er sich zu alt für diese langen Strecken. Als es Judy in der Hüfte bekam, verlagerten sie ihr Leben eher auf die Wohnung, und zum Einkaufen nahm er sie schon lange nicht mehr mit. Die Abende verbrachten sie damit, sich Spiel- und Wissenssendungen anzuschauen, sie suchten den Superstar und das nächste große Talent, und jeden Abend um zehn Uhr kochte sich Alfred einen Tee. All diese Abläufe sollten sich nun verändern, obwohl er das nicht wollte.

Ihm fiel auf, dass das Bild auf der Kommode ganz an den Rand gerutscht war.

"Judy, hast du es da hingestellt?", fragte er und dachte, dass es vielleicht nur an den Augen lag. Oder an seinem Verstand. „Was packen wir nur ein, Judy? Was davon ist weniger wichtig?“ Judy lief hinter Alfred her, der durch die Umzugskartons lief und sich nicht vorstellen konnte, wie die restlichen Dinge aus seiner Wohnung in die Kartons passen sollten. Was vermochte er zurückzulassen, um es einzulagern in irgendeiner Halle, von der er gar nicht wusste, wo sie stand. Wie konnte er entscheiden, welche Dinge er für den Rest seines Lebens noch brauchen würde? Seit Wochen beschäftigte ihn diese Frage, und heute kam seine Tochter, um ihn in ein betreutes Wohnheim zu bringen. Alfred nahm das Bild seiner Frau von der Kommode und legte es in den Koffer zu den anderen wichtigsten Sachen, die er unbedingt in seiner Nähe haben wollte. Kleidung für zehn Tage, drei passende Krawatten, seine Geldbörse mit Bankkarte und Ausweis, Rilke, Pantoffel, Kulturbeutel, den Kompass und die Taschenuhr seines Vaters.

Fünf Stunden später kam seine Tochter. Sie trug hohe Schuhe und ein Businesskleid. Sie sah sich in der Wohnung um, öffnete den ein oder anderen Karton und warf einen prüfenden Blick hinein.

„Warum hast du denn die Töpfe eingepackt? Wir haben das doch alles besprochen, du musst dort nicht mehr kochen.“

„Ja, ich weiß.“

„Okay, also welche Kartons willst du einlagern und welche mitnehmen?“

„Keinen. Nur den Koffer.“

„Was soll das, Papa? Du kannst doch nicht nur einen Koffer mitnehmen.“

„Du hast gesagt, nur das Wichtigste.“

„Oh bitte Papa, in all dem hier wird ja wohl mehr Wichtiges sein, als in einen Koffer passt. Warum machst du es uns so schwer?“

„Nur den Koffer und Judy.“

Meerestiere

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