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Jen

Obwohl Jen schon über 30 war, sah sie immer noch wie eine frische Studentin aus. Sie war schlank, ihr Body-Mass-Index lag bei 20,5 und somit am unteren Rand des Normalgewichts, trotzdem war ihr Gesicht leicht rundlich wie das eines Teenagers. Sie war blond, nicht hellblond aber eben blond, und wenn sie auf einer Party erzählte, dass sie als Finanzbuchhalterin in einem Autohaus arbeite, erntete sie manchmal einen erstaunten Blick. Irgendetwas an ihr wirkte naiv auf andere Menschen. Im Umgang mit Zahlen war sie äußerst geübt und talentiert, sie merkte sich mühelos lange Zahlenkombinationen und Telefonnummern, viele Rechnungen führte sie im Kopf durch und benutzte den Taschenrechner nur zur Überprüfung, aber sie konnte sich partout keine aktuellen oder geschichtlichen Begebenheiten merken, was sie sehr schade fand. Bei schlechtem Wetter verbrachte sie den Sonntagnachmittag vor dem Fernseher, um sich Reportagen anzusehen, wobei ihr die Thematik relativ egal war, weil sie Dinosaurier genauso spannend fand wie Biografien berühmter Menschen oder Politiker. Besonders angetan war sie von einem Flugsimulator für Fruchtfliegen, der in einer Reportage für Genmanipulation vorkam, die gleich hinter dem tragischen Leben der Marylin Monroe ausgestrahlt wurde. Vor einigen Jahren war sie eher zufällig als Aushilfe in einem Autohaus gelandet, zusätzlich zu ihrem Job als Bedienung in einem Steakhouse, und sie freundete sich dort mit dem alten Buchhalter an, der sich immer über ihren Besuch an seinem Schreibtisch freute. Auf seine Frage, ob sie sich denn beruflich weiterentwickeln wolle, zum Beispiel durch das Absolvieren einer Ausbildung, weil dies doch etwas Sinnvolles sei, wusste sie keine Antwort. „Mädchen, mach was Anständiges“, sagte er mit einem Blick über seine Brillengläser, den Kopf geneigt. Sie tat es ihm gleich, senkte den Kopf und fragte mit tiefer, altväterlicher Stimme, ob er denn glaube, sie würde etwas Unanständiges tun. „Nein“, antwortete der Buchhalter lächelnd, „ich meine nur, du solltest etwas Bodenständiges erlernen, ein Handwerk oder was mit Zahlen. Und lies mal eine Tageszeitung, nicht immer nur diese Zeitungen mit Mode und Prominenten.“ Sie erzählte ihm von dem Fruchtfliegenflugsimulator, aber der Buchhalter fand, dass diese Thematik von der alltäglichen Realität zu weit entfernt sei. „Realität ist das, was in den verschiedenen Tageszeitungen steht“, sagte er. „Lies Zeitung und ziehe Querverbindungen, damit du dir eine eigene Meinung bilden kannst.“

Weil Jen in Mathematik gar nicht so untalentiert war, ging sie mit dem Buchhalter eine Art Deal ein: Er brachte ihr jedes Mal, wenn sie sich sahen, etwas aus der Finanzbuchhaltung oder aus dem tagesaktuellen Geschehen bei, das sie sich in ein kleines Buch schrieb. Sie erklärte ihm im Gegenzug, was ein It-Girl und ein Influencer war, welche Promis Spanx trugen oder bei wem sich die Nase oder das Kinn nicht mehr in ihrer ursprünglichen, natürlichen Form befanden. So lernte sie nach und nach die Worte Aktiva und Passiva, den Unterschied zwischen Gewinn und Umsatz und was eine Mehrwertsteuer war. Eines Morgens wachte sie auf und konnte genau den Unterschied zwischen der doppelten und der einfachen Buchhaltung erklären, weil sie inzwischen über dreißig Seiten in ihrem Buch vollgeschrieben und damit langsam einen Einblick in die Welt der Finanzen bekommen hatte. Am nächsten Tag besuchte sie den Buchhalter an seinem Schreibtisch, unterhielt sich mit ihm über das Thema Bilanzierung und diskutierte die Vor- und Nachteile dieser und jener Unternehmensform. Drei Monate später unterschrieb sie ihren Ausbildungsvertrag zur Kaufmännischen Angestellten im Autohaus, verbesserte sich damit finanziell ein wenig und sah eine Zukunft vor sich, die rosig zu werden schien.

Als der Buchhalter vor einigen Jahren verstarb, fehlte Jen ein Teil ihres Lebens, den sie sehr vermisste. Er hatte ihr eine neue Sichtweise auf die Dinge gelehrt, und bis heute trug Jen das Gefühl in sich, diesem Menschen viel zu verdanken. Noch heute öffnete sie manchmal die letzte Seite des Notizbuches, um seine Worte zu lesen, die er ihr dort hinein geschrieben hatte.

Vor zwei Jahren war ein Kunde in das Autohaus gekommen, um sich die Wagen der gehobenen Klasse mit Sonderausstattung anzusehen, und Jen war bis heute offiziell Single, denn nie und niemandem gegenüber verlor sie auch nur ein einziges Wort darüber, seit eben jenem Tag die Geliebte eines verheirateten Familienvaters zu sein. Von Anfang an war ihr klar, dadurch ein Stereotyp zu werden, zu einem Klischee, das Vorurteile bestätigte und sie in eine Form pressen würde, in der sie sich selbst nicht sah.

Jen legte ihren kleinen Koffer auf das Bett und stellte den Ventilator an. Aus einer Schublade holte sie die Unterwäsche hervor, die sie nicht oft trug, weil sie nicht sonderlich bequem war. Sie legte sie auf das Bett und machte ein Foto davon, das sie John schickte. John, dessen Geliebte sie war, dessen Geheimnis, dessen Flucht aus seinem Leben. John, der als Familienvater Jonathan hieß und achtzehn Jahre älter war als sie, der ihr die Unterwäsche an einem Winterwochenende geschenkt hatte, das sie außerplanmäßig in der Schweiz verbrachten. Wieder so ein Klischee. Auf ihrem Handy durchsuchte sie die Fotos, die sie in der letzten Zeit aufgenommen hatte. Die einzigen Bilder, die sie je von einem Fotografen machen ließ, waren die für die Internetseite des Autohauses, die sie auch auf den Businessnetzwerken verwendete. Die Finanzbuchhalterin Jennifer L. trug die Haare zu einem Zopf gebunden, einen Blazer in Größe achtunddreißig und ein schlichtes, aber elegantes Oberteil darunter. Um den Hals trug sie eine Silberkette mit einem silbernen Anhänger in Form eines Widders und kleine Ohrstecker in den Ohrläppchen. Ihr Make-up war dezent, ihr Lächeln sympathisch aber angemessen zurückhaltend, und ihre Stärken waren der sichere Umgang mit allen gängigen Computerprogrammen im Bereich Finanzbuchhaltung, selbstständiges Arbeiten und Zuverlässigkeit. Und weil sie nur durch einen Freund in den Job als Bedienung in einem Steakhouse und ihre Ausbildung als kaufmännische Angestellte gerutscht war, war sie nie auf die Idee gekommen, ihr öffentliches Image zu hinterfragen oder auf seine Funktionalität hin zu überprüfen. Jen wechselte den Ordner und sah sich die privaten Schnappschüsse an, auf denen sie zu sehen war. Diese Bilder zeigten einen fröhlichen Menschen, tierlieb, weil Katzenbesitzerin, mit einer Vorliebe für Makroaufnahmen und Schattenspiele an öffentlichen Gebäuden. Eines Tages wollte John wissen, warum sie ihre Fotomotive so aussuchte, und sie erklärte ihm, dass Schatten die Sicht auf die Welt verändern. „Du bist klug“, hatte er gesagt, sich zu ihr gedreht und das Geschenk mit der Unterwäsche hervorgeholt. Wenige Stunden später waren sie in ihre Leben zurückgekehrt, und Jen schickte ihm von Zeit zu Zeit ein Bild von ihr, das er oft nur kurz kommentierte. Von ihm bekam sie selten Bilder zugeschickt, denn er war Jonathan, ein verheirateter Mann, der im Winter Schneemänner mit seinen Kindern baute und ihnen im Sommer den Kopfstand beibrachte. Und der regelmäßig Seminare besuchte und viele Geschäftsreisen unternahm. Vor knapp einem Jahr lernte Jen einen anderen Mann kennen, verliebte sich in ihn, und für einige Monate war sie glücklich. Weil John und sie immer offen und fair zueinander waren, wusste er Bescheid. Nach einigen Monaten entschied Jen, diese Beziehung wieder zu beenden und erzählte es John bei ihrem nächsten Treffen. „Tut mir leid“, sagte John und meinte es ernst.

Jen scrollte immer weiter herunter und war inzwischen bei Bildern aus dem vorletzten Jahr angekommen. Würde sie all die Bilder zusammenlegen zu einer Collage, sähe diese aus? Zeig mir deine Freunde, und ich sage dir, was für ein Leben du führst, zeig mir deinen Kleiderschrank, und ich sage dir, welche Persönlichkeit du hast, zeig mir deine Musiksammlung, und ich weiß, wer du bist. Oder wer du nicht bist.

Jen legte das Handy zur Seite und packte einige Sommersachen in den Koffer, ein paar bequeme Sandalen und die hohen Schuhe. Noch gab es keine Nachricht von John, vielleicht war ihm ein Termin bei der Arbeit dazwischen gekommen. Genauso gut konnte er auch schon zu Hause sein und seinen Koffer für das Seminar packen, das er vorgab zu besuchen. Für Jen benutzte er ein Prepaidhandy, das er nie mit nach Hause nahm, sondern das immer im Büro in einer Schublade blieb, die er abschließen konnte, oder in seinem Dienstwagen.

Jen packte ihr Schlafshirt ein, auf dem Joy and Fun stand. Ein uraltes Ding, das sie gern trug. Sie füllte ein Schälchen mit Katzenfutter auf und stellte eine zweite Schale Wasser daneben, dann trug ihren kleinen Koffer die Treppe hinunter und schickte John eine Nachricht, dass sie nun losfahren würde. Noch immer zeigte ihr Display keine Mitteilung von John an.

Meerestiere

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