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Die existenziellen Analytiker: Alte Vettern vom Lande

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Eine Anzahl europäischer Psychiater beschäftigte sich mit vielen der grundlegenden Annahmen von Freuds psychoanalytischem Ansatz. Sie wandten sich gegen Freuds Modell der psychischen Funktionsweise, seine Bemühungen, das menschliche Wesen mit Hilfe eines Energieerhaltungsschemas zu verstehen, das den Naturwissenschaften entliehen war, und machten geltend, dass solch ein Ansatz zu einer unangemessenen Sichtweise des menschlichen Wesens führt. Wenn man ein Schema verwendet, um alle Individuen zu erklären, so argumentierten sie, verfehlt man die einzigartige Erfahrung der besonderen Person. Sie hatten etwas gegen Freuds Reduktionismus (das heißt, dass er das gesamte menschliche Verhalten auf einige wenige, grundlegende Triebe zurückführte), seinen Materialismus (das heißt, dass er das Höhere in Begriffen des Niederen erklärte) und seinen Determinismus (das heißt den Glauben, dass alles geistige Funktionieren durch identifizierbare Faktoren, die bereits bestehen, verursacht wird).

Die verschiedenen existenziellen Analytiker stimmten in einer grundlegenden Verfahrensfrage überein: Der Analytiker muss sich dem Patienten auf phänomenologische Weise nähern; das heißt, er oder sie muss in die Erfahrungswelt des Patienten eintreten und auf die Phänomene in dieser Welt achten ohne die Vorannahmen, die das Verständnis verzerren. Wie Ludwig Binswanger, einer der bekanntesten existenziellen Analytiker, sagte: »Es gibt nicht nur einen Raum und eine Zeit, sondern ebenso viele Räume und Zeiten wie es Subjekte gibt.«15

Abgesehen von ihrer Reaktion auf Freuds mechanistisches, deterministisches Modell des Geistes und ihrer Annahme von einer phänomenologischen Vorgehensweise in der Therapie, haben die existenziellen Analytiker wenig Gemeinsames und wurden nie als eine zusammenhängende ideologische Schule betrachtet. Diese Denker – u. a. Ludwig Binswanger, Medard Boss, Eugene Minkowsky, Victor Emil von Gebsattel, Roland Kuhn, Igor Alexander Caruso, Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, Gustav Bally und Viktor Frankl – waren fast vollständig unbekannt in der amerikanischen psychotherapeutischen Gemeinschaft, bis Rollo Mays sehr einflussreiches Buch Existence aus dem Jahr 1958 (und darin besonders die Einleitung16) – deren Werk in den USA einführte.17

Heute jedoch, mehr als zwanzig Jahre nach Mays Buch, ist es erstaunlich, dass diese Persönlichkeiten wenig Einfluss auf die amerikanische psychotherapeutische Praxis ausüben. Sie bedeuten kaum mehr als die unbekannten Gesichter auf einer vergilbten Daguerreotypie im Familienalbum. Teilweise geht diese Vernachlässigung auf eine Sprachbarriere zurück: Abgesehen von einigen Schriften von Binswanger und Frankl wurden diese Philosophen selten übersetzt. Größtenteils liegt es jedoch an der abstrakten Natur ihrer Schriften: Sie sind durchdrungen von der philosophischen Weltanschauung [im Original deutsch] der alten Welt, die überhaupt nicht synchron mit der amerikanischen pragmatischen Tradition in der Therapie verläuft. Deshalb bleiben die existenziellen Analytiker aus der Alten Welt verstreute und größtenteils außerhalb Europas aus den Augen verlorene Vettern des existenziellen Therapieansatzes, den ich zu beschreiben beabsichtige. Ich beziehe mich nicht sehr eingehend auf sie mit Ausnahme von Viktor Frankl, einem hervorragenden pragmatischen Denker, dessen Werk größtenteils übersetzt wurde.

Existenzielle Psychotherapie

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