Читать книгу Die Schlucht - Иван Гончаров, Иван Александрович Гончаров - Страница 19

Zweiter Teil
Erstes Kapitel

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In langsamem, schläfrigem Trabe näherte sich Raiski auf einem mit drei mageren Kleppern bespannten elenden Fuhrwerk, einen Seitenweg benutzend, seinem Gute.

Nicht ohne einige Aufregung sah er die leichten Rauchwölkchen aus den Schornsteinen des Hauses aufsteigen, das sein Heim, seine Geburtsstätte war; die in morgenfrischem Grün prangenden Birken und Linden beschatteten den behaglichen stillen Winkel, das Ziegeldach des alten Wohnhauses blickte aus dem Gezweige, und zwischen den Baumstämmen hindurch schimmerte, von Zeit zu Zeit wieder verschwindend, der breite Silbergürtel der Wolga. Ein frischer, gesunder Luftstrom, wie er ihn schon lange nicht geatmet, wehte ihm von dorther entgegen.

Er kam näher und näher: jetzt sah er die bunten Blumenbeete in dem Gärtchen vor dem Hause, und weiterhin die Linden- und Akazienalleen und die alten Rüstern, und dann links die Apfel-, Kirsch- und Birnbäume.

Dort spielen die Hunde in einem Winkel des Hofes, da liegen die jungen Katzen in der Sonne; Starkästen schaukeln sich an dünnen Stangen; Tauben drängen sich auf dem Dache des neuen Hauses, Schwalben schießen darüber hin.

Hinter dem Gutshofe, nach dem Dorfe zu, ist die ganze Wiese mit Leinwand bedeckt, die in der Sonne bleichen soll.

Dort rollt eine Bäuerin ein kleines Faß über den Hof, ein Kutscher zerkleinert Holz, ein anderer ist eben dabei, einen Arbeitswagen zu besteigen und den Hof zu verlassen: lauter Unbekannte sind es, die er da sieht. Doch nein: dort schaut Jakow schläfrig von der Verandatreppe in die Weite. Den kennt er noch von früher: wie alt ist er geworden!

Und hier ist noch ein Bekannter: Jegor der Spötter, der sich vergeblich bemüht, ein Reitpferd zu besteigen, das von ihm durchaus nichts wissen will. Die Mädchen stehen da und spotten über ihn, den Spötter.

Er hat Jegor kaum wiedererkannt: als siebzehnjährigen Burschen hat er ihn zuletzt gesehen, und jetzt ist er ein Mann geworden und trägt einen Schnurrbart, der bis an die Schultern reicht; nur der Schopf auf dem Schädel, der kecke Blick und die ewig sichtbaren Zähne in dem spöttisch verzogenen Munde sind dieselben geblieben.

Da scheint noch ein bekanntes Gesicht zu sein: irgendeine Marina oder Fedoßja, deren er sich dunkel als fünfzehnjährigen jungen Mädchens erinnert, und die nun dort über den Hof schreitet.

Alles suchte Raiski mit sorgsam spähendem Blick zu erfassen, während er an dem Zaune entlang, der das Haus, den Hof und den Garten vom Fahrweg trennte, neben seinem Wagen zu Fuß daherging.

Mit stillem Behagen betrachtete er alle die Einzelheiten des ihm wohlbekannten Bildes, als seine Augen plötzlich auf einer unerwarteten Szene haften blieben.

Auf der mit Zitronen- und Pomeranzenbäumchen, Kakteen, Aloekübeln und Blumentöpfen besetzten, vom Hofe durch ein Gitter getrennten Veranda stand ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren, das von zwei Tellern, die ein barfüßiges Bauernmädchen im bunten Kattunrock ihr entgegenhielt, ganze Hände voll Hirse nahm und dem Geflügel hinstreute. Hühner, Enten, Truthühner, Tauben sowie Spatzen und Dohlen tummelten sich zu ihren Füßen.

»Zip, zip, ti, ti, ti! Gul, gul, gul!« lud sie die Vögel freundlich zum Frühstück ein.

Die Hühner und Tauben pickten rasch zu und wichen dann zurück, als fürchteten sie jeden Augenblick eine Gefahr, kamen jedoch sogleich wieder. Kam eine Dohle von der Seite her angehüpft, um heimlich ein Hirsekorn zu stehlen, dann stampfte das Mädchen mit dem Fuße auf: »Weg da, weg, was willst du hier?« rief sie und scheuchte die Zudringliche mit einer Handbewegung fort, worauf die gefiederte Schar nach allen Seiten auseinanderstob, um im nächsten Augenblick wieder die Köpfe zusammenzustecken und mit Gier und Hast, als müßten sie die Körner stehlen, das gestreute Futter aufzupicken.

»Ach, du Gierschlung!« rief sie einem großen Hahne zu und trieb ihn fort. »Keins läßt er heran – was ich auch hinwerfe, alles will er selbst fressen!«

Die Morgensonne leuchtete hell herab auf die bunte Geflügelschar und das junge Mädchen. Raiski hatte Zeit gefunden, sie zu betrachten: sie hatte große, dunkelgraue Augen, runde, frische Wangen, dichte, weiße Zähne, zwei hellbraune, um den Kopf gewundene Zöpfe und eine kräftig entwickelte Brust, die in der feinen weißen Bluse prall hervortrat.

Der Hals war frei, von keinem Tuch oder Kragen bedeckt – er war weiß, nur ganz leicht von der Sonne gebräunt. Bei dem Versuche, den gefräßigen Hahn fortzujagen, war der eine ihrer beiden Zöpfe heruntergeglitten und hing nun über Hals und Rücken herab, doch achtete sie nicht weiter darauf, sondern fuhr fort, den Vögeln das Futter zu streuen.

Sie lachte, runzelte die Stirn, lachte wieder und blickte so frisch und heiter drein wie der Frühlingsmorgen selbst. Sie achtete sorgfältig darauf, daß nur ja alle ihr Teil abbekamen, und daß die Spatzen und Dohlen nicht zu viel wegstibitzten.

»Hast du das Gänschen nicht gesehen?« fragte sie das vor ihr stehende Mädchen mit wohlklingender Altstimme.

»Nein, Fräuleinchen,« sagte das Mädchen. »Man sollte es lieber den Katzen geben. Asimia sagt, es werde doch draufgehen.«

»Nein, nein, ich will selber nachsehen,« fiel das Fräulein ihr ins Wort. »Asimia hat auch gar kein Mitleid mit dem Tierchen, sie ist imstande, es ihnen lebendig hinzuwerfen.«

Raiski hatte, selbst unbemerkt, diese ganze Szene – das junge Mädchen, die Geflügelschar, das Bauernmädchen – mit Aufmerksamkeit beobachtet.

»Ich wußte es ja: ein Idyll!« dachte er. »Das muß mein Cousinchen sein – was für ein liebes Kind! Wie einfach, wie anmutig! Aber welche von beiden ist’s nur—Wjerotschka oder Marsinka?«

Er wartete nicht, bis sein Wagen in das Hoftor einbog, sondern lief voraus und stand plötzlich vor dem jungen Mädchen.

»Schwesterchen!« rief er und streckte ihr die Arme entgegen.

Im Augenblick war alles verschwunden, wie weggezaubert: die Spatzen schwirrten an seiner Nase vorüber aufs Dach, die Tauben flatterten wie blind über seinen Kopf hinweg, die Hühner stoben mit verzweifeltem Gegacker nach allen Seiten auseinander, und der Truthahn blickte verdutzt ringsum und begann auf seine Weise ganz wütend zu schimpfen, wie ein ergrimmter Kommandeur, der mit den Leistungen seiner Truppe nicht zufrieden ist.

Die Leute auf dem Hofe sahen von ihrer Arbeit auf und starrten Raiski mit offenem Munde an. Er selbst war fast erschrocken und sah auf den leeren Platz, auf dem nur das ausgestreute Futter am Boden lag.

Aber drinnen, im Hause, ließ sich bereits Lärm und lautes Sprechen, geschäftige Bewegung und Schlüsselklirren vernehmen, und die Stimme der Großtante rief: »Wo ist er? Wo?«

Sie kommt eilig herbei, ihr Gesicht strahlt, ihre Arme öffnen sich ihm weit. Sie drückt ihn an ihre Brust, und ein Lächeln umgibt wie ein Strahlenkranz ihren Mund.

Sie ist gealtert, doch dabei immer noch rüstig und gesund: keine krankhaften Flecke, keine entstellenden, dicken Falten, kein matter, kummervoller Blick.

Man sieht es ihr an, daß sie noch fest im Leben wurzelt, daß sie wohl gekämpft hat, nicht aber vom Leben besiegt worden ist, sondern es selbst zu meistern und mit ihren Kräften wohl hauszuhalten wußte.

Ihre Stimme hat nicht mehr den hellen Klang wie früher, und sie geht auch am Stocke, doch ist ihr Rücken nicht gebeugt, und sie klagt auch über kein Leiden. Wie früher, trägt sie das Haar kurzgeschoren, ohne Haube, und derselbe von Gesundheit und Güte strahlende Blick adelt ihr Gesicht, ja die ganze Gestalt.

»Boruschka! Mein Herzensjunge!«

Dreimal schloß sie ihn in ihre Arme und preßte ihn fest an sich. Die Tränen traten beiden in die Augen. So viel Zärtlichkeit, so viel Liebe und Wärme lag in diesen Umarmungen, in ihrer Stimme, in dieser Freude, die so plötzlich über sie kam und wie heller Sonnenschein sie umleuchtete.

Fast wie ein Verbrecher kam sich Raiski vor, weil er so lange als heimatloser Junggeselle in der Welt umhergeirrt war und, nach verbotenen Früchten langend, sein Herz getäuscht und seine besten Gefühle vergeudet hatte, während doch hier die Natur selbst ihm ein warmes Nest, herzliche Sympathien und ein schlichtes, reines Glück bereit gehalten hatte.

Er hätte sich vom Fleck weg in die Großtante verlieben können. Er konnte sich nicht losmachen, küßte sie auf den Mund, auf die Schultern, küßte ihr weißes Haar, ihre Hände. Sie schien ihm jetzt so ganz anders als damals, vor fünfzehn, sechzehn Jahren. Sie hatte zu jener Zeit nicht diese Würde im Antlitz, die er jetzt an ihr sah, dieses Neue, überlegene.

Er war verwundert darüber und bedachte in diesem Augenblicke nicht, daß er selbst damals noch nicht die geistige Reife besessen hatte, um in einem Menschenantlitz lesen und auf Verstand und Charakter richtig schließen zu können.

»Wo hast du denn gesteckt? Seit einer Woche schon erwarte ich dich: frag’ nur Marsinka, wir haben bis Mitternacht nicht geschlafen, die Augen habe ich mir ausgeguckt. Marsinka ist so erschrocken, wie sie dich sah, und auch mich hat sie so erschreckt, wie nicht bei Sinnen kam sie hereingelaufen. Marsinka! Wo steckst du? So komm doch her!«

»Ich bin schuld daran – ich habe sie erschreckt,« sagte Raiski.

»Und sie lief davon: sehr schlau! Und dabei hat sie mit mir die ganze Woche gewartet, hat sich nicht schlafen gelegt, ist dir entgegengegangen, hat gekocht und gebraten. Wir haben doch alle Tage deine Lieblingsgerichte bereit gehalten! Jeden Morgen kamen wir zusammen, ich, Wassilissa und Jakow, und haben Rat gehalten und uns deiner Gewohnheiten erinnert. Die anderen Leute hier im Hofe sind alle neu, aber diese drei, und Prochor und Marischka, und auch Ulita und Terentij, glaub’ ich, die wissen sich deiner noch zu erinnern. Jedesmal überlegten wir, wie wir dich hier unterbringen sollen, was du essen, wo du schlafen, welchen Wagen du gebrauchen wirst. Am besten wußte noch Jegorka Bescheid, der hat sich noch genau an alles erinnert, darum hab’ ich dir ihn jetzt auch als Kammerdiener beigegeben . . .

Aber was schwatze ich denn hier: vom Reden wird niemand satt! Wassilissa! Wassilissa! Was sitzen wir denn hier herum? Rasch, deck’ den Tisch, es ist noch lange hin bis Mittag, er wird erst einmal frühstücken. Bring’ Tee, Kaffee, alles bring’ auf den Tisch, auch Vogelmilch!« Sie mußte selbst über ihre Worte lachen. »So – und nun laß dich einmal richtig ansehen!«

Die Großtante führte ihn ans Licht und musterte ihn eingehend.

»Wie häßlich du geworden bist!« sagte sie, während sie ihn betrachtete. »Nein, es ist nicht so schlimm: du siehst gut aus! Nur stark gebräunt bist du. Der Schnurrbart steht dir gut. Warum läßt du dir den Vollbart stehen? Du siehst besser aus, wenn du nur den Schnurrbart trägst. Laß dir den Bart abnehmen, Borjuschka, ich hab’ das nicht gern . . .

Ah, ah! Auch graue Härchen finden sich schon hier und da: woher denn, Väterchen? Alterst ja recht früh!«

»Nicht das Alter ist’s, Tantchen!«

»Was denn? Bist du auch gesund?«

»Ja, es macht sich. Ich kann nicht klagen . . . Aber reden wir von etwas anderem: Sie sind ja, Gott sei Dank, immer noch ebenso . . .«

»Was – ebenso?«

»Ebenso schön wie früher! Sie altern gar nicht! Ich habe noch nie eine Dame in Ihren Jahren gesehen, die so schön wäre . . .«

»Ich danke dir für das Kompliment, mein lieber Neffe! Hab’ schon längst keins mehr zu hören bekommen! Wo soll denn bei mir die Schönheit stecken? Deine kleinen Cousinen – die magst du bewundern! Ich will dir etwas ins Ohr sagen,« flüsterte sie ihm zu – »in der ganzen Umgegend, in der ganzen Stadt gibt’s nicht wieder zwei so hübsche Mädchen! Namentlich die andere, Wjera. . . Höchstens Rastenjka Mamykina kann sich mit ihnen messen – die Tochter des Pächters, weißt du, von der ich dir schrieb!«

Sie blinzelte listig mit den Augen.

»Ich erinnere mich nicht mehr, Tantchen . . .«

»Nun, davon später; jetzt wollen wir rasch frühstücken und von der Reise ausruhen . . .«

»Wo ist denn die andere Schwester?« fragte Raiski und sah sich um.

»Sie ist bei einer Popenfrau zu Besuch, am anderen Ufer,« sagte die Großtante. »Man schickte nach ihr: die Popenfrau, die mit uns bekannt ist, war krank geworden und bat sie hinzukommen. Daß das gerade jetzt passieren mußte! Heute noch lasse ich sie holen . . .«

»Nein, nein,« hielt Raiski sie zurück. »Warum sie meinetwegen beunruhigen? Ich sehe sie ja, wenn sie zurückkommt.«

»Wie hast du dich eigentlich hier in den Hof geschlichen? Wir hatten doch Wachen aufgestellt, und nun haben sie dich doch verpaßt!« sagte Tatjana Markowna. »In der Nacht mußten die Bauern achtgeben, und eben hab’ ich wieder Jegorka zu Pferde weggeschickt, ob er dich nicht vielleicht auf der Landstraße sieht. Und Ssawelij ist nach der Stadt gefahren, um sich zu erkundigen. Geradeso wie damals hast du dich herangeschlichen! Aber nun tragt doch endlich das Frühstück auf! Was ist denn das? Der gnädige Herr kommt nach seinem Stammgut, und nichts ist fertig – als käme er auf die Poststation! Bringt her, was zuerst fertig ist!«

»Aber ich bin ja gar nicht hungrig, Tantchen, ich bin satt bis oben hin! Auf der einen Station hab’ ich Tee getrunken, auf der anderen Milch, auf der dritten bin ich gerade zu einer Bauernhochzeit zurechtgekommen, man hat mich mit Branntwein, mit Honig, mit Pfefferkuchen bewirtet . . .«

»Schämst du dich nicht? Du fährst nach Hause zur Tante, und stopfst dir unterwegs den Magen mit solchem Zeug voll? Pfefferkuchen am frühen Morgen – hat man so was gehört! Das wär’ was für Marsinka: die liebt die Hochzeiten und den Pfefferkuchen. So komm doch endlich, brauchst dich nicht zu schämen!« sagte sie nach der Tür gewandt. »Sie schämt sich nämlich, daß du sie im Negligé angetroffen hast. Komm nur, es ist ja kein Fremder, sondern dein Bruder!«

Man brachte Tee und Kaffee, und zuletzt das Frühstück. So sehr sich Raiski auch sträubte, er mußte von allem kosten – es war das einzige Mittel, die Großtante zu beruhigen und ihr den Morgen nicht zu verderben.

»Aber ich kann wirklich nicht!« versuchte Raiski einzuwenden.

»Nein, das ist schon so gang und gäbe: wenn jemand von der Reise kommt, muß er essen. Hier – Bouillon! Und hier – ein junges Huhn . . . Auch Pastete ist da . . .«

»Ich danke wirklich, Tantchen, ich kann nicht,« sagte er, aber sie legte ihm auf, ohne auf ihn zu hören, und er trank die Bouillon und aß von dem Hühnchen.

»Nun etwas von dem Truthahn,« fuhr sie fort. »Bring’ doch von den eingemachten Berberitzen, Wassilissa!«

»Wie soll ich denn jetzt noch von dem Truthahn essen!« sagte er, machte sich aber gleichwohl an die Arbeit.

»Nun, mein Lieber – bist du jetzt satt?« fragte sie schließlich.

»Ich sollt’s meinen! Aber wenn ich schon dabei bin . . . was gibt’s denn sonst noch? Pastete, denk’ ich . . .«

»Ja, gewiß doch – die Pastete ist vergessen! Heda, die Pastete!«

Er aß auch von der Pastete, ganz wie es gang und gäbe ist, wenn jemand von der Reise kommt.

»Nun, jetzt mußt du ihn weiter bewirten, Marsinka – so komm doch schon!«

Wenige Augenblicke später öffnete sich leise die Tür, und langsam, mit verschämtem Gesichte, die Augen auf den Boden geheftet und die Wangen gerötet, trat Marsinka ins Zimmer. Hinter ihr kam Wassilissa daher mit einem großen Präsentierbrett, auf dem sich allerhand Süßigkeiten, Eingemachtes, Backwerk und sonstige Leckerbissen befanden.

Marsinka stand verlegen da, mit unsicherem Lächeln, den Blick mit verhaltener Neugier auf den Ankömmling gerichtet. Um den Hals und die Hände trug sie jetzt Spitzen, und das wiederaufgesteckte Haar lag wie ein Kranz dicht um den Kopf; sie trug ein Barégekleid und ein blaues Band um die Taille.

Raiski sprang auf, warf die Serviette hin, blieb vor ihr stehen und betrachtete sie mit Entzücken.

»Wie reizend!« sagte er voll Bewunderung. »Und das ist meine kleine Schwester Marfa Wassiljewna! Welche Überraschung! Und was macht denn das Gänschen – lebt es noch?«

Marsinka ward verwirrt; sie antwortete auf Raiskis Verbeugung mit einem Knicks und setzte sich verschämt in eine Ecke.

»Ihr seid beide nicht recht klug,« sagte die Großtante – »ist denn das eine Art, sich zu begrüßen?«

Raiski wollte Marsinka die Hand küssen.

»Marfa Wassiljewna . . .« begann er.

»Was heißt hier Wassiljewna?« rief die Tante. »Hast du sie denn gar nicht mehr lieb? Für dich ist sie einfach Marsinka und nicht Marfa Wassiljewna! Schließlich wirst du auch mich noch Tatjana Markowna nennen! Gebt euch einen herzhaften Kuß – ihr seid doch Bruder und Schwester!«

»Ich will nicht, Tantchen, er neckt mich mit dem Gänschen . . . Es schickt sich nicht, die Leute zu belauschen! . . .« sagte sie.

Alle lachten. Raiski küßte sie auf beide Wangen und legte den Arm um ihre Taille, worauf sie plötzlich alle Verwirrung und Schüchternheit abstreifte und seine Küsse tapfer erwiderte. Nur einen Augenblick noch, nur ein Wort, und über das schüchterne Lächeln hinweg brach ihr heiteres Geplauder und Lachen hervor, das sie nur mit Mühe zurückzuhalten schien.

»Erinnerst du dich noch, Marsinka . . . wie wir hier zusammen herumliefen und zeichneten . . . und wie du immer weintest?«

»Nein . . . ach, ja, ich erinnere mich . . . wie im Traume . . . Tantchen, erinnere ich mich noch – oder nicht? . . .«

»Gott bewahre – wie soll sie sich noch erinnern? Sie war doch noch keine fünf Jahre alt . . .«

»Doch, Tantchen, ich erinnere mich – bei Gott, wie im Traume . . .«

»Laß nur Gott hübsch aus dem Spiele, meine Liebe – das hast du von Nikolaj Andreitsch angenommen! . . .«

Kaum hatte Raiski diese alten Erinnerungen berührt, als Marsinka aus dem Zimmer verschwand und gleich darauf wieder mit einem Stoß von Heften und Zeichnungen und allerhand Spielsachen zurückkam. Ganz vertraulich trat sie auf ihn zu und zeigte ihm die Sachen. Dann setzte sie sich so dicht neben ihn, daß ihre Knie sich fast berührten, ohne daß sie in ihrer Harmlosigkeit etwas davon bemerkt hätte.

»Da sehen Sie, Vetter,« begann sie lebhaft, während ihre Augen rasch über sein Gesicht, über seine Hände, seine Kleider und selbst seine Schuh glitten – »da sehen Sie, wie die Tante ist! Sie sagt, ich erinnere mich nicht mehr – und ich erinnere mich doch noch, ganz genau weiß ich, wie Sie hier gezeichnet haben— ich saß noch auf Ihrem Schoße! – Tantchen hat alle Ihre Zeichnungen, Porträts und Hefte, kurz, alle Ihre Sachen aufgehoben und sie dort in dem dunklen Zimmer verwahrt, wo auch das Silberzeug ist und die Brillanten und Spitzen . . . Sie hat neulich alles herausgenommen und mir gegeben – als Sie schrieben, daß Sie kommen wollten. Hier ist mein Bild – wie drollig ich hier aussehe! Und das ist Wjerotschka! Und hier, das Porträt der Tante, und das von Wassilissa. Diese Zeichnung haben Sie für Wjerotschka gemacht. Und wissen Sie noch, wie Sie uns damals über das Wasser trugen? Ich saß auf Ihrem Arme, und Wjerotschka auf Ihrer Schulter!?«

»Auch das weißt du noch?« fragte die Tante, die ihr aufmerksam zuhörte. »Schäm’ dich doch, so zu prahlen! Das hat doch Wjerotschka neulich erzählt, und du gibst es jetzt als deine Erinnerung aus! Wjera weiß ja noch einiges, viel ist es auch nicht . . .«

»Hier – sehen Sie, wie ich jetzt zeichnen kann!« sagte Marsinka und zeigte ihm ein Blatt, auf dem ein Blumenstrauß gezeichnet war.

»Ganz vortrefflich – bravo, Schwesterchen! Nach der Natur?«

»Ja, nach der Natur. Ich kann auch Blumen aus Wachs modellieren!«

»Treibst du auch Musik?«

»Ja, ich spiele Klavier.«

»Und was treibt Wjerotschka – zeichnet sie auch? Spielt sie?«

Marsinka schüttelte verneinend den Kopf.

»Nein, das macht ihr kein Vergnügen«, sagte sie.

»Was treibt sie denn sonst? Beschäftigt sie sich mit Handarbeiten?«

Wiederum schüttelte Marsinka den Kopf.

»Liest sie gern?« forschte Raiski weiter.

»Ja, sie liest, aber sie sagt nie, was sie liest, und zeigt auch die Bücher nicht. Und sie sagt auch nicht, woher sie sie hat.«

»Das ist die reine Wilde – ein ganz sonderbares Mädchen! Gott weiß, nach wem sie geraten ist!« bemerkte Tatjana Markowna ernst und seufzte verlegen. »Aber langweile den Bruder jetzt nicht mit diesen Geschichten,« wandte sie sich an Marsinka. »Er ist müde von der Reise, und du kommst ihm mit all dem Zeug! Laß uns lieber von ernsten Dingen reden, vom Gute und der Wirtschaft!«

Während der ganzen Zeit, die Boris im Geplauder mit Marsinka verbrachte, hatte die Großtante ihn nachdenklich betrachtet. Wiederum fiel ihr, wie einstmals, seine Ähnlichkeit mit der Mutter auf, doch bemerkte sie auch die Veränderungen in seinem Wesen: das Schwinden der Jugend, die Zeichen der Reife, die frühen Runzeln und den seltsamen, ihr unverständlichen Ausdruck seiner Augen. Früher konnte sie in seinem Gesicht wie in einem offenen Buche lesen – jetzt stand so mancherlei darin geschrieben, was sie nicht zu enträtseln vermochte.

In seiner Seele aber war es hell und warm. Eine stille Nachdenklichkeit lag in seinem Wesen, als Reflex dieses Wiedersehens und all der Bilder, die an seinem Geiste vorüberzogen.

»Wenn es doch immer so bliebe – so hell, so schlicht und schön!« ging’s ihm durch den Sinn. »Ich will mir eine Binde um die Augen legen, wenigstens für diese Hundstagszeit, und will nichts weiter sein als – glücklich! Ich will das Leben nur fühlen, nicht den Blick hineinversenken, oder es doch nur so weit tun, als nötig ist, um es flüchtig zu skizzieren. Ich will es verschonen mit dieser zersetzenden Analyse, diesem Scheidewasser des Gedankens. Das verdirbt einem alles! . . . Wollen sehen, was für Sujets uns der Himmel in den Weg führt: Marsinka, die Großtante, Wjerotschka – wofür werden sie taugen? Für einen Roman, ein Drama – oder nur für eine Idylle?«

Die Schlucht

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