Читать книгу Die Schlucht - Иван Гончаров, Иван Александрович Гончаров - Страница 6

Erster Teil
Sechstes Kapitel

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Raiski lebte bereits seit zehn Jahren in Petersburg, das heißt er hatte dort von einer Deutschen eine Wohnung von drei anständig möblierten Zimmern gemietet, in der er jedoch, seit er den Dienst quittiert hatte, nur selten einmal längere Zeit – etwa ein halbes Jahr hintereinander – verweilte. Seine übrige Zeit pflegte er außerhalb Petersburgs zu verbringen.

Den Staatsdienst hatte er wenige Jahre nach seinem Eintritt wieder aufgegeben. Er hatte sich die Sache eine Zeitlang angesehen und war zu dem merkwürdigen Schlusse gelangt, daß der Dienst an sich kein Ziel, keine Lebensaufgabe sei, sondern lediglich eine Veranstaltung, die es ermöglichte, eine Anzahl von Menschen unterzubringen, deren Existenz sonst völlig zweck- und nutzlos gewesen wäre. Hätten diese Menschen nicht existiert, dann wäre auch der Dienst, den sie taten, völlig überflüssig gewesen.

Auf Veranlassung seines Vormunds war er zuerst in die militärische und dann später in die zivildienstliche Laufbahn eingetreten. Der Vormund, ein entfernter Onkel Raiskis, wollte vor allem nicht, daß man ihm den Vorwurf machte, er kümmere sich nicht genug um seinen Neffen; andererseits wälzte er so am einfachsten alle Verantwortung von sich ab. Raiski ging nach Petersburg aus dem gleichen Grunde, aus dem alle jungen Leute dahin geschickt werden: sie sollen nicht unnütz zu Hause herumsitzen, sich nicht verweichlichen, nicht Faulenzer werden – alles sozusagen negative Zwecke des Petersburger Aufenthalts.

In Petersburg werden die jungen Leute zugestutzt, sie stehen da unter Aufsicht und finden auch etwas, das man Arbeit nennt; in Petersburg können sie es zum Staatsanwalt und mit der Zeit auch zum Gouverneur bringen; und das ist dann der positive Zweck der Sache. Nachdem Raiski eine Zeitlang in Petersburg gelebt hatte, kam er zu dem Schlusse, daß in dieser Stadt die erwachsenen Menschen, im übrigen Rußland jedoch die unreifen Muttersöhnchen wohnen.

Er selbst zählte freilich schon über dreißig Jahre, und er hatte noch nichts gesät und geerntet, noch keine der Karrieren eingeschlagen, die sonst alle aus dem Innern Rußlands ankommenden Jünglinge einzuschlagen pflegen.

Er ist weder Offizier noch Beamter, bahnt sich nirgends durch Arbeit oder durch gute Verbindungen seinen Weg und ist wie absichtlich und den anderen zum Trotz der einzige »Nichterwachsene« in Petersburg geblieben. Auf der Polizei ist er als verabschiedeter Kollegiensekretär gemeldet.

Einem Physiognomiker wäre es nicht leicht gefallen, seine Eigenschaften und Neigungen und seinen Charakter aus den Gesichtszügen herauszulesen, da der Ausdruck seines Gesichts überaus veränderlich war.

Bisweilen erschien er so glücklich, und seine Augen hatten einen solchen Glanz, daß der Beobachter ohne weiteres geneigt gewesen wäre, in ihm einen offenen, mitteilsamen, ja sogar ein wenig geschwätzigen Menschen zu sehen. Doch schon eine oder zwei Stunden später mußte ihn die Blässe seines Gesichts betroffen machen, die auf ein unheilbares inneres Leiden schließen ließ und den Eindruck machte, als habe er seit seiner Geburt nie gelächelt.

Er erschien in solchen Augenblicken geradezu häßlich; seine Züge hatten etwas Disharmonisches, und ein krankhafter Farbenton trat an Stelle des frischen Kolorits seiner Stirn und seiner Wangen.

Wenn dagegen die Wogen seines Lebens ruhig gingen, oder wenn er einfach guter Laune war, spiegelte sich in seinem Gesicht ein Reichtum von Willenskraft, von innerer Harmonie und Selbstbeherrschung, zuweilen auch ein ihm vortrefflich stehender Freimut und eine ungewöhnliche Phantasiefülle, die namentlich von den dunklen Augensternen und den leicht vibrierenden Lippen auszustrahlen schienen. Noch schwieriger war es, seine moralische Physiognomie festzustellen: Er hatte Perioden, in denen er, wie er selbst sich ausdrückte, am liebsten »die ganze Welt hätte umarmen können«, in denen er mit bezaubernder Sanftmut jedem den Zutritt zu seinem Herzen freihielt und alle, die ihm in solchen Momenten nähertraten, ihn unbedingt für den liebenswürdigsten und besten Menschen erklärten.

Dann aber hatte er wieder Zeiten, in denen fahle Flecke auf seinem Gesicht erschienen, in denen seine Lippen sich in nervösem Zucken verzerrten und er für alle Beweise der Freundschaft und Sympathie nur einen stumpfen, kalten Blick und rauhe Worte hatte. Wer ihn in diesem Zustande kennenlernte, schied von ihm, vielleicht für immer, in Erbitterung und Feindschaft.

»Ein böser, kalter, hochmütiger Egoist!« meinten diejenigen, die ihn in seiner schlimmen Stunde gesehen.

»Aber ich bitte Sie – er ist bezaubernd! Er hat uns alle hingerissen, alle sind entzückt von ihm!« sagten die anderen.

»Ein Schauspieler!« behaupteten einige.

»Ein grundfalscher Mensch!« ergänzten wieder andere.

»Wenn er etwas erreichen will, dann findet er die schönsten Worte; beobachten Sie nur, wie seine Mienen spielen!«

»Aber was fällt Ihnen ein, das ist das edelste Herz, das sich denken läßt, eine vornehme Natur, wenn auch nervös und leidenschaftlich, allzu feurig und reizbar!« ließen zwei, drei Freundesstimmen sich zu seiner Verteidigung vernehmen.

So waren selbst seine nächsten Bekannten sich nie recht klar darüber, was sie aus ihm zu machen hatten. Schon in früher Kindheit, als er bei seiner Großtante erzogen wurde, und später auf der Schule waren die gleichen rätselhaften Züge, dieselbe Ungleichmäßigkeit und Unbestimmtheit der Neigungen bei ihm zutage getreten. Als der Vormund ihn auf die Schule brachte und er zum erstenmal im Klassenzimmer saß, hätte er, wie man annehmen sollte, als Neuling zu allererst den Fragen des Lehrers und den Antworten der Schüler seine Aufmerksamkeit zuwenden müssen.

Statt dessen ließ er sich ganz von der äußeren Erscheinung des Lehrers fesseln; er musterte seine Gestalt, beobachtete, wie er sprach, wie er Tabak schnupfte, was er für Augenbrauen, was er für einen Bart hatte; dann studierte er das Petschaft aus Karneol, das an der Uhrkette auf dem Bauch des Lehrers herabbaumelte, und bemerkte schließlich, daß der Zeigefinger seiner rechten Hand in der Mitte gespalten war, so daß er wie eine Doppelnuß aussah.

Hierauf musterte er jeden einzelnen Schüler und merkte sich die Sonderheiten eines jeden: bei dem einen waren Stirn und Schläfe nach innen gebogen, bei dem anderen traten die großen Kiefer weit hervor, dort stand bei zweien – bei dem einen auf der rechten, bei dem anderen auf der linken Kopfseite – das Haar in wirbelartigen Buscheln vom Schädel ab, und so weiter. Alle beobachtete und studierte er, insbesondere auch die Art, wie sie ihre Augen gebrauchten.

Der eine sah vertrauensvoll auf den Lehrer, schien mit den Augen zu bitten, daß er ihn fragen möchte, und kratzte sich vor Ungeduld bald das Knie, bald den Kopf. Ein anderer blickte unsicher und wurde abwechselnd rot und blaß – er schien zu zweifeln und zu schwanken. Ein dritter hielt die Augen zu Boden geschlagen und hatte offenbar Angst davor, daß er gefragt würde. Ein vierter bohrte in seiner Nase und sah und hörte überhaupt nichts. Dieser dort schien ein Riese von ungewöhnlicher Kraft zu sein, und der Schwarze neben ihm war offenbar ein Schelm. Auch die Wandtafel, auf der die Exempel gerechnet wurden, ja selbst der Wischlappen und die Kreide entgingen seiner Beobachtung nicht. Gelegentlich machte er auch sich selbst zum Gegenstand seines Studiums, suchte sich vorzustellen, wie er dasitze, wie sein Gesicht wohl aussehe, was die anderen sich denken, wenn sie ihn ansehen, und welches Bild sie sich überhaupt von ihm machen.

»Wovon sprach ich eben?« fragte ihn plötzlich der Lehrer, der bemerkt hatte, wie er seine Augen zerstreut durch den Klassenraum schweifen ließ.

Zu seiner Verwunderung konnte ihm Raiski alles, was er vorgetragen hatte, Wort für Wort wiederholen.

»Wie ist das zu verstehen?« fragte der Lehrer weiter. Das wußte nun Raiski nicht; seine Art zu hören war so mechanisch wie sein Schauen – er fing die Worte nur eben mit dem Ohr aus.

Der Lehrer wiederholte seine Erklärung. Boris hörte zu, wie die Worte erklangen; die einen stieß der Lehrer kurz und knapp, wie abgerissen, hervor, die anderen trug er langgezogen, gleichsam singend vor, und dann schleuderte er wieder ein ganzes Dutzend wie eine Handvoll Nüsse aus dem Munde.

»Nun?« fragte der Lehrer.

Raiski wurde rot, ein leichter Angstschweiß trat ihm sogar auf die Stirn – er wußte nichts zu sagen und schwieg. Es war der Mathematiklehrer, der gerade Unterricht erteilte. Er ging an die Tafel, schrieb eine Ausgabe an und begann sie zu erklären. Raiski sah nur, wie flink und sicher er die Ziffern hinschrieb, wie er dann kehrt machte und auf ihn zukam, wie zuerst der Bauch des Lehrers mit dem Karneol und dann die Brust mit dem tabakbestreuten Vorhemd vor ihm auftauchte. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit – einzig nur der Sinn, die Bedeutung der Aufgabe.

Mit Ach und Krach begriff er die Bruchrechnung, quälte sich auch noch durch die Geheimnisse der Algebra hindurch, als er jedoch an die Gleichungen kam, versagte sein Kopf gänzlich, und warum und wie man Quadratwurzeln zog, blieb ihm vollkommen gleichgültig.

Der Lehrer quälte sich so manchesmal mit ihm ab und schloß fast jedesmal mit einem Seufzer.

»Geh, setz’ dich auf deinen Platz, du bist eben ein Hohlkopf!« Wenn aber der Lehrer selbst seinen guten Augenblick hatte, wenn er die Aufgaben nicht aus dem Buche, sondern mehr in spielender Art aus dem Kopfe gab und ohne Wandtafel und Hefte, ohne Regeln und Rippenstöße arbeiten ließ, dann hatte Raiski, dank einer Fähigkeit, den Sinn der Dinge intuitiv zu erraten, das Resultat immer zuerst heraus.

Er hatte in seinem Kopfe ein eigenes Ziffernsystem in Bildern; sie waren dort wie die Soldaten in Reih und Glied ausgerichtet. Er hatte sich gewisse Zeichen und Merkmale ausgedacht, die es ihm ermöglichten, die Zahlen momentan zu ordnen, zu addieren, zu multiplizieren und zu teilen; es waren zumeist die Gesichter von Bekannten, oder auch Tiergestalten, die er für diese Operationen verwandte.

»Du scheinst mir doch kein Hohlkopf,« bemerkte der Lehrer. »Wenn er die Rechenregeln anwenden soll, die doch angeblich die Sache erleichtern, dann kann er nicht bis drei zählen – und so, ohne Regeln, rechnet er wie der Blitz! Die Regelmacher scheinen wirklich nicht viel schlauer gewesen zu sein, als wir beide!«

Im sprachlichen Unterricht kam Raiski rasch vorwärts. Mit Leidenschaft las er geschichtliche Darstellungen, Epopöen, Romane und Märchen, borgte sich Bücher, wo er nur konnte, doch immer nur solche, in denen eine Handlung vorkam und die Phantasie mitarbeiten konnte, während alles Spekulative, trocken Lehrhafte ihn gleichgültig ließ. In der Geographie wußte er, wenn der Stoff in der Reihenfolge des Buches abgefragt wurde und die Länder, Völker, Flüsse und so weiter aufgezählt werden sollten, so gut wie gar nicht Bescheid. Rief der Lehrer zum Beispiel: »Zähl’ die Gebirge Europas auf!« – oder: »Nenne mir die Hafenstädte am Mittelmeer!« – so gab Raiski ganz gewiß keine Antwort.

Begann er hingegen außerhalb der Klasse von fremden Meeren, Ländern und Städten oder vom Ozean zu erzählen – o, wie ihm da alles zufloß! Nicht vom Lehrer hatte er das gehört, und oft auch nicht in Büchern gelesen – und doch malte er alles so deutlich in großen, packenden Bildern, als wäre er selbst dort gewesen und hätte es mit eigenen Augen gesehen.

»Du schwindelst ja!« sagte bisweilen irgendein Skeptiker unter seinen Zuhörern. »Davon hat uns doch Wassili Nikititsch nichts gesagt!«

Der Direktor hörte ihn einmal von den Wilden erzählen, wie sie die Menschen fangen und fressen, wie sie im Urwald hausen, was für Waffen sie haben, wie sie von den Bäumen herab die wilden Tiere erlegen – selbst ihre Art, in Kehllauten zu sprechen, machte er nach.

»Dummes Zeug schwatzen kannst du,« sagte der Direktor zu ihm, »und beim Examen neulich hast du nicht einmal die russischen Flüsse aufzählen können! Nächstens setzt es Prügel, wart’ nur, mein Söhnchen! Für nichts Ernsthaftes hat er Sinn, ein richtiger Dummkopf!« Und er zog ihn kräftig am Ohre.

Raiski musterte den Direktor, wie er dastand und auf ihn einsprach, wie seine bösen, kalten Augen zu ihm niederschauten, suchte sich klar zu werden, warum es ihn kalt überlief, als der Direktor ihn am Ohr faßte. Dann stellte er sich vor, wie man ihn abführen würde, um ihn zu prügeln, wie sein Mitschüler Sewastjanow vor Schreck plötzlich ganz mager werden und eine weiße Nase bekommen würde, wie Borowikow vor Aufregung zittern, hüpfen und kichern und der gutmütige Masljanikow ihn weinend umarmen und von ihm Abschied nehmen würde, als sollte er aufs Schafott abgeführt werden. Weiter malte er sich aus, wie man ihn entkleidete, wie zuerst sein Herz, dann seine Arme und Beine erstarrten, und wie ihn dann Sidorytsch, der Pedell, ganz sacht auf die Prügelbank legte, da er selbst nicht imstande war, sich zu bewegen . . . Er hörte in Gedanken sein eigenes Wimmern, sah seine Beine zappeln, und es überlief ihn kalt . . .

Seine Nerven erschlafften, er konnte nicht essen noch schlafen. Die bloße Drohung des Direktors empfand er als Beleidigung, und es schien ihm, daß, wenn sie wirklich zur Ausführung gelangen sollte, alles Gute in ihm vernichtet, sein Leben häßlich und arm und er selbst zum verachteten, verlassenen Bettler werden würde.

Zufällig nahm damals gerade der Religionslehrer die Geschichte des armen Hiob durch, der, von allen verlassen, als elender Kranker auf dem Düngerhaufen saß . . .

Raiski brach in Tränen aus bei der Erzählung, und die anderen schalten ihn einen Waschlappen. Drei Tage lang, bis zum Sonntag, ging er einsam und düster umher, daß er kaum wiederzuerkennen war, und als die Kameraden ihn fragten, was ihm fehle, sprach er nicht ein Wort.

Am Sonntag fuhr er dann nach Hause und fand im Bücherschrank das »Befreite Jerusalem« in Moskotilnikows Übersetzung. Er vergaß den Direktor und seine Drohungen über dem Buche, rührte sich den ganzen Tag nicht vom Diwan, aß hastig zu Mittag und las weiter, bis es längst dunkel war. Am Montagmorgen nahm er das Buch in die Schule mit, las es heimlich voll Gier und Hast zu Ende und erzählte dann vierzehn Tage lang bald diesem, bald jenem den Inhalt.

Er träumte Nacht für Nacht von fernen Ländern und fremden Menschen, er sah die steinigen Wüsten Palästinas in ihrer dürren, traurigen Schönheit, sah den schimmernden Sand und fühlte die glühende Hitze und bewunderte die Menschen, die ein so hartes, tapferes Leben führten und so leicht starben!

Er sehnte sich förmlich danach, in diesen steinigen Wüsten umherzuziehen, Sarazenen zu töten, Hunger und Durst zu ertragen und zu sterben, einzig nur damit man sähe, daß er zu sterben wisse. Ganze Nächte brachte er schlaflos zu, als er von Armida las, wie sie die Ritter, selbst einen Rinaldo, bezauberte.

»Wie mag sie nur ausgesehen haben?« dachte er – und er stellte sie sich bald so vor wie seine Tante Warwara Nikolajewna, die immer den Hals verdrehte und mit den Augen blinzelte, bald wie die Frau des Direktors, die schöne weiße Hände und einen so durchdringend scharfen Blick hatte, bald wie die dreizehnjährige hübsche Tochter des Polizeimeisters, die in ihrem kurzen Kleidchen und den weißen Spitzenhöschen darunter so vergnügt umherhüpfte.

Ganz zusammengekauert saß er da und las voll Gier, fast atemlos, aufs heftigste erregt und gespannt, und plötzlich warf er dann das Buch wütend fort und lief wie ein Rasender davon, wenn der tapfere Rinaldo – oder Malek-Adel in dem Roman der Frau Cotton – zu den Füßen der Zauberin sich vor Gram verzehrten.

Dann trug ihn die Phantasie wieder in das Land des Ossian: ein neues Leben, neue Menschen und Bilder, noch großartiger und ungewöhnlicher, wenn auch rauher als jene.

Und alles dies, das so gar nicht dem Leben um ihn herum glich, zog ihn förmlich hinein in seinen Wunderbann, aus dem er immer erst mühsam wie aus einem Rausche erwachte. Bleich und matt ging er dann lange Zeit umher, bis wieder ein neues fremdes Leben, neue seltsame Freuden und Leiden ihn wie ein frischer Wasserstrahl weckten.

Der Onkel gab ihm die »Geschichte der vier Heinriche«, der »Bourbonen bis zu Ludwig XVIII.« und ähnliche Werke zu lesen, aber alles das war für ihn nur das, was das nüchterne Wasser für den ist, der sich bereits ans Rumtrinken gewöhnt hat. Nur ganz vorübergehend vermochten ihn Iwan III. und IV. und Peter der Große anzuregen.

Er vertiefte sich in den Plutarch, um sich nur recht weit vom Leben der Gegenwart zu entfernen, doch auch dieser Schriftsteller erschien ihm trocken, gab ihm nichts Farbiges, keine Bilder wie die Bücher, die er früher gelesen, und wie später der Telemach und bald darauf die Ilias. Im Verkehr mit den Kameraden benahm er sich sehr seltsam, sie wußten nicht, was sie aus ihm machen sollten. Seine Zuneigung und Abneigung wechselte so häufig den Gegenstand, daß er weder dauernde Freundschaften noch Feindschaften hatte.

In dieser Woche nähert er sich dem einen, sucht ihn überall, sitzt mit ihm ewig zusammen, liest, erzählt sich etwas, flüstert mit ihm. Dann wendet er sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund von ihm ab, verguckt sich in einen anderen, steckt eine Zeitlang mit ihm zusammen und läßt ihn wieder laufen.

Beleidigt ihn einer seiner Kameraden, so schweigt er zunächst, nimmt nur eine finstere Miene an und läßt seinen Grimm und Zorn sich zu einer trotzigen Feindschaft auswachsen. Und wenn die Beleidigung selbst längst verblaßt und der Grund der Feindschaft vergessen ist, setzt er diese doch fort: die ganze Klasse beobachtet die Entwicklung, und er selbst wohl am aufmerksamsten. Dann überkommt ihn plötzlich eine großmütige Anwandlung, und er lechzt förmlich danach, sein edles Herz in seinem ganzen Glanze zu zeigen; eine feierliche Versöhnung wird in Szene gesetzt, in der sein Edelmut sich offenbaren kann, und wiederum hat die ganze Klasse ihr Pläsier, und er selbst am meisten.

Er spielte bei solchen Gelegenheiten gleichsam den unbeteiligten Zuschauer und fand einen eigenen Genuß darin, sich selbst und seinen Widerpart zu studieren, zu beobachten und die ganze Szene sich vor seinen Augen abrollen zu sehen.

Und wenn dann alles zu Ende ist, wenn die aufprasselnde Flamme in ihm erloschen und der Rausch verflogen ist, dann ist er wie einer, der plötzlich aus lebhaftem Traume erwacht: er schaut verwundert um sich, und eine Stimme aus seinem Innern heraus fragt: Was soll das alles? Und er zuckt die Achseln und weiß keine Antwort auf die Frage.

Ein andermal kann er wieder über irgendeine Kleinigkeit in Entzücken geraten: ein wohlgesättigter Mitschüler schenkt einem armen Schlucker eine Semmel, wie das die tugendsamen Kinder in den Lehrbüchern und Vorschriften zu tun pflegen; ein anderer nimmt bei irgendeinem dummen Streich die Schuld für einen Kameraden auf sich; ein dritter geht mit düsterer Miene umher, als ob er über die Lösung irgendeines tiefen Welträtsels nachsänne – gleich ist Raiski in heller Begeisterung entflammt, spricht nur mit Tränen der Rührung von ihnen, sucht in ihnen etwas Ungewohntes, Geheimnisvolles und behandelt sie mit einer Hochachtung, die sich unwillkürlich auch den anderen mitteilt.

Acht Tage später jedoch, wenn die Kameraden eines schönen Morgens zu Raiski kommen und das Gespräch auf einen der gefeierten Phönixe bringen, lacht er ihnen einfach ins Gesicht: »Da habt ihr euch mal den Rechten ausgesucht! Wie kann euch der nur imponieren? Dieser Hausnarr!«

Alle reißen den Mund auf vor Verblüffung, und er selbst schämt sich seiner früheren Begeisterung. Der Lichtstrahl, der für kurze Weile auf sein Idol gefallen war, ist erloschen, die Farben sind verblaßt, die Formen welk geworden, und schon sucht sein gieriger Blick etwas Neues, ein anderes Schauspiel, eine frische Sensation, und solange die nicht gefunden ist, empfindet er Langeweile, ist gallig und ungeduldig oder starrt dumpf brütend vor sich hin. Auch außerhalb der Schule war Raiskis Verhalten ganz seltsam, weder die heiteren Seiten des Lebens noch seine rauhen Wirklichkeiten vermochten tiefer auf ihn zu wirken. Forderte der Vormund ihn auf, sich doch einmal anzusehen, wie das Korn gedroschen, das Tuch in der Fabrik gewalkt oder die Leinwand gebleicht werde, dann suchte er sich so rasch wie möglich beiseite zu drücken und zog es vor, nach der »Aussicht« zu gehen und von da in den Wald zu schauen, oder er ging an den Fluß, ins Gebüsch, in den nahen Hain, beobachtete dort die Insekten, verfolgte aufmerksam die kleinen Waldvögel, wie sie aufflatterten und ins Gezweig niederschossen, wie ihr Federkleid gefärbt war, wie sie den Schnabel wetzten; er fängt einen Igel und befaßt sich stundenlang mit ihm, angelt mit den Bauernkindern den ganzen Tag im Flusse oder lauscht auf die Erzählung eines halbverrückten Greises, der draußen am Ende des Dorfes in einer Erdhütte haust und von den Zeiten des »Pugatsch« erzählt. Begierig hört Raiski all die Einzelheiten von den grausamen Folterungen und Hinrichtungen und starrt dabei in den zahnlosem Mund des Alten und die tiefen Augenhöhlen, in denen die halberloschenen Augen blinzeln.

Stundenlang kann er dasitzen und mit krankhafter Spannung die trübseligen Schicksale der »Verhexten Thekla« verfolgen. Alle möglichen Schmöker liest er zusammen; kommt ihm der »Sächsische Räuber« in die Finger, dann ruht er nicht, bis er mit ihm durch ist; er holt sich die Schriften Eckardthausens aus dem Bücherschrank und sucht durch den Nebel dieser wüsten Phantasien zu klaren Vorstellungen zu gelangen; zehnmal liest er den »Tristram Shandy«, den ihm ein Zufall in die Hand spielt; er entdeckt einen Band mit dem Titel »Geheimnisse der orientalischen Magie« – und vertieft sich sogleich in seine Lektüre; russische Märchen und Sagen kommen dann an die Reihe, und plötzlich wirft er sich wieder auf Ossian, Tasso und Homer, oder er unternimmt mit Cook gefahrvolle Reisen in unbekannte Welten.

Hat er gerade nichts vor, so liegt er tagelang unbeweglich da, doch hat sein Nichtstun den Anschein, als verrichte er eine schwere Arbeit: seine Phantasie treibt ihn weit hinaus über Ossian und Tasso und selbst über Cook, oder irgendein zufälliger Eindruck, eine vorübergehende Sensation versetzt ihn in fieberhafte Erregung, und er erhebt sich matt und bleich und kann lange nicht in einen normalen Zustand kommen.

»Ein Nichtstuer und Faulpelz!« heißt es allgemein. Er fürchtete dieses Urteil, vergoß im stillen Tränen darüber und sann verzweifelt darüber nach, warum man ihn eigentlich einen Faulpelz und Nichtstuer nenne.

»Was bin ich eigentlich? Was wird aus mir werden?« dachte er und vernahm die rauhe Antwort auf diese Frage:

»Lerne, wie die Sawrassow, Kowrigin, Maljujew, Tschudin und all die anderen Musterschüler lernen!«

Ja, die sind gleich beschlagen in der Mathematik wie in der Geschichte, sie schreiben gute Aufsätze, sind geschickte Zeichner, haben gute Kenntnisse in den fremden Sprachen und in sonstigen Fächern – die Glücklichen! Alle Welt achtet sie, sie schauen so stolz drein, schlafen so ruhig und bleiben stets sich selbst gleich.

Und er ist heute bleich und schweigt, als wäre er vor den Kopf geschlagen – und morgen springt er umher und singt Gott weiß, weshalb.

Am peinlichsten empfand er das kränkende Mitleid des Pedells Sidorytsch, wiewohl ihm andererseits dessen schlichte Gutmütigkeit wohltat. Er hatte einmal in zwei Lektionen hintereinander seine Aufgaben nicht gelernt und sollte, falls er sie bis zum nächsten Morgen nicht lernte, zur Strafe kein Mittagessen bekommen. Er hatte keine Zeit mehr, sie zu lernen, alles schlief bereits, und das Haus lag finster. Da stand Sidorytsch leise auf, machte Licht und brachte für Raiski das Buch aus dem Klassenzimmer.

»Immer lerne, Väterchen,« sagte er, »während sie schlafen. Niemand wird es sehen, und morgen wirst du es besser können als sie: warum beleidigen sie dich nur immer, du arme Waise?«

Die Tränen traten Raiski in die Augen – er weinte über die Beleidigungen, von denen Sidorytsch sprach, und über dessen Gutherzigkeit. Er sah, wie die anderen Schüler im festen Schlaf dalagen – und er lernte, aus lauter Stolz, die Lektion nicht.

Kam dagegen seine Eigenliebe ins Spiel, fanden seine Nerven die entsprechende Anregung, dann bedurfte es nur eines einzigen Blickes ins Buch, und er nahm, was er lernen sollte, gleichsam auf photographischem Wege in sein Gedächtnis auf, merkte sich ganze Zifferreihen, löste die schwersten Aufgaben und setzte ganz unvermutet, wie ein aufflammendes Feuerwerk die ganze Klasse samt dem Lehrer in Erstaunen.

»Er verstellt sich!« dachten die Schüler. – »Was für Fähigkeiten hat doch dieser Faulpelz!« meinte der Lehrer. Er fühlte es deutlich, daß er kein Nichtstuer und Faulpelz war, sondern etwas anderes; er war jedoch der einzige, der das fühlte und begriff – nur das eine begriff er nicht, was er eigentlich war, und kein Mensch fand sich, der es ihm erklärt und ihn darüber belehrt hätte, ob die Mathematik, oder was sonst für ihn das Richtige sei.

Als er dann später in Dienst trat, waren seine Vorgesetzten noch mehr geneigt, ihn für einen Hohlkopf zu halten. Er lieferte nicht einen einzigen zufriedenstellenden Bericht, arbeitete nicht ein Aktenstück vorschriftsmäßig durch und brachte dafür einen Schwall von Heiterkeit, Lachen und Anekdoten in das Amtszimmer mit, in dem er saß. Beständig war eine ganze Schar von Leuten um ihn versammelt.

Dabei war ihm jedoch der Kernpunkt der Sache, um die es sich handelte, stets klar – nur wollte er ihn mehr spielend und tändelnd behandeln, nicht in der strengen, papiernen Form, die der Dienstweg vorschrieb; ganz so wie er früher wohl die russische Sprache geliebt, aber alles, was nach grammatischem Zwang aussah, verabscheut hatte.

Er verblüffte die übrigen Beamten oft durch die Neuheit seiner Auffassung. Der Tischvorsteher hörte ihn lächelnd an, nahm die Akten, die Raiski bearbeiten sollte, übergab sie irgend einem andern Beamten und sagte:

»Machen Sie lieber den Bericht dazu, bevor Boris Pawlowitsch sein Projekt hinmalt!«

Der Tischvorsteher hatte recht: Raiski sah die Dinge wie ein Gemälde und gab sie auch als ein solches wieder.

Seine Einbildungskraft flammte auf, er sah intuitiv das Wesentliche, seine Phantasie ergänzte das Bild, und er empfand nicht mehr das Bedürfnis, durch Arbeit und Erfahrung die Sache, um die es sich handelte, auf festem Boden weiterzuführen.

Er war ihrer schon müde, es drängte ihn weiter, Augen und Geist suchten etwas Neues, und er schwebte bereits auf den Flügeln der Phantasie über die Abgründe, Berge und Ozeane hin, über die sich die Menschheit nur mit harter Mühe und Geduld den Weg bahnt.

Sein Wissen und seine Kenntnisse besaß er nicht so wie andere, er sah sie nur gleichsam im Spiegel der Phantasie, als etwas Fertiges, fühlte ihren Besitz und freute sich seiner; die Aneignung des Wissens langweilte ihn, und ward er eines Gegenstandes einmal überdrüssig, dann schob er ihn zur Seite und suchte etwas anderes, Lebendiges, Überraschendes, was in ihm selbst lebhafte Reflexe hervorrief und ihm die Möglichkeit gewährte, Leben gegen Leben zu geben.

Es fand sich kein Mensch in seiner nächsten Umgebung, der diese heiße Begier nach lebendigem Erfassen in bestimmte Bahnen gelenkt hätte.

Der Vormund und die Großtante hatten die Sorgfalt, die sie ihm zuwandten, immer nur auf das Äußerliche gerichtet. Jener hatte darauf gesehen, daß die Lehrer, die ihn zu Hause unterrichteten, stets pünktlich zur Lektion erschienen, und daß er selbst in der Schule keine Stunden versäumte. Und die Großtante war vor allem darauf bedacht, daß er gesund bliebe, daß Appetit und Schlaf in Ordnung wären, daß er auf seinen äußeren Menschen hielte und, wie es sich für einen wohlerzogenen Knaben schickte, nicht mit Krethi und Plethi verkehrte.

Was er las, welche Bücher er verschlang, darum kümmerten sie sich nicht weiter. Die Großtante übergab ihm die Schlüssel zur Bibliothek seines Vaters in dem alten Hause, und dort verschloß er sich nun und las regellos alles durcheinander, bald Spinoza, bald einen Roman, bald die Bekenntnisse des heiligen Augustin, Voltaire oder gar Boccaccio.

Die Künste lagen ihm besser als die Wissenschaften. Allerdings ging auch hier bei ihm nicht alles nach der Schnur. So hatte der Zeichenlehrer einmal der Klasse die Aufgabe gestellt, ein Augenpaar zu zeichnen. Ganze vierzehn Tage waren hierfür in Aussicht genommen; aber Raiski hielt es so lange nicht aus, er fügte zu den Augen noch die Nase und war eben dabei, auch den Schnurrbart zu zeichnen, als der Lehrer ihn bei diesem vorschriftswidrigen Tun überraschte. Er packte ihn beim Schopfe und schüttelte ihn ganz gehörig, dann aber begann er die Zeichnung eingehend zu betrachten.

»Wo hast du das gelernt?« fragte er ihn.

»Nirgends,« lautete die Antwort.

»Gar nicht so übel, mein Lieber; doch sieh, was dabei herauskommt, wenn du so voraustrabst: Stirn und Nase sind recht gut geworden, aber guck’ mal, wohin du das Ohr gesetzt hast! Und das Haar sieht aus wie Lindenbast!«

Der Tadel focht Raiski nicht an, er triumphierte: »Nicht übel, mein Lieber – Stirn und Nase sind recht gut geworden!« – das war für ihn gleichbedeutend mit dem Lorbeerkranz.

Er spazierte stolz auf dem Hofe umher, in dem Bewußtsein, besser zu sein als die anderen – bis dann am nächsten Tage ein böser Reinfall in den »ernsten« Disziplinen ihn aus allen Himmeln stürzte.

Er behielt jedoch eine Vorliebe für das Zeichnen, und einen Monat nach den »Augen« durfte er einen lockigen Knaben und einen Fingalkopf zeichnen.

Sein sehnlichster Wunsch aber war, einen Mädchenkopf, der in der Wohnung des Lehrers hing, kopieren zu dürfen. Ein wenig auf die Schulter geneigt, schaute dieser Kopf mit träumerischem Ausdruck in die Ferne.

»Gestatten Sie mir doch, bitte, diesen Kopf nachzuzeichnen!« bat er schüchtern, mit mädchenhaft sanfter Stimme den Lehrer, während ein nervöses Zucken um seinen Mund spielte.

»Und wenn du das Glas zerschlägst?« sagte der Lehrer, gab ihm aber doch den Mädchenkopf mit.

Boris war glücklich. Jedesmal, wenn er den Lehrer besuchte, hatte sein Herz beim Anblick des Kopfes heftig zu schlagen begonnen. Und nun durfte er diesen Kopf mit sich nehmen und ihn nachzeichnen!

In jener Woche konnte keiner der wissenschaftlichen Lehrer aus ihm auch nur ein vernünftiges Wort herausbekommen. Er hockt in seinem Winkel, zeichnet, radiert, tuscht aus, radiert wieder oder sitzt in schweigendem Anschauen da; die blauen Augen des Mädchens beginnen wie durch einen leichten Nebel zu schimmern, und die zarten Rosenlippen scheinen kaum merklich zu zucken.

Über Nacht nahm er die Zeichnung mit in den Schlafsaal, und als er einmal so recht in das Anschauen dieser süßen Augen vertieft war und die schöngeschwungene Linie des vorgebeugten Nackens verfolgte, durchzuckte es ihn plötzlich: eine tiefe Beklemmung legte sich ihm auf die Brust, er atmete schwer, und in jähem Selbstvergessen schloß er die Augen und preßte, einen verhaltenen Seufzer ausstoßend, mit beiden Händen das Bild gegen seine linke Seite. Die Glasscheibe platzte, und die Scherben flogen klirrend zur Erde. . . .

Als Boris diesen Kopf zu Ende gezeichnet hatte, kannte sein Stolz keine Grenzen. Seine Zeichnung wurde zugleich mit den Zeichnungen der oberen Klassen beim öffentlichen Examen ausgestellt; der Lehrer hatte nur wenig daran verbessert, da und dort vielleicht die allzu zarte Zeichnung mit kräftigen Strichen verstärkt, die sich nun wie ein eisernes Gitter von der Arbeit des Schülers abhoben; außerdem hatte er das Haar um drei, vier Strähnen verstärkt und in die Augen Punkte gesetzt, daß sie nun plötzlich wie lebendig dreinschauten.

»Wie hat er das nur gemacht? Und wie kommt es, daß bei ihm alles so kühn, so sicher, wie belebt erscheint?« dachte Raiski und vertiefte sich in die Betrachtung der Striche und Punkte, insbesondere jener beiden, die plötzlich den Augen einen so lebendigen Ausdruck gegeben hatten. Er übte sich fortan mit großem Fleiße darin, die Striche und Punkte ebenso fest und sicher hineinzusetzen wie der Lehrer, um dadurch dieselbe Lebendigkeit und Kraft, dieselbe packende Wirkung zu erzielen. Bisweilen glaubte er fast, das Geheimnis erfaßt zu haben, doch war es ihm im nächsten Augenblick wieder entschlüpft.

Aber nur immer so die Köpfe und Nasen, die Stirnlinien, Ohren und Hände hundertmal zu wiederholen, schien ihm zum Sterben langweilig.

Die Augen behandelte er noch mit einiger Sorgfalt, weil er hauptsächlich darauf Gewicht legte, daß die Punkte richtig darin säßen und der Ausdruck recht lebendig wäre. Gelang ihm das nicht, dann schob er die Zeichnungen beiseite, setzte finster den Ellbogen auf den Tisch, legte den Kopf auf die Hand und sattelte sein Phantasieroß, um sich von ihm in die Ferne, in die Welt seiner Träume und Bilder tragen zu lassen.

Der leicht errungene Erfolg steigerte sein Selbstgefühl ins Ungemessene: »Ein Talent, ein Talent!« klang es beständig in ihm. Aber bald gab es an der Schule niemanden mehr, der nicht gewußt hätte, wie schön er zeichnete, kein bewunderndes »Ach!« ließ sich mehr vernehmen der Beifall war ihm etwas Alltägliches, Gewohntes geworden.

Auf dem Lande begann er dann wieder leidenschaftlich zu zeichnen, porträtierte die Stubenmädchen, die Kutscher, die Bauern.

Er malte ein Bild der »verhexten Thekla« – sie saß in einer Höhle, und das Licht fiel sehr wirkungsvoll auf ihr Gesicht und ihr zerzaustes Haar, während der übrige Körper ganz im Dunkeln blieb; es fehlte ihm am nötigen Können wie an Geduld, um letzteren besser herauszuarbeiten. Wie sollte er auch den ganzen Morgen dasitzen und zeichnen, während draußen die Sonne lachend auf Wiese und Fluß niederschien . . .

Da kommt eben der Diener vom Nachbargute – er bringt jedenfalls eine Einladung zum Tanze!

Nach drei Tagen ist das Bild, das ihm vorschwebt, schon ganz verblaßt, und ein anderes nimmt von seiner Phantasie Besitz. Er möchte einen Mädchenreigen zeichnen, mit einem betrunkenen alten Bauern als Zuschauer und einem Dreigespann, das gerade vorüberjagt. Zwei Tage lang ist er einzig mit dem Entwurf dieses Bildes beschäftigt: es steht lebendig vor seinem Geiste. Die tanzenden Mädchen und der Alte würden ihm wohl gelingen, aber mit dem Dreigespann wird es nichts: Pferde haben sie in der Schule »nicht gehabt«.

Acht Tage später ist auch dieses Bild vergessen und ein neues an seine Stelle getreten . . .

Der Musik war er leidenschaftlich ergeben. Auf der Schule hatte er einen Kameraden namens Waßjukow – ein unbedeutendes, von den übrigen Schülern geringschätzig behandeltes Kerlchen, dem Raiski um so zärtlicher zugetan war.

Alle fanden ein Vergnügen darin, Waßjukow am Ohr zu ziehen: »Mach’, daß du fortkommst, Dummkopf! Schaf!« hörte er beständig. Raiski allein war voll Mitgefühl gegen ihn und konnte ihn immer nur mit zärtlicher Rührung ansehen. Der Grund davon war, daß Waßjukow, der sonst für nichts Sinn hatte und selbst in den Stunden des allgemein beliebten russischen Lehrers träg und schlaff dasaß, jeden Tag nach dem Mittagessen seine Geige vornahm, das Kinn auf den Griff stützte, mit dem Bogen über die Saiten strich und über seinem Spiel die Schule, die Lehrer und die Mißhandlungen der Kameraden vergaß.

Seine Augen sahen dabei nichts von alledem, was rings um ihn vorging, sondern schauten irgendwohin in die Ferne, als erblickten sie da etwas ganz Besonderes, Geheimnisvolles. Sie nahmen zuweilen einen wilden, finsteren Ausdruck an, um gleich darauf wieder förmlich zu weinen.

Raiski pflegt sich ihm gegenüber zu setzen und wie vergeistert in sein Gesicht zu schauen; er beobachtet, wie Waßjukow, zunächst noch mit dem gewohnten stumpfen Blick, seine Geige hervorholt, träg den Bogen in die Hand nimmt, mit dem Kolophonium darüber hinfährt, dann mit dem Finger die Saiten anschlägt, sie fester spannt, von neuem probiert und schließlich, immer noch schläfrig dreinschauend, mit dem Bogen über die Saiten streicht. Doch nun ist er im Zuge, nun erwacht er und fliegt auf und davon.

Jetzt ist kein Waßjukow mehr da, ein anderer steht an seiner Stelle. Die Pupillen weiten sich, die Augen blinzeln nicht mehr, sondern werden immer durchsichtiger, heller, tiefer und schauen so stolz und so klug drein, und die Brust atmet langsam und schwer. Ein Ausdruck von Wonne und Glück huscht über das jugendliche Gesicht, die Haut erscheint klarer und weicher, die Augen schimmern blau und senden Strahlen aus – Waßjukow ist schön geworden! Raiski sucht ihm in Gedanken dahin zu folgen, wohin seine Blicke schauen, und zu sehen, was er sieht. Niemand und nichts existiert für ihn – weder die Schüler, noch die Bänke und Spinde. Alles das ist wie in einen Nebel gehüllt.

Bald nach den ersten Tönen hat sich die blaue Weite geöffnet, und eine schwankende Welt von Wogen und Schiffen, von Menschen, Wäldern und Wolken taucht empor – alles schwimmt gleichsam und schwebt an ihm vorüber in den luftigen Räumen. Und er selbst meinte höher und höher zu wachsen, und der Atem versagte ihm, und es war ihm, als würde er gekitzelt, oder als nähme er ein Bad . . .

Und dieser Traum währte so lange, als die Töne erklangen.

Ein Klopfen, ein Schreien, ein Stoß weckt ihn plötzlich und mit ihm zugleich Waßjukow. Die Töne sind verstummt, die Welten entschwunden, er ist erwacht: ringsum sieht er Schüler und Bänke und Tische, Waßjukow legt seine Geige in den Kasten, irgend jemand zieht ihn am Ohr, Raiski stürzt sich wütend auf den Händelsucher, prügelt ihn durch und geht dann eine ganze Weile in Nachdenken versunken umher.

Seine Nerven singen ihm unbekannte Hymnen vor, das Leben wogt und flutet in ihm wie ein Meer, Gedanken und Gefühle fließen in Wellen dahin, stoßen sich untereinander, enteilen irgendwohin und werfen Gischt und Schaum auf.

Er hört in diesen Tönen etwas ihm Bekanntes: wie eine Erinnerung lebt es darin, wie der Schatten einer Frau, die ihn einstmals auf dem Schoße hielt.

Er durchwühlt sein Gedächtnis und errät, daß es seine Mutter war, die ihn so hielt, während er, mit seiner Wange an ihre Brust gelehnt, zusah, wie ihre Finger über die Klaviertasten hinglitten, und aufmerksam lauschte, wie bald traurige, bald frische, kecke Weisen unter ihren Händen erklangen, und wie bald ihr Herz in der Brust klopfte.

Immer deutlicher tauchte die Frauengestalt in seiner Erinnerung auf, als sei sie eben im Augenblick aus dem Grabe erstanden und lebendig vor ihn getreten.

Er erinnerte sich, wie nach beendetem Spiel ihre ganze, zitternde Lust sich in dem heißen Kuß auslöste, den sie ihm aufdrückte. Er erinnerte sich, wie sie ihm die Bilder im Zimmer erklärte: wer jener Alte mit der Leier sei, auf dessen Spiel der stolze König da lauschte, stumm, ohne daß er sich zu regen wagte – wer die Frau sei, die dort zum Richtplatz geführt ward, und so weiter. Er erinnerte sich, wie sie ihn ans Ufer der Wolga führte, wie sie dort stundenlang saß und in die Ferne schaute, oder ihn auf die im Sonnenschein aufragenden Berge, auf die üppig grünenden Wälder und die vorüberfahrenden Schiffe aufmerksam machte.

Und er sah sie an, wie sie so unbeweglich dasaß und schaute, und er blickte in ihre durchsichtigen, tiefen, guten Augen – die ganz so waren wie die Augen Waßjukows, wenn er spielte.

Vielleicht sah auch sie in dem Grün der Wälder, dem raschen Lauf des Flusses, dem Blau des Himmels dasselbe, was Waßjukow sah, wenn er auf der Geige spielte . . . Berge, Meere, Wolken . . . »kurz alles, was auch ich sehe«, dachte er im stillen.

Hörte er irgendwo eine Dame auf dem Klavier spielen, etwa die Gouvernante auf dem Nachbargute, so blieb er wie angewurzelt stehen, vergaß selbst die Angel, die er eben unten am Flusse auswerfen wollte, und blieb, mit offenem Munde hinter der Spielenden stehend, im Zimmer. Es war, als sei er gar nicht da, als sei er in die Erde versunken – weit, weit hinweg trug’s ihn durch die Lüfte, und er wuchs ins Riesengroße, und Kräfte strömten ihm zu, daß er sich stark genug fühlte, gleich Simson an Säulen zu rütteln und Gewölbe zum Einsturz zu bringen.

Die Töne dringen in sein Hirn ein, erschüttern seine Brust, treiben ihm den Schweiß auf die Stirn und die Tränen in die Augen . . .

Verklingen die Töne, so erwacht er jäh, schämt sich und läuft davon.

Er begann zunächst bei Waßjukow das Geigenspiel zu erlernen – eine ganze Woche schon streicht er mit dem Bogen auf der Geige hin und her: »a, c, g«, intoniert Waßjukow geduldig, während die schrillen Mißtöne, die sein Schüler dem Instrument entlockt, ihm in die Ohren schneiden. Bald kriegt der Bogen zwei Töne auf einmal zu fassen, bald zittert die spielende Hand vor Schwäche: nein, das ist nichts! Wenn Waßjukow spielt, geht es wie geölt. Zwei Wochen sind bereits vergangen, und er vergißt immer noch bald diesen bald jenen Finger. Die Schüler murren: »Hol’ euch der Teufel mit eurem Gefiedel!« ruft der Primus. »Hier gibt’s ernste Arbeit genug, und sie sägen auf ihrer Geige herum!«

Raiski gab das Geigenspiel auf und bat den Vormund, ihn doch Klavierunterricht nehmen zu lassen. »Das ist nicht so schwierig,« dachte er, »das werde ich leichter erlernen.«

Der Vormund engagierte einen deutschen Klavierlehrer für ihn, nahm sich jedoch vor, einmal ernsthaft mit ihm zu reden.

»Höre einmal, Boris,« begann er, »ich wollte dich immer schon fragen, was du eigentlich einmal anfangen willst?« Raiski verstand die Frage nicht und schwieg.

»Du bist nun sechzehn Jahre alt,« fuhr der Vormund fort, »es ist wirklich hohe Zeit, daß du einmal ernstlich an deine Zukunft denkst. Du hast, wie ich sehe, noch gar nicht überlegt, was du auf der Universität und später im Staatsdienst anfangen sollst. Mit der Offizierslaufbahn wird es nichts werden: dein Vermögen ist nicht groß, und nach den Traditionen deiner Familie müßtest du schon bei der Garde dienen.«

Raiski schwieg und sah zum Fenster hinaus in den Hof, wo eben zwei Hähne aneinandergeraten waren, ein Schwein in dem Düngerhaufen wühlte und eine Katze sich still an eine Taube heranschlich.

»Ich spreche mit dir von ernsten Dingen,« sagte der Vormund, »und du guckst zum Fenster hinaus! Wofür bereitest du dich eigentlich vor?«

»Ich will ein Künstler werden.«

»Was?«

»Ein Künstler will ich werden,« wiederholte Raiski.

»Was Teufel ist dir in den Kopf gefahren? Wer wird dann noch mit dir verkehren wollen? Weißt du, was ein Künstler ist?« fragte der Vormund.

Raiski schwieg.

»Ein Künstler ist ein Mensch, der dich entweder anpumpt oder dir so viel Blödsinn vorschwatzt, daß dein Gehirn eine ganze Woche lang umnebelt bleibt . . . Ein Künstler will er werden! . . . Das heißt doch nichts anderes,« fuhr der Vormund fort, »als ein wüstes Zigeunerleben führen, an Geld, Garderobe und allen sonstigen Dingen Mangel und einzig an schwärmerischen Ideen Überfluß haben! Wo leben denn diese Künstler? Auf den Hausböden, wie die Vögel des Himmels! Ich habe sie in Petersburg gesehen: das sind diese Allerweltskerle, die, mit phantastischen Kostümen angetan, sich des Abends auf ihren Buden zu versammeln pflegen, auf den Diwans herumliegen, Tabak rauchen, allerhand Unsinn schwatzen, sich gegenseitig Verse vorlesen, sehr viel Branntwein trinken und dann erklären, daß sie Künstler sind. Sie kämmen sich nicht, laufen in unordentlicher Kleidung umher . . .«

»Man sagte mir aber, daß die Künstler jetzt sehr geschätzt werden, Onkel,« versetzte Raiski. »Was Sie da sagten, mag vielleicht von einer früheren Zeit gelten. Aus der Akademie sind schon recht berühmte Leute hervorgegangen! . . .«

»Nun, gar so alt bin ich doch auch noch nicht, und die Welt habe ich mir immerhin ein wenig angesehen,« meinte der Onkel. »Du hast wohl etwas läuten hören, weißt aber nicht, auf welchem Turme es läutet. Berühmte Leute! Gewiß gibt es unter den Künstlern Berühmtheiten, ebenso wie unter den Ärzten – aber frage sie einmal, wann sie es zur Berühmtheit gebracht haben! Doch nur, als sie in den Staatsdienst getreten waren und den Rang eines Geheimrats erlangt hatten! Wenn solch ein Künstler eine Kathedrale baut, oder ein Denkmal für einen öffentlichen Platz geschaffen hat – dann verleiht man ihm wohl diesen Rang! Aber sie fangen in Jammer und Elend an, bei Wasser und Brot. Es sind ja auch zum größten Teil nur Freigelassene, Kleinbürger oder Fremde, ja selbst Juden, die sich diesen Berufen widmen. Die bittere Not treibt sie dem Künstlertum in die Arme. Und du – bist ein Raiski! Du hast Grundbesitz, hast dein gutes Auskommen. Gewiß, für die Gesellschaft ist es ganz nett, ein paar angenehme Talente zu besitzen: etwas auf dem Klavier vortragen, etwas ins Album zeichnen, eine Romanze singen zu können . . . Darum habe ich ja auch den deutschen Musiklehrer für dich engagiert. Aber daß du ein Künstler von Beruf werden willst – das finde ich einfach abgeschmackt! Hast du jemals von einem Fürsten oder Grafen gehört, der ein Bild gemalt, oder von einem Edelmann aus altem Geschlecht, der eine Statue modelliert hätte?«

»Und Rubens?« fiel Raiski plötzlich ein, »der lebte doch am Hofe, war Gesandter . . .«

»Wo holst du auch deine Beispiele her! Das war vor zweihundert Jahren,« sagte der Vormund, »dort irgendwo bei den Deutschen . . . Nein, es ist schon richtiger, du trittst in die Universität ein, in die juristische Fakultät, dienst in Petersburg, arbeitest dich tüchtig ein, wirst Staatsanwalt oder Kammerjunker, was dir bei deinen Familienverbindungen nicht schwer fallen wird. Wenn du die Augen offen hältst, kannst du bei deinem Namen und deiner Herkunft mit dreißig Jahren Gouverneur sein. Das ist die Karriere, die dir winkt! Ich sehe nur leider keinen Ernst bei dir: du fängst mit den kleinen Dorfjungen Fische, zeichnest eine Sumpflandschaft, einen betrunkenen Bauern vor der Dorfschänke . . . Du läufst in Wald und Feld umher, und es fällt dir nicht ein, einmal einen Bauern danach zu fragen, wie die Ernteaussichten sind, was für eine Getreideart da wächst, wann gesät wird, ob die Getreidepreise sich halten . . . nichts, gar nichts! Nicht einmal zum Landwirt hast du das Zeug!

Der Onkel seufzte, und Raiski schaute düster vor sich hin: die Strafpredigt des Onkels hatte nur verstimmend auf seine Nerven gewirkt.

Der deutsche Musiklehrer war gleich Waßjukow vor allem darauf bedacht, Raiski die Finger zurecht zu renken; er begleitete jede Note, die der Schüler auf dem Klavier spielte, mit einem Aufstampfen des Fußes und einem monotonen Singsang: »a—a—u—u—o—o—«.

Nur aus Scheu vor dem Vormund ließ Raiski diese Folterqual über sich ergehen und kam so im Verlauf etlicher Monate über die ersten Schritte hinaus. Dabei hatte er beständig seine Launen: spielte nicht mit dem Finger, mit dem er spielen sollte, sondern mit dem, der ihm gerade am bequemsten war, übte keine Tonleitern, sondern lauschte nur immer auf die Motive, die ihm durch den Kopf gingen, war glücklich, wenn er dieselbe Kraft und denselben Ausdruck in sein Spiel legen konnte wie irgendein tüchtiger Spieler, den er zufällig gehört hatte, und ließ sich von dessen Spiel begeistern, wie er sich früher von den Strichen und Punkten des Zeichenlehrers hatte begeistern lassen.

Mit den Noten konnte er sich nie recht befreunden, es schien ihm eine Tortur, all die verstaubten und vergilbten Notenhefte der Musikschule, die der Lehrer ihm brachte, der Reihe nach durchzuarbeiten. Dagegen lauschte er häufig seinem eigenen Spiel, und es war ihm dabei, als liefen ihm die Ameisen über den Rücken.

Er sah im Geiste bereits den von Menschen angefüllten Saal und sich selbst darin am Flügel, die Wände ringsum und die Herzen der Kenner mit seinem Spiel erschütternd. Mit glühenden Wangen lauschten ihm schöne Frauen, und sein Gesicht flammte in verschämter Freude über den eigenen Triumph . . .

Er wischte eine Träne fort, die still über seine Wange rann, er war ganz hin, ganz enthusiasmiert von dem herrlichen Traumbild.

Als er mit Mühe und Not die ersten technischen Schwierigkeiten überwunden hatte, schienen seine Finger, statt sich an die Notenhefte zu halten, bereits etwas Eigenes zu suchen und ihm jenen Saal, jene schönen Frauen, jene Stürme des Beifalls vorzuzaubern.

Bald hatte er all die rotbäckigen kleinen Damen seiner Bekanntschaft überholt und setzte sie durch die Kraft und Kühnheit seines Spiels und die temperamentvolle Leichtigkeit, mit der seine Finger über die Tasten huschten, in Erstaunen. Sie saßen immer noch an irgendeinem vorsintflutlichen Rondeau oder einer vierhändigen Sonate, während er längst über alle Übungen und Sonaten hinweggesprungen war, zuerst zu Quadrillen und Märschen und dann zu den Opern. Er absolvierte den Kursus nach seinem eigenen Programm, das ihm durch sein Gehör und seine Phantasie diktiert ward.

Hörte er Orchestermusik, so merkte er sich mit Leichtigkeit, was ihm gefiel, und wiederholte, berauscht von der Bewunderung seiner Zuhörerinnen, die erlauschten Motive. Er galt als der beste, talentvollste Spieler der ganzen Gegend, und sein deutscher Lehrer versicherte, sein Talent sei ganz erstaunlich, noch erstaunlicher aber seine Trägheit.

Aber was hatte das schließlich auf sich? Eine gewisse Trägheit und Nachlässigkeit kleidet ja den Künstler! Überdies hatte ihm irgend jemand gesagt, daß, wer Talent besitzt, nicht viel zu arbeiten brauche, daß nur talentlose Leute arbeiten, um sich mit vieler Mühe einen kläglichen Ersatz für die große, alles besiegende Gabe der Natur – das Talent – zu schaffen.

Die Schlucht

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