Читать книгу Die Schlucht - Иван Гончаров, Иван Александрович Гончаров - Страница 22

Zweiter Teil
Viertes Kapitel

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Raiski ging um die ganze Stadt herum und kletterte am entgegengesetzten Ende der Schlucht, ganz weit entfernt von seinem Gute, wieder den Abhang hinauf. Von der Höhe aus schritt er dann wieder abwärts, nach der Vorstadt zu. Die ganze Stadt lag wie auf der flachen Hand vor ihm ausgebreitet.

Ein seltsames Gefühl ergriff ihn, als er so, von alten, fast bis in die Kindheit zurückreichenden Erinnerungen bestürmt, auf diesen kunterbunten Haufen von Häusern, Häuschen und Hütten niederschaute, die bald in dichten Gruppen zusammengedrängt waren, bald auf den Höhen oder in den Niederungen zerstreut lagen, hier am Rande des Abhangs hinliefen, dort sich nach der Tiefe der Schlucht hinzogen, die einen mit Balkons, Markisen, Belvederen, die anderen mit Anbauten und Überbauten, mit venetianischen Fensterchen oder kaum bemerkbaren Spalten an Stelle der Fenster, mit Taubenschlägen, Starhäuschen und öden, grasbewachsenen Höfen. Er sah hinab auf die endlos langen, zwischen Zäunen hinlaufenden krummen Gassen, auf die menschenleeren, noch unausgebauten Straßen, die mit hochtönenden Aufschriften, wie »Moskauer Straße«, »Astrachaner Straße«, »Saratower Straße« paradierten und über Basare hinliefen, auf denen Haufen von Bast, von gesalzenen und gedörrten Fischen, Fässer mit Birkenteer und Tische mit großen Kuchen umherstanden; er sah auf die weitgeöffneten Torwege der Einkehrhäuser, aus denen ein penetranter Düngergeruch hervorströmte, und auf die durch die Straßen holpernden Droschken.

Die Mittagstunde war längst vorüber. Über der Stadt lag eine starre Ruhe, ähnlich der Windstille auf dem Ozean – die Stille des trägen, breiten, vegetierenden Lebens dieser russischen Steppennester, die einem Friedhof weit mehr gleichen als einer von lebendigen Menschen bewohnten Stadt.

Sie schien gestorben zu sein, oder zu schlafen, oder in dumpfen Träumen befangen. Die offenen Fenster erinnerten an ein starres Gähnen, an einen Mund, der geöffnet ist, aber nicht spricht; kein Atem, kein Pulsschlag war zu spüren. Wohin ist das Leben geflohen? Wo sind die Augen, wo der Mund dieses regungslos daliegenden Körpers? Alles ringsum ist grün, mit bunten Sprenkeln dazwischen, und alles schweigt.

Raiski schritt durch die Straßen und Gäßchen dahin – nicht ein Windhauch regte sich darin. Der Staub liegt auf den Straßen, schon seit vielen Tagen unberührt; man sieht deutlich die Radspuren der Wagen, die darüber hingefahren sind. Im Schatten des Zaunes ruht da und dort eine Ziege aus, und die Hühner haben sich Höhlen in den Staub gescharrt und sitzen darin ganz still beieinander; nur der Hahn sucht, bald mit dem einen, bald mit dem anderen Fuße kratzend, in der hohen, dicken Staubschicht nach Nahrung. In den Höfen liegen die Hunde in buntscheckigen Gruppen zu drei und vier nebeneinander, und nur aus Gewohnheit bellen sie von Zeit zu Zeit den einen oder andern der wenigen Passanten an, der sie im übrigen gar nichts angeht.

Alles erscheint so weit, so öde – wie in der Wüste. Hier und da zeigt sich ein Kopf mit grauem Barte an einem der Fenster, ein rotes Hemd wird sichtbar, träg schauen die Augen nach links und rechts, ein Gähnen folgt, ein Ausspucken, und der Kopf verschwindet wieder.

Wirft man einen Blick durchs Fenster gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, so erblickt man einen schnarchenden Mann im Schlafrock, auf dem Ledersofa ausgestreckt, und neben ihm auf einem Tischchen den »Stadtanzeiger«, die Brille und eine Karaffe mit Kwas.

Dort hockt einer stundenlang im Torweg, die Mütze auf dem Kopfe, und schaut träg und gleichgültig nach dem mit Brennesseln bewachsenen Graben und dem Zaun auf der anderen Straßenseite. Eine ganze Weile schon hält er das Taschentuch in den Händen und kann vor lauter Trägheit sich nicht dazu entschließen, seine Nase zu putzen.

Hier sitzt jemand untätig am Fenster, mit der Pfeife im Munde, und wer auch immer vorübergeht, jeder sieht ihn da sitzen, mit zufriedenem, wunschlosem Gesichte, ohne Spur von Langerweile. An einem anderen Fenster sah Raiski eine ältliche Frau, das Pendant zu dem Manne mit der Pfeife: jahraus, jahrein saß sie da seit langer Zeit in ihrem verlorenen Gäßchen, ohne sich zu rühren, ohne sich aufzuregen, ohne irgendeinen Verkehr mit ihresgleichen zu suchen, ohne etwas zu ahnen von der Unruhe und dem regen Treiben der Großstadt, die die Menschen nur so durcheinanderwirbelt.

Da und dort sah Raiski, wie er so von Gasse zu Gasse ging, die Leute noch bei Tische, doch stand stellenweise auch schon der Samowar bereit.

In der menschenleeren Gasse hört man es auf eine Werst hin ganz deutlich, wenn zwei oder drei zusammen sprechen, und was sie sprechen. Hell tönen die Stimmen durch die Gasse, und die Schritte hallen auf dem hölzernen Bürgersteig wider.

Irgendwo in einem Schuppen wird Holz zerkleinert, ein Ferkel quiekt auf dem Misthaufen; an einem kleinen Fensterchen, fast zu ebener Erde, weht ein Kattunvorhang im Zugwind hin und her und streift die Balsaminen, Maßliebchen und Reseden in den Töpfen auf dem Fensterbrett.

Hier sitzt, das hübsche, frische Gesicht über eine Näharbeit gebeugt, ein junges Mädchen und ist trotz der einschläfernden Schwüle fleißig am Werke. Sie ist die einzige, die im Hause zu wachen scheint – vielleicht wartet sie, bis draußen auf der Straße ein bekannter Schritt sich vernehmen läßt . . .

Aus den offenen Fenstern eines Hauses tönt wohl ein ganzes Hundert jugendlich heller, buchstabierender Stimmen: es bedurfte nicht erst der Aufschrift über der Tür des Hauses, um dem Wanderer anzuzeigen, daß er eine Schule vor sich habe.

Weiter kam Raiski an einen Neubau: Balken, Sparren und Späne lagen in Haufen umher, und um eine riesige hölzerne Schüssel waren die Zimmerleute gelagert. Ein großer Brotlaib, kleingeschnittener Lauch in der mit Kwas gefüllten Schüssel und ein Stück Salzfisch – das war ihr ganzes Mittagessen.

Ruhig und schweigsam saßen die Männer um die Schüssel, tauchten der Reihe nach ihre Löffel in den Kwas und legten sie wieder hin, kauten langsam das Brot, lachten und sprachen nicht, sondern verrichteten ernsthaft, fast mit Andacht, die schwere Arbeit des Essens.

Raiski wollte sie zeichnen, diese Gruppe von müden, ernsten, gelbbraunen Männern, die an Polynesier erinnerten, diese vertrockneten, sonnverbrannten Hände mit den steifen Fingern und den fest eingewachsenen, gleichsam eisernen Nägeln, diese Gesichter mit den sich im Gleichmaß weit öffnenden, langsam kauenden Kiefern, diesen Hunger, der sich an Brot und Lauch und Grütze satt aß.

Ja, das war der Hunger, nicht der Appetit: der Bauer kennt keinen Appetit. Der Appetit ist ein Ergebnis des Faulenzens, des Wohllebens, der »Motion«, der Hunger dagegen ein Produkt der Zeit und der schweren Arbeit.

»Welch ein breites Bild der Stille und des Schlafes!« dachte Raiski, während er seinen Blick in die Runde schweifen ließ. »Wie ein Grab! Ein weiter Rahmen für einen Roman – fragt sich nur, was ich in diesen Rahmen hineinstellen soll!«

Er zeichnete gleichsam in Gedanken all die Häuschen ab, prägte sich die Physiognomien der Passanten ein, gruppierte bereits die Tante und ihre Umgebung in dem ihm vorschwebenden Rahmen.

Als Hauptgestalt des Ganzen erschien ihm vorerst nur Marsinka – sie bildete den Mittelpunkt des Gemäldes. Die Gestalt der Bjelowodowa war in den Hintergrund getreten und stand dort ganz einsam und verlassen.

Mechanisch und langsam ging er durch die Straßen und verarbeitete sein neues Material. Alle Gestalten standen im Kopfe fertig vor ihm, er sah sie dort alle so, wie sie lebten.

»Wie, wenn auf diesem schläfrigen, unbeweglichen Hintergrunde sich ein großes Gemälde der Leidenschaft abspielte?« dachte er. Welches Leben würde sich plötzlich in diesem Rahmen entwickeln! Welche Farbenfülle! . . . Aber woher die Farben nehmen, und woher die Leidenschaft? . . .

»Die Leidenschaft!« wiederholte er still für sich, fast in heftiger Wallung. »Ach, wenn doch ihre sengende Glut mich selbst ergreifen und durchlodern wollte, wenn sie den Künstler in mir ganz aufzehrte, daß ich blind in ihr versänke und dieses innere Doppelleben, dieses quälende zweite Gesicht aus meinem Wesen herausmerzte! Nicht mit den schauenden Sinnen, als Beobachter anderer, will ich ihre Glut durchleben, sondern mit dem eigenen Ich, mit Nerven und Mark, mit Galle und Blut – und dann will ich es malen, dieses Gehenna des menschlichen Lebens! Die Leidenschaft Sophies . . . nein, nein!« dachte er kalt. »Sie steht über dieser Welt, über der Leidenschaft . . . und die Leidenschaft Marsinkas . . .« – er mußte unwillkürlich lächeln.

Beide Bilder verblaßten, und er senkte nachdenklich den Kopf und blickte gleichgültig zur Seite.

»Ja, sie werden beide ihren Roman haben,« dachte er; »einen Roman, gewiß – aber es wird ein welker, kleinlicher Roman sein, bei der einen mit allerhand aristokratischem, bei der anderen mit kleinbürgerlichem Beiwerk. Dort das breite Gemälde eines kühlen Halbschlummers in marmornen Sarkophagen, mit Samtdecken, auf denen goldene Wappen gestickt sind; hier das Bild eines lauen Sommerschlafs auf grünen Matten, inmitten von Blumen, unter freiem Himmel – ganz traut und gemütlich, aber doch immer ein Schlaf, und zwar ein Schlaf, aus dem es kein Erwachen gibt.«

Er ging jetzt rascher – er hatte sich erinnert, daß seine Wanderung ein Ziel hatte, und er sah sich um, ob er nicht jemanden sähe, den er nach der Wohnung des Gymnasiallehrers Leontij Koslow fragen könnte. Kein Mensch war auf der Straße, kein Lebenszeichen rings zu schauen. Endlich entschloß er sich, in eins der kleinen Holzhäuser einzutreten.

Auf dem Hausflur schlug ihm ein abscheulicher Dunst entgegen, daß er sich die Nase zuhalten mußte und sein Blick hastig über die drei vom Flur nach dem Innern des Hauses gehenden Türen glitt: welche sollte er öffnen? Hinter der einen Tür ließ sich ein Geräusch vernehmen, und er betrat das kleine Vorzimmer.

»Wer ist da?« fragte ganz verdutzt eine alte Frau, die ihm, mit beiden Händen einen schweren Samowar tragend, entgegentrat.

»Können Sie mir nicht sagen, wo hier der Lehrer Leontij Koslow wohnt?« fragte Raiski.

Sie sah ihn noch immer wortlos, mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen an.

»Wer ist da?« ließ sich aus dem anstoßenden Zimmer eine männliche Stimme vernehmen, während gleichzeitig ein Schlurren von Pantoffeln näher kam und der Kopf eines etwa fünfzigjährigen Mannes in der Tür erschien. Er trug einen buntscheckigen Schlafrock und hielt ein blaues Tuch in der Hand.

»Nach irgendeinem Lehrer fragt er!« sagte die erschrockene Alte.

Der Mann im Schlafrock sah Raiski gleichfalls ganz bestürzt an.

»Was für ein Lehrer? Hier wohnt kein Lehrer . . .« sagte er und fuhr fort, den unerwarteten Besucher mit erstauntem Blick zu betrachten.

»Entschuldigen Sie, ich bin hier nicht bekannt, bin erst heute früh hier angekommen. Zufällig bin ich hier in diese Straße geraten und wollte nur fragen . . .«

»Wollen Sie nicht näher treten?« lud ihn der Hausherr freundlich ein.

Raiski folgte ihm in ein kleines Empfangszimmer, in dem einfache Lederstühle und ein ebensolches Kanapee an der Wand standen. Auch ein Spiegel war vorhanden, und unter dem Spiegel stand ein Spieltisch.

»Ich bitte, Platz zu nehmen!« bat der Hausherr. »Nach welchem Lehrer beliebten Sie zu fragen?« fuhr er fort, als sie sich beide gesetzt hatten.

»Nach Leontij Koslow.«

»Es gibt hier einen Kaufmann Koslow, der hat einen Laden auf dem Basar . . .«, sagte der Hausherr nachdenklich.

»Nein, der Koslow, den ich meine, ist Lehrer der klassischen Sprachen,« wiederholte Raiski.

»Der klassischen Sprachen . . . nein, den kenne ich nicht . . . Erkundigen Sie sich einmal im Gymnasium – dort oben, auf der Anhöhe . . .«

»So klug bin ich selber,« dachte Raiski. Und laut fügte er hinzu: »Ich glaubte, daß ihn hier jedermann kennt, weil er schon so lange in der Stadt ist.«

»Erlauben Sie mal . . . ist er nicht Hauslehrer beim Adelsmarschall? Dann wohnt er dort auch – er sieht so brav aus . . .«

»Nein, nein, der ist gar nicht brav!« sagte Raiski lächelnd und empfahl sich.

Auf der Straße hielt er den ersten Passanten an und fragte ihn wiederum nach dem Lehrer Leontij Koslow. Der Gefragte dachte ein Weilchen nach, musterte Raiski vom Scheitel bis zur Sohle, wandte sich dann zur Seite, um sich mit den Fingern zu schneuzen, und sagte, nach der Richtung zeigend, aus der Raiski kam:

»Der muß dort am Ende der Stadt wohnen, hinter der Brücke: dort wohnt irgendein Lehrer.«

Zum Glück kam jetzt ein Kantonschreiber vorüber, der Raiskis Frage vernahm.

»Was redest du da!« bemerkte er. »Das ist doch der Gärtner Koslow!«

»Ich weiß, daß er Gärtner ist, aber er ist doch zugleich Lehrer,« versetzte der andere. »Man schickt doch Kinder zu ihm in die Lehre . . .«

»Der ist es aber nicht, den der Herr sucht,« sagte der Schreiber mit einem Blick auf Raiski. »Bitte, folgen Sie mir!« fügte er hinzu und ging rasch voran.

Raiski folgte ihm von Gasse zu Gasse, und sein Führer brachte ihn endlich vor das Haus, aus dessen Fenstern das Buchstabieren der Abcschützen klang.

»Hier ist die Schule, und da sitzt auch der Lehrer selbst!« sagte er und zeigte nach dem Fenster des Hauses, durch das man den Lehrer sehen konnte.

»Aber der ist’s doch nicht, den ich suche!« rief Raiski ärgerlich. Er war wütend über sich selbst, weil er vergessen hatte, sich zu Hause nach Koslows Adresse zu erkundigen.

»Ja, dann hätten wir noch das Gymnasium oben auf der Anhöhe . . .« sagte der Schreiber.

»Schon gut, ich danke Ihnen, ich werde ihn schon finden,« sagte Raiski und trat in das Schulhaus ein, in der Annahme, daß der Lehrer doch sicher wissen würde, wo Leontij wohnte.

Seine Annahme erwies sich als richtig: der Lehrer legte den Finger auf die Stelle im Buche, die er gerade vorhatte, und ging, das Buch in der Hand, mit Raiski auf die Straße hinaus. Hier zeigte er ihm, wie er zunächst die Straße hinuntergehen, dann rechts und dann wieder links einbiegen müsse.

»Dort kommen Sie an einen Garten,« fügte er hinzu – »und da wohnt Koslow.«

»Hier sind Kultur und Fortschritt noch etwas weit zurück,« dachte Raiski, während er auf die hinter ihm herschallenden Kinderstimmen lauschte und zum fünften Male durch dieselben Gassen schritt, ohne auch diesmal einer lebendigen Seele zu begegnen. »Was für Menschen, was für Sitten, was für Erscheinungen! Alles, alles zu brauchen für einen Roman: das gibt Striche und Schatten, interessante Details, Milieu – lauter Perlen für den, der sie sehen und darstellen kann. Wie mag nur Leontij jetzt aussehen? Ob er sich sehr verändert hat? Ob er noch immer der alte Büchergelehrte mit dem ahnungslosen Kinderherzen ist? Auch er ist – ein dankbarer Fund für den Künstler.«

Und er trat in das Haus ein.

Die Schlucht

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