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3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen

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Es existieren auch zahlreiche weitere Verben im Griechischen, mit denen die Rezeption von Texten bezeichnet wird und die – verstanden in einem weiten Sinne – in heuristischer Hinsicht einer Kategorie zugeordnet werden können, die sich grob mit dem Konzept Suchen und Finden bzw. Fragen und Antworten beschreiben lässt. So impliziert das erste hier zu betrachtende Lexem ζητέωζητέω, das durchaus ein breites Bedeutungsspektrum aufweist ([unter]suchen, [er]forschen, fragen, aufspüren, sich bemühen, verlangen), dass man dem zu Untersuchenden, also z.B. dem Sachverhalt oder eben dem Text, mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse bzw. einer Frage entgegentritt. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion wird im Folgenden nur die Verwendungsweise in Bezug auf SchriftmedienLese-medium/Texte untersucht.

Das Verb ζητέωζητέω, dessen EtymologieEtymologie nicht eindeutig ist,1 gilt als altgriechischer terminus technicus für das/die philosophischePhilosophie Untersuchen/Untersuchung, das/die auch schriftgebunden sein kann.2 Philosophisches Untersuchen ist nicht zwingend mit Lesen verbunden und es finden sich Belegstellen, an denen das Verb eindeutig und ausschließlich die „Suche“ im Kopf meint.3

Das Verb wird aber genauso eindeutig dazu verwendet, um die Suche oder das Forschen nach etwas zu bezeichnen, wofür etwas Schriftliches konsultiert werden muss.4 In Demosthenes’ RedeRede gegen Timotheos ist formuliert, in einer Art Schuldenregister bei einer Bank, die Einträge von Timotheos’ Schulden zu suchen und abzuschreiben (… ζητεῖν τὰ γράμματαγράμματα καὶ ἐκγράφεσθαι …; Demosth.Demosthenes or. 49,43). Bei Aristot.Aristoteles pol. 3,1287a beschreibt das Verb Phänomen, dass Patienten medizinischeMedizin Behandlungen in Büchern konsultieren, wenn sie dem ArztArzt misstrauen. In 1Esdr 5,38 geht es darum, dass bestimmte Personen, die Anspruch auf das Priestertum erhoben haben, deshalb von der Ausübung desselben ausgeschlossen wurden, weil „deren Abstammungsschrift im Verzeichnis gesucht (ζητηθείσης τῆς γενικῆς γραφῆςγραφή ἐν τῷ καταλοχισμῷ) und nicht gefunden wurde“.5 Im Prooemium des elften Buches von PolybiosPolybios’ Historien meint das Verb das suchende „Nachschlagen“ in der RolleRolle (scroll), also ein informationsentnehmendes LeseinteresseLese-interesse.6 Einer der Teilnehmer des Gelehrtengesprächs bei Athenaios formuliert, er habe nach Diskussionen über die menschliche NaturNatur in den Werken Brysons von HerakleiaBryson von Herakleia gesucht (ζητέωζητέω), aber nur Beschreibungen von SymposienSymposion und unangemessene erotische Dialoge gefunden (εὑρίσκωεὑρίσκω), welche eine Geringschätzung zukünftige LeserLeser zum Ausdruck brächten (vgl. Athen.Athenaios deipn. 11,118 [508d]). Aufschlussreich ist sodann eine Bemerkung im Vorwort von Kyrills Johanneskommentar, der im Vorwort direkt vor dem Kapitelverzeichnis des ersten Buches deren Funktion erklärt: Sie seien dafür da, den Lesern zu ermöglichen, das Gesuchte sehr einfach zu finden (πρὸς τὸ καὶ λίαν ἑτοίμως ἀνευρίσκεσθαι τοῖς ἐντευξομένοις τὸ ζητούμενον; Kyr. Alex.Kyrill von Alexandria com. in Ioh. prooem. [Ed. PUSEY, p. 7,19f]). Ein gutes Beispiel für Kapitellisten findet sich z.B. im CodexKodexAmiatinus Amiatinus.7 Dort sind die kurzen Kapitelzusammenfassungen (die sog. Capitula Amiatina) mit Zahlen versehen, die wiederum auf eine Sektionszahl verweist, die an derjenigen Stelle im Text angebracht ist, auf welche der jeweilige Eintrag verweist. Das Verb findet sich analog auch in leserlenkendenLeserlenkung Anmerkungen.8 Besonders hervorzuheben sind solche Querverweise innerhalb von Werken, die mehrere RollenRolle (scroll) umfassen, und eine nicht sequentielleKontinuitätsequentiell Lektüre erfordern. Beispielhaft zu verweisen ist auf eine leserlenkendeLeserlenkung Formulierung „wie im ersten Buch zu finden“ (ὡς … ἐν τῷ πρώτῳ βιβλίῳ ζητηθὲν; Gal.Galenos dig. puls. 3,74 [ed. KÜHN 8, p. 903,7f]) bei Galen.

Ganz eindeutig wird das Verb ζητέωζητέω auch im Sinne von „einen Text/ein BuchBuch etc. intensiv studieren/lesen“ verwendet. So findet man schon beim Athener Dichter der neuen KomödieKomödie, AnaxipposAnaxippos, den folgenden Satz: „Am frühen Morgen wirst du sehenSehen, wie ich Bücher in den Händen halte, und das untersuche, was mein Handwerk betrifft“ (τὸν ὄρθρον ἐν ταῖς χερσὶν ὄψει βιβλία ἔχοντα καὶ ζητοῦντα <τὰ> κατὰ τὴν τέχνην; Athen.Athenaios deipn. 9,68 (404b): CAF 3, Anaxippos Fr. 1). Wenn OrigenesOrigenes mit Verweis auf den griechischen TitelTitel des Sprüchebuches (ἐπιγέγραπται γὰρ τὸ βιβλίονβιβλίον Παροιμίαι; Orig. Cels. 4,87), den er gleichsam als Leseanweisung versteht, sagt, er untersuche diese wie Rätsel (ζητῶ ταῦτα ὡς αἰνίγματα; Orig. Cels. 4,87) und damit Worte aus dem Sprüchebuch meint, dann liegt es nahe, ein intensivesAufmerksamkeitvertieft StudiumStudium des Textes vorauszusetzen.9 Im Sinne eines exegetischenExegese Untersuchens verwenden z.B. auch Clemens von Alexandria10, Euseb11 und Chrysostomos das Verb. So schreibt letzterer bezüglich 2Tim 4,9–132Tim 4,9–13: „Es lohnt sich, zu untersuchen, warum der Apostel den Timotheus zu sich ruft …“ (Ἄξιον ζητῆσαι πῶς καλεῖ τὸν Τιμόθεον πρὸς ἑαυτὸν …; Ioh. Chrys.Chrysostomos, Johannes in 2 Tim. hom. 10,1 [PG 62, p. 655]). Auch wenn er in Act. princ. hom. 3 sagt, er habe am zweiten Tag untersucht, wer das Buch (scil. Act) geschriebenSchriftGeschriebenes habe, und er Lukas als AutorAutor/Verfasser identifizieren konnte,12 wird er dafür wohl mindestens die beiden PrologeProlog des lukanischen Doppelwerkes gelesen haben.

Das Verb ἐρευνάωἐρευνάω ist etymologischEtymologie verwandt mit ἔιρομαι (fragen; *indoeuropäisch: h1reu-)13 und ist daher dem semantischen Feld „Frage-Antwort-Dialog“ mit dem Text zugeordnet worden. Für ἐρευνάω hat G. Delling im ThWNT vier Bedeutungsdimensionen herausgearbeitet: a) nachspüren, erschnüffeln; b) durchsuchen, durchstöbern; c) einem Sachverhalt nachspüren, durch Verhör untersuchen (besonders im gerichtlichen Kontext), ausforschen; d) genau prüfen, einer Frage bis ins Detail nachgehen (besonders in wissenschaftlichen Kontexten).14

Im Rahmen der Bedeutungsdimension d) kann das Lexem auch ein durch ein bestimmtes Erkenntnisinteresse gesteuertes Lesen bezeichnen. Besonders eindrücklich ist eine Stelle bei PhilonPhilon von Alexandria,15 an der er mit dem Lexem ἐρευνάωἐρευνάω die kognitivekognitiv Verarbeitung des Lesens der Schrift mit dem Denkvermögen/Verstand (διάνοια) präzise benennt.16 Philon verwendet das Verb ferner auch zur LeserlenkungLeserlenkung.17 In Joh 5,39Joh 5,39 sagt JesusJesus über die Ioudaioi, sie erforschten die Schrift (ἐραυνᾶτε τὰς γραφάς), weil sie meinten, in ihnen das ewige Leben zu haben (s. auch Joh 7,52Joh 7,52). In der patristischenKirche-ngeschichte Literatur wird ἐρευνάω schon im 2. Jh. als LeseterminusLese-terminus verwendet (s. u. S. 524 f).

Das Verb ἐξετάζωἐξετάζω ist als Derivat von ἐτάζω, das wiederum eine denominale Ableitung von ἐτός darstellt, etymologischEtymologie verwandt mit ἀληθής und ἀγαθός und hat als Grundbedeutung „die Wahrheit herausfinden“.18 In zwischenmenschlichen Relationen bezieht sich ἐξετάζω auf ein verbales Geschehen oder ein visuellesvisuell Mustern/Inspizieren/Untersuchen.19 Aber auch als LeseterminusLese-terminus (einen Text untersuchen, erforschen, ausforschen) ist das Verb breit bezeugt. Einige Stellen können dies exemplarisch verdeutlichen.

Schon in Platons Phaidros wird das Verb an einer Stelle als LeseterminusLese-terminus gebraucht, an der Sokrates vorschlägt: „Wie verhält es sich also mit dem Schön- und Unschön-SchreibenSchreiben? Phaidros, wir sollten einmal den Lysias in dieser Sache überprüfen, und wer immer sonst etwas geschriebenSchriftGeschriebenes hat (… Λυσίαν τε περὶ τούτων ἐξετάσαι καὶ ἄλλον ὅστις πώποτέ τι γέγραφεν) …“ (Plat.Platon Phaidr. 258d; Üb. BUCHWALD), worauf hin Phaidros antwortet: „Du fragst, ob wir sollten? Weswegen lebt man denn, sozusagen, wenn nicht um solcher Genüsse willen?“ (Plat. Phaidr. 258e; Üb. BUCHWALD). Der Kontext belegt eindeutig, dass der Name Lysias metonymischMetonymie für die durch Lektüre zu überprüfenden RedenRede steht, die schriftlich vorliegen. Als Leseterminus ist es auch in antiken christlichen Schriften gut bezeugt:20 AthenagorasAthenagoras von Athen überlässt es seinem postulierten AdressatenAdressat, „diese Schriften [ProphetenProphet des ATAT/HB/LXX] zu konsultieren und die Aussprüche jener Propheten genau zu überprüfen (… τῶν βιβλίων γενομένοις ἀκριβέστερον τὰς ἐκείνων ἐξετάσαι προφητείας)“ (Athenag. suppl. 9,3). Wie schon bei anderen Stellen21 deutet die Verwendung des Adjektivs ἀκριβήςἀκριβής auf eine vertiefteAufmerksamkeitvertieft, intensive LektüreAufmerksamkeitvertieft zu Studienzwecken hin. Ähnlich argumentiert auch OrigenesOrigenes: „Für denjenigen, der den Geist unserer Schriften ganz untersucht (… ῷ ἐξετάζοντι ὅλον τὸ βούλημα τῶν ἡμετέρων γραμμάτωνγράμματα …), ist klar, dass Celsus … Pseudobehauptungen ohne Prüfung (ἀνεξέταστος) erhebt.“ (Orig. Cels. 3,53). Das Adverb ἀνεξέταστος meint in diesem Kontext ohne Lektüre der christlichen Schriften. In Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep. 25 [428b] ist ein genaues, auf Fehler hin prüfendes Lesen gemeint.

Ebenfalls zum Bereich „Lesen konzeptualisiert als Suchen“ zuzuordnen ist das Verb εὑρίσκωεὑρίσκω, das, als LeseterminusLese-terminus gebraucht, gleichsam das Ergebnis bzw. Resultat suchender Zugänge zu Texten beschreibt,22 im Sinne von „verstehenVerstehen“ verwendet wird,23 aber auch einfach dazu genutzt wird, eine LesefruchtLese-frucht einzuführen bzw. ein ZitatZitat zu markieren.24 Ähnlich kann im Übrigen auch μανθάνωμανθάνω das Ergebnis eines Rezeptionsaktes (z.B. aus einem BriefBrief),25 v. a. aber selektiverUmfangselektiv und intensiver ZugriffeAufmerksamkeitvertieft auf Texte,26 also die Inhaltsentnahme, das Verstehen, die kognitivekognitiv Verarbeitung beim Lesen bezeichnen.

Weitere Verben müssten im Hinblick auf das unter diesem Punkt besprochene Konzept weitergehend angeschaut werden: ἀναζητέωἀναζητέω (aufsuchen, durchforschen),27 ἐκζητέωἐκζητέω (untersuchen), ἐπιζητέωἐπιζητέω (aufsuchen), ἱστορέωἱστορέω (erforschen, erkunden, untersuchen),28 πολυπραγμονέωπολυπραγμονέω (genau erforschen),29 ἐπισκέπτομαιἐπισκέπτομαι (etw. untersuchen, prüfen),30 μαστεύωμαστεύω (suchen, aufspüren, forschen)31 und die lateinischen Lexeme quaeroquaero,32 reperioreperio,33 scrutorscrutor,34 u. v. m. Dies kann aber im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden.

Lesen in Antike und frühem Christentum

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