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Gattensturz und Krönung

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Elisabeth starb am 25. Dezember 1761 (5. Januar 1762) im Alter von 52 Jahren nach 20-jähriger Herrschaft.1 Ihr Reich befand sich außenpolitisch in einem kostspieligen Krieg, Elisabeth selbst hatte auf großem Fuße gelebt, Hofhaltung und Baupolitik als Währungen der symbolischen Kommunikation hatte sie sich einiges kosten lassen. So starb sie im Aničkov-Palast an der Fontanka, ohne dass ihr Stararchitekt Rastrelli den Innenausbau des (vierten) Winterpalastes an der Neva, den sie im Stil des Barocks hatte bauen lassen, vollenden konnte.2

Dies konnte symbolisch verstanden werden. Zwar hatte die Tochter Peters mit Hilfe ihrer kompetenten Berater die Reformen ihres Vaters gefestigt und fortgeführt, aber der Wandel war doch Stückwerk geblieben und der Siebenjährige Krieg belastete die Staatsfinanzen. Die Kaiserin selbst hatte sich zunehmend von der alltäglichen Regierung zurückgezogen, sich mit der Orthodoxie und Zerstreuung beschäftigt. Aufmerksam blieb Elisabeth, wenn es um Fragen der Nachfolge und des eigenen Machterhalts ging. Nach einer Verschwörung 1743 gleich am Beginn ihrer Herrschaft wich die Furcht vor einem Sturz nicht mehr; dies mag auch die Vorwürfe erklären, mit denen sie das Thronfolgerpaar der Verschwörung im Siebenjährigen Krieg bezichtigt hatte.

Großfürst Peter und Großfürstin Katharina waren am Sterbebett der Kaiserin. Nur wenige Stunden nach ihrem Tod nahm Peter, nun Kaiser Peter III., die Eidesleistungen der Ränge des Hofes, der Administration und des Militärs entgegen, ohne dass es zu Zwischenfällen kam. Sein Erzieher Jacob von Stählin wollte dies später als Akzeptanz gedeutet wissen. Ekaterina Voroncova-Daškova,3 eine Schwester der Mätresse Peters, zugleich aber Vertraute Katharinas, meinte sich in ihren 1804 erschienenen Memoiren an versteinerte Minen bei den Soldaten des Semjonovskij- und des Izmailovskij-Garderegiments zu erinnern. Offenen Protest gab es jedoch keinen.4

Das Thronmanifest Peters III. aber konnte Katharina zu denken geben. Peter betonte, seiner verstorbenen Tante nacheifern zu wollen, vor allem aber »in allen Stücken in die Fußstapfen des weisen Monarchen, Unseres Großvaters Peter des Großen zu treten«.5 War diese Formel mehr, als die Konvention verlangte, da sich alle Herrscherinnen und Herrscher seit dessen Tod 1725 auf ihn bezogen hatten? Jedenfalls erwähnte Peter III. in seinem Manifest weder seine Frau Katharina noch den Sohn Paul.

Schon mehrfach ist angeklungen, dass Katharina ihren Mann in ihren Memoiren als einen infantilen, zur Trunksucht neigenden Menschen darstellte, der kein Interesse an ihr hatte und der sich ihr gegenüber abweisend verhielt. Ihre Erzählung über ihren Gatten sollte den neuen Kaiser regierungsunfähig erscheinen lassen. Schon die Zeitgenossen wunderten sich über Peter III., über seine Verletzung der Konvention, etwa über sein ungebührliches Verhalten bei der Überführung der Leiche seiner Tante, der verstorbenen Kaiserin, am 25. Januar 1762 in die Grablege der Romanovs in der Peter-und-Paul-Kathedrale in der gleichnamigen Festung: Durch Stoppen und schnelles Voraneilen ließ er den Trauerzug immer wieder auflaufen – denn der Kaiser gab die Geschwindigkeit der Prozession vor. Solche und andere Merkwürdigkeiten mochten je nach Standpunkt ungebührlich, närrisch oder parodistisch ausgelegt werden. In der jüngeren Geschichtsschreibung hat man Konventionsverletzungen Peters I. als eine bewusste Veränderung von Handlungsspielräumen interpretiert.6 Ob Peter III. ähnliches im Sinn hatte, ist schwer zu sagen; die Zeitgenossen deuteten seine Herrschaft, die nur wenige Monate andauerte, jedenfalls nicht so.

Die von ihm angeordneten Maßnahmen lassen aber keineswegs auf eine Regierungsunfähigkeit schließen. Die Herrschaft Peters III. war in ihrer Politik durchaus nicht so irrational, wie es Katharina ihren Korrespondenzpartnern und in ihrer Autobiografie späterhin hatte glauben machen wollen.7 Bei gleichzeitiger Heranziehung der Šuvalovs wie der Voroncovs vermochte er zu Beginn seiner Herrschaft durchaus verschiedene Hofparteien gegeneinander auszuspielen und sich eine eigene Position auszubauen, in der er sich freilich auf holsteinische Ratgeber stützte, die den russischen ruling families8 als fremd und homines novi galten.

Peter III. schaffte die Geheimkanzlei Elisabeths ab, aus der heraus die Kaiserin mögliche Gegner hatte verfolgen lassen. Sie hatte zwar in ihrer Regierungszeit kein Todesurteil vollstrecken lassen, was durchaus zu ihrem Nimbus unter den Untertanen beigetragen hatte. Dies hatte sie aber nicht daran gehindert, Gegner – etwa gestürzte Favoriten und Höflinge ihrer Vorgängerinnen – in die Verbannung zu schicken. Die Abschaffung der Geheimkanzlei schien den Höflingen Sicherheit zu bieten.

Mit dem Manifest vom 18. Februar 1762 verfügte der neue Kaiser etwas, worauf der Adel lange gewartet und gehofft hatte. Er schaffte die Dienstpflicht für den männlichen Adel ab, die Peter I. eingeführt hatte. Dies sollte ihm Unterstützung sichern, und die Risiken für den Staat waren gering. Zum einen hatten die Vorgängerinnen diese Dienstpflicht schon zeitlich begrenzt und zum anderen war die ›Verwestlichung des Adels‹ so vorangeschritten, dass er zumeist der Einkünfte aus dem Dienst bedurfte, um einen angemessenen Lebenswandel zu finanzieren.9 Zugleich setzte Peter das um, was in einer Gesetzkommission seiner Tante Elisabeth seit 1754 vorgedacht worden war.10 Ohne Dienst gab es keine Hofnähe und die war im Kampf um Macht und Einfluss elementar. Dieses vermeintliche Zugeständnis kostete also wenig, und Katharina sollte hieran nichts ändern.

Folgenreicher war sein Verhältnis zur orthodoxen Kirche. Nicht nur sein Verhalten bei Tod und Beerdigung seiner Tante galten als Verstöße gegen orthodoxe Konventionen, die Katharina tunlichst vermied. In ihren Memoiren unterstellte sie ihm Verrat am rechten Glauben, woraus die Unmöglichkeit seiner Herrschaft auf dem Thron folgte. Der Herrscher auf dem Thron Russlands musste orthodox sein. Jede Andeutung, der Herrscher wolle konvertieren, wie etwa in der Zeit der Smuta an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, als man dem ›falschen‹ Zar Dmitrij unterstellte, katholisch zu sein und das Moskauer Reich dem Katholizismus zuführen zu wollen, führte zu seinem Fall. Katharina nutzte nun die Gelegenheit, Peters Verhalten gegenüber der Religion in diese Richtung interpretiert zu sehen. Die Konsekration einer lutherischen Kirche in Oranienbaum wollte sie damals wie später als einen Anschlag auf die Ikonen und überhaupt die Orthodoxie verstanden wissen. Plante Peter seine Rekonversion?11

Dafür gibt es keine konkreten Hinweise, auch wenn er der Freimaurerei positiv gegenüberstand, den Katholizismus tolerierte und den Protestantismus förderte. Von religiöser Toleranz war im Zeitalter der Aufklärung auch unter Herrschern vielfach die Rede, wenngleich hierunter ganz unterschiedliche Dinge gefasst wurden. Friedrich der Große war hier erneut das Vorbild für Peter III. Auch Katharina folgte diesem Prinzip, freilich ohne die orthodoxe Geistlichkeit derart offensichtlich zu verprellen. Schlimmer noch als seine wohlwollende Haltung gegenüber den Lutheranern und Katholiken war in den Augen seiner Gegner ein Ukaz (Erlass), der die Altgläubigen betraf. Diese millionenstarke Gruppe war im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts durch die Kirchenreformen des Patriarchen Nikon entstanden und hatte zu einer Spaltung der Orthodoxie geführt, die über die bisher gekannten Sektenbildungen hinausging. Die Altgläubigen waren seitdem als Häretiker verfolgt worden, und auch Peter der Große, der sonst die verschiedenen Konfessionen und Religionen toleriert hatte, hatte sie gnadenlos verfolgen lassen.12 Am 29. Januar 1762 nun gab Peter III. bekannt, die Altgläubigen tolerieren zu wollen,13 und brachte damit den Klerus, an der Spitze Arsenij, den Metropoliten von Rostov, gegen sich auf.

Dieser Unmut steigerte sich, als der Kaiser im März anordnete, man solle den Klerus überwachen, ob er sich auch um die Schwachen und Bedürftigen kümmere. Der utilitaristische Blick auf die Funktion der Kirche, dem seines Großvaters nicht unähnlich, war ein Charakteristikum des Zeitalters, in dem die Aufklärung andernorts die geistlichen Fürstentümer und ihre Reichtümer oder die Jesuiten unter Beschuss nahm. Peter III. ging jedoch noch einen Schritt weiter. Diesen allgemeinen Antiklerikalismus aufgreifend wollte er die Geistlichkeit auf das verweisen, was ihr zukam: die geistliche Sorge um die Gläubigen – und dazu war materieller Besitz nicht nötig. Peter der Große hatte bereits ein Klosteramt gegründet, das die Einkünfte der Klöster hatte besteuern und damit für den Staat nutzbar machen sollen. Peter III. hatte nun vor, nach dem Kirchenland zu greifen und die Säkularisierung des Besitzes zu betreiben – Forderungen, die auch andernorts in Europa auf der Tagesordnung standen und die der Unterordnung der Kirche als synodale Behörde unter den Staat entsprach.14 Am 21. März 1762 befahl er die faktische Säkularisierung der Kirchenländereien durch ein neu eingerichtetes ›Ökonomiekollegium‹ und machte die Kirchenbauern damit zu Staatsbauern.15 Dass Katharina diesen Maßnahmen positiv gegenübergestanden haben muss, wird aus der Fortsetzung der Maßnahmen nach dem Sturz ihres Mannes deutlich.

Millionen von Kirchenbauern wurden zu Staatsbauern und dies war eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, denn was nun wegfiel, war der Frondienst: Staatsbauern leisteten nur einen Zins an den Staat. Damit rief Peter III. Erwartungshaltungen bei den Bauern hervor, die sich aus seinem Adelsmanifest ableiteten. Wenn, so die Erwartung vieler Gutsbauern im adligen Besitz, der Dienst für den Adel aufgehoben wurde, sei auch eine Dienstverpflichtung für die Bauern nicht mehr gegeben – die Folge musste eine Gleichstellung mit den Staatsbauern oder aber eine generelle Aufhebung der Leibeigenschaft sein. Wenn Peter III. solches im Sinn gehabt hatte, ist es nicht überliefert. Die Erwartungen aber waren geweckt und mit ihnen sollte Katharina sich in ihrer Herrschaft auseinanderzusetzen haben.

In der Außenpolitik entschied sich Peter III. dazu, den Krieg gegen Preußen zu beenden und aus der antipreußisch-englischen Koalition auszuscheiden. Später wurde Peter mit diesem Schritt ein großer Anteil am »Mirakel des Hauses Brandenburg« zugeschrieben, das Friedrich den Thron und Preußen als Großmacht gerettet habe. Gesandte, wie etwa der britische, berichteten, dass es bei Hofe eine Stimmung gegeben habe, der neue Kaiser habe die russischen Gewinne leichtfertig verspielt. Doch Peter handelte durchaus rationaler, als es seine Gegner und später Katharina darstellten. Der Krieg zehrte die russischen Staatsfinanzen aus, die russischen Truppen waren nicht mehr motiviert, nach fünf Jahren fern der Heimat weiterzukämpfen. Auch hatte Kanzler Michail Voroncov schon 1760 in einem Memorandum dargelegt, dass er der Auffassung sei, es habe keinen Zweck, sich in den neueroberten Gebieten, etwa in Ostpreußen, dauerhaft einzurichten. Sie würden im Friedensfalle aufgegeben werden müssen.16 So entsprach der Frieden, den Peter im April 1762 schließen ließ und der am 16. Juni in ein förmliches Bündnis mit Preußen mündete, einer Konsequenz im Handeln. Peter war bereits aus Anlass seiner Thronbesteigung von dem russischen Universalgelehrten Michail Lomonosov mit Oden geehrt worden, die der Konvention der Zeit in der Form zwar entsprachen, aber in der Sache durchaus den Kern trafen: Nach den Jahren des Krieges wünschte man sich Frieden und artikulierte dies auch.17

Kritisch gesehen wurde freilich die ostentative Verehrung für Friedrich den Großen, die Peter III. an den Tag legte und die den Eindruck der unselbstständigen Politik hinterließen. Als Peter III. dann anordnete, Uniformröcke einzuführen, die als ›preußisch‹ wahrgenommen wurden (obwohl sie denen, die durch Peter den Großen eingeführt worden waren, ähnelten), verspielte er weiteren Kredit. Als sich schließlich für die Eliten und auch die Soldaten der Eindruck ergab, Peter III. habe den Frieden mit dem verehrten Friedrich nur geschlossen, um die russischen Truppen in einen Krieg gegen das noch fernere Dänemark zu führen und damit die teilweise Besetzung seines Herzogtums Holstein zu beenden,18 konterkarierte er den Friedenswunsch der Gesellschaft. Auch wenn argumentiert worden ist, Peter habe sich in diesem Fall nicht anders verhalten als die englischen Könige aus dem Welfenhause in ihrer prohannoverschen Politik, war man in St. Petersburg doch enttäuscht.

Diese gemischte Einschätzung der ersten Monate der Herrschaft Peters III. erklärt seinen Sturz jedoch nicht allein. Er erklärt sich vielmehr aus der Entschlossenheit und dem kommunikativen Geschick Katharinas. Sie sah sich persönlich gefährdet und rechnete bestenfalls damit, Russland verlassen zu müssen und in relativer Bedeutungslosigkeit zu versinken. Schlimmstenfalls sah sie sich Verbannung und Inhaftierung gegenüber – das Schicksal des entthronten Ivans V. oder anderer hoher Würdenträger, wie Burckhard Christoph von Münnich, jenes Feldherrn und Staatsmanns der Herrschaft Annas, der in der Regierung Elisabeths nach Sibirien verbannt worden war und nun nach seiner Rückkehr einer der wenigen Parteigänger ihres Mannes Peter war,19 musste ihr vor Augen stehen.

Die Nichterwähnung in Peters Thronmanifest war ein erster Fingerzeig. Dass der Kaiser beabsichtigte, sich von ihr zu trennen, wurde offensichtlich, als er auf einem Bankett am 9. Juni aus Anlass der Ratifizierung des Friedensvertrages mit Preußen einen Toast auf die kaiserliche Familie ausbrachte und Katharina ostentativ aufforderte, ebenfalls in den Toast einzustimmen. Katharina, so erinnerte sie sich später, hatte dies für nicht angebracht gehalten, da sie ja Mitglied der kaiserlichen Familie gewesen sei. Peter beschimpfte sie daraufhin vor der gesamten Festversammlung. Ein subjektives Bedrohungsgefühl, folgt man ihren Erinnerungen, sei da gewesen: Seit Anfang Juni 1762 begannen Gerüchte zu kursieren, ihr Mann wolle sie ins Kloster schicken – wie Peter I. seinerzeit seine erste Gattin Evdokija Lopuchina.

Die Kaiserin war nicht untätig gewesen und hatte ihre Netzwerke weitergepflegt, zu den Hofparteien, den Spitzen der Streitkräfte, den Hierarchen der orthodoxen Kirche und vor allem auch zu den Garderegimentern, die die militärische Macht in der Hauptstadt darstellten. Sie konnten sie als Person schützen und gegebenenfalls Umsturzpläne ins Werk setzen. Diese Umsturzpläne existierten schon, bevor Peter III. die Nachfolge seiner Tante angetreten hatte. Bereits vor deren Tod war Katharina zu der Überzeugung gelangt, dass Peter III. sie à la longue durch seine Mätresse Elisaveta Voroncova ersetzen würde, und sein Verhalten legte nahe, dass dieser Tag für Katharina bald kommen konnte.

Der französische Gesandte Breteuil berichtete, Peter habe seine Frau »mit der ausgezeichnetsten Verachtung« behandelt, während sie noch immer »mit auffallender Genauigkeit […] die Feste, Fasten, Speiseregeln und dergleichen, alles Dinge, die der Kaiser leichthin behandelt, obwohl sie in Russland nicht gleichgültig sind«, beachtet habe.20

In dieser für Katharina kritischen Zeit konkretisierten sie und ihre Getreuen ihre Umsturzpläne.21 Diese mussten in Gang gesetzt werden, als einer der eingeweihten Gardeoffiziere, ein Leutnant Passek, am 27. Juni 1762 unter dem Vorwurf der Verschwörung verhaftet wurde. Peter III. hielt sich in der von ihm bevorzugten Sommerresidenz Oranienbaum auf, während Katharina selbst in Peterhof am Finnischen Meerbusen residierte. Aleksej Orlov, der jüngere Bruder ihres Favoriten Grigorij, ritt in der Nacht aus der Hauptstadt nach Peterhof und bewog Katharina, unverzüglich in die Hauptstadt zu kommen, um ihren Mann zu entthronen und sich zur Kaiserin ausrufen zu lassen: »Es ist Zeit aufzustehen, alles ist bereit, Euch auszurufen.«22

Der Plan, wiewohl hektisch umgesetzt, ging auf. Am frühen Morgen erreichte Katharina die Stadtgrenze St. Petersburgs, wo sie von begeisterten Gardesoldaten zu Fuß und zu Pferd empfangen wurde. Peter III., der am Abend zuvor im Kreis seiner Getreuen, unter ihnen Münnich und Jakob von Stählin, getafelt hatte und auch seine Frau einbestellen ließ, hatte Soldaten nach Peterhof geschickt, um Katharina holen und womöglich verhaften zu lassen.

Katharina war aber bereits in der Hauptstadt.23 Die Gardesoldaten hatten sich der von Peter III. verordneten Uniformen entledigt und trugen ihre alten Röcke. Katharina selbst ritt in der Uniform eines Obersten des Preobraženskij Garderegiments in die Stadt ein und folgte damit fast schon der Tradition: Auch Elisabeth hatte sich in Oberstuniform an der Spitze der Garden auf den Thron geputscht. Es war gewollte symbolische Kommunikation und die Betonung einer unterbrochenen Kontinuität, dass sich auch Katharina in Gardeuniform in einem Staatsgemälde von Vigilius Eriksen malen ließ – wie die Kaiserin Elisabeth.


Abb. 3: Vigilius Eriksen (1722–1782), Katharina II. in Gardeuniform zu Pferde (1771).

Die Soldaten des Preobraženskij, Izmailovskij und Semenovskij Garderegiments geleiteten sie zur Kirche der Heiligen Gottesmutter von Kazan, deren Nachfolgebau heute am Nevskij Prospekt steht. Das Netzwerken hatte funktioniert. Der Erzbischof von Novgorod hatte sich eingefunden, um seinen Segen zu geben. Zahlreiche weltliche Würdenträger stimmten ein, als Katharina zur Kaiserin des Russischen Reiches und ihr eilig herbeigebrachter Sohn Paul zum Thronfolger ausgerufen wurde. Sodann zog Katharina weiter zum Winterpalast, wo Senat und Synod, also die Vertreter der höchsten weltlichen und der höchsten geistlichen Behörde den Treueeid ablegten. Danach zeigten sich Katharina und ihr Sohn Paul dem auf dem Schlossplatz zusammengekommenen Volk.

Schließlich wurde den Untertanen des Russischen Reiches folgendes Manifest vom 28. Juni 1762 zunächst in den Kirchen und öffentlichen Plätzen der Hauptstadt St. Petersburgs bekanntgegeben:

»Wir von Gottes Gnaden Katharina die Zweite, Kaiserin und Selbstherrscherin aller Reußen etc. Allen wahren Söhnen Rußlands hat die große Gefahr in die Augen geleuchtet, womit das Russische Reich bedroht worden. Zuerst ist der Grund unserer orthodoxen Griechischen Religion erschüttert worden, und ihre Satzungen sind in einem gänzlichen Umsturze nahe gewesen, so daß man auf das äußerste hat befürchten müssen, den von alters her in Rußland herrschenden echten Glauben verändert und eine fremde Religion eingeführt zu sehen. Zweitens ist die Staatsehre von Rußland, die mit dem Verlust so vielen Blutes durch seine Siege zur höchsten Stufe gebracht worden war, durch einen neuerlich geschlossenen Frieden mit unserem ärgsten Feinde schon wirklich unter die Füße getreten und zugleich die innere Verfassung, auf welche das Wohl und die Grundfeste unseres Vaterlandes beruhet, völlig über den Haufen geworfen worden. Durch diese alle unsere getreuen Untertanen vorgestandene Gefahr sind wir endlich durchdrungen worden, zu Gott und zu seiner Gerechtigkeit Unsere Zuflucht zu nehmen, und da wir das offenbare und ungeheuchelte Verlangen aller Unserer getreuen Untertanen wahrgenommen, so haben wir unseren souveränen Kaiserlichen Thron bestiegen und darüber von allen Unseren getreuen Untertanen die Eidesleistung empfangen.«24

Dieses länger vorbereitete Manifest, das Katharina mutmaßlich zusammen mit dem späteren Sekretär Grigorij Teplov verfasst hatte,25 spielte geschickt mit all jenen Vorwürfen, die Peter III. gemacht wurden, und zeigte als einzigen Ausweg die Herrschaftsergreifung der Kaiserin Katharina. Weitere Manifeste, die diesen Grundtenor variieren sollten, folgten und zielten darauf ab, Katharinas Vorgehen im Inneren Russlands, aber auch vor den europäischen Mächten zu begründen.

In dieser Situation der Palastrevolution erstaunt die Reaktion Peters III. Er war offenbar nicht bereit, um seinen Thron zu kämpfen. Auf Anraten seiner wenigen verbliebenen Unterstützer, etwa des aus der Verbannung zurückgekehrten Münnich, ließ er nach Kronstadt, der Inselfestung und Marinebasis vor den Toren St. Petersburgs, Schiffe schicken, in einem letzten Versuch, die Flotte auf seine Seite zu bringen und vor der Neva-Mündung aufziehen zu lassen. Die Flotte in Kronstadt war aber ebenfalls bereits zu Katharina übergelaufen und Peter III. ließ sich ohne weitere Gegenmaßnahmen von Aleksej Orlov gefangen nehmen. In Briefen bat er seine Frau, ihn nach Holstein ausreisen zu lassen. Dies verweigerte sie ihm, da sie fürchten musste, Peter III. würde als abgedankter Kaiser und Herzog von Holstein schon als Person die Illegitimität ihres Handelns verkörpern. Peter entsagte offensichtlich ohne größeren Widerstand dem Thron in einem Manifest, das Katharina schnell verbreiten ließ:

»Während meiner kurzen Herrschaft in Russland hat mich die Erfahrung gelehrt, dass meine Fähigkeiten der Aufgabe nicht entsprachen. Dass ich nicht geeignet war, als Autokrat zu regieren, auch von jeder anderen Position hätte ich den russischen Staat nicht regieren können. Und so wurde mir sogar bewusst, dass Veränderungen, die ich vorgenommen hatte, den Staat in den kompletten Ruin und ewige Verdammnis hätten führen können.«26

Der entthronte Kaiser wurde in Ropscha, einem kleineren Landsitz in der Nähe von Peterhof interniert und von Aleksej Orlov bewacht. Von dort aus erreichten Katharina, die wohl plante, ihn wie Ivan VI. in der Festung Schlüsselburg zu inhaftieren, am 6. Juli drei Briefe von Aleksej Orlov. In ihnen schilderte dieser zerknirscht, dass es zu einem Handgemenge gekommen sei, in dem Peter III. getötet worden sei. Er und seine Mitstreiter würden die Bestrafung der Kaiserin erwarten. In jüngster Zeit ist einmal mehr der Inhalt und überhaupt die Echtheit jenes Briefes, in dem dieses Handgemenge explizit geschildert wird, bestritten worden. In der Tat liegt er nur in einer Kopie Fedor Rostopčins vom Beginn des 19. Jahrhunderts vor. Die Gerüchte um einen natürlichen Tod durch eine Herzinsuffizienz infolge eines maßlosen Lebenswandels konkurrieren somit bis heute mit der Annahme eines unabsichtlichen Totschlags oder Mordes.27

Katharina selbst konnte zwar kaum mit einem Mord in Verbindung gebracht werden wollen, der Tod ihres Gatten kam ihr aber gelegen und sie bestrafte Aleksej Orlov nicht. Im Gegenteil, sie zeigte sich gegenüber ihren Parteigängern großzügig. Die Brüder Orlov, aber auch Nikita Panin und Ekaterina Daškova, die sich rühmte, den Umsturz organisiert zu haben, erhielten üppige Geldgeschenke und Pensionen. Weitere Offiziere der Garden wurden ebenfalls beschenkt, unter ihnen der junge Leutnant Grigorij Potemkin, der später im Leben der Kaiserin eine bedeutende Rolle spielen sollte.28

Hatte Katharina den Mord an ihrem Gatten selbst befohlen? Der Verdacht wurde erst nach ihrem Tod öffentlich geäußert, und bis heute ist die Frage ungeklärt. Gegenüber Stanisław August Poniatowski jedenfalls zeigte sich Katharina überrascht von Peters Tod, und als sie selbst starb, hatte sie den Brief Aleksej Orlovs so aufbewahrt, dass er von ihrem Sohn Paul unschwer gefunden werden konnte. Peter III. wurde im Aleksandr-Nevskij-Kloster in St. Petersburg beigesetzt, einem Kloster von herausragender Bedeutung, aber nicht in der Peter-und-Paul-Kathedrale in der Peter-und-Paul-Festung, in der alle Kaiser und Kaiserinnen seit Peter I. ruhten. Katharina blieb der Beisetzung fern.

Zeitgenössisch wurden eher Mutmaßungen darüber angestellt, ob Katharina eine Marionette von Favoriten und Hofparteien werden würde. Die neue Kaiserin zeigte jedoch sofort an, dass sie selbst regieren wollte und ihre Herrschaft weder durch einen institutionalisierten Rat noch den Senat begrenzen lassen wollte. Einer Regentschaftsregierung für ihren Sohn Paul, wie von seinem Erzieher Nikita Panin und anderen favorisiert, hatte sie ohnehin schon zuvor eine Absage erteilt.29

Für Katharina war, nachdem sie ihren Ehemann Peter III. vom Thron gestoßen hatte, eine zügige Krönung für ihre Machtposition von besonderer Bedeutung. Peter hatte noch nicht einmal mit den Planungen begonnen, obwohl sein Vorbild Friedrich II. dringend dazu geraten hatte, um seine Position zu festigen. Katharina war sich des symbolischen Wertes dieser Zeremonie sehr wohl bewusst und wählte einen Mittelweg zwischen Prachtentfaltung und Bescheidenheitsgestus. Einerseits sollten die geplanten Feierlichkeiten bei Weitem nicht so aufwendig gestaltet werden, wie die Krönung der Kaiserin Elisabeth, die alles bis zu diesem Zeitpunkt in Russland Gekannte in den Schatten gestellt hatte.30 Anderseits dachte Katharina auch in den Kategorien von Geltung und Prestige. Ihre Legitimität sollte den Untertanen und den vertretenen europäischen Höfen über das Zeremoniell kommuniziert werden. So wurden 50.000 Goldrubel für die Herstellung der Krone bereitgestellt. Aus einem Pfund Gold, 20 Pfund Silber, vier Hermelinfellen und purpurnen Stoffen wurde der Krönungsmantel gefertigt. In den Schatzkammern forschte man nach dem Reichsapfel; vergeblich, er musste neu gefertigt werden. Schließlich wies Katharina II. aus ihrer eigenen Schatulle 600.000 Rubel an, die während der Krönungsfeierlichkeiten altem Brauch folgend in die Menge geworfen werden sollten. Zwar sollte, so die Kaiserin, die Krönung nicht nur in Moskau, sondern in ganz Russland für Aufsehen sorgen, anderseits wollte sie den Eindruck der Prunksucht vermeiden, um die Erwartung einer Regierung zum Wohl des Volkes zu verstärken. Dies entsprach vor allem Katharinas prekärer Situation als Usurpatorin. Ihr ging es darum, Prachtentfaltung mit der Symbolik der Aufklärung und der Tradition zusammenzuführen, wie sie vor allem der Krönungsort symbolisierte.31

Im September 1762 erfolgte die Krönung mit all jenen Elementen, die die Tradition gebot und die sich nur geringfügig variieren ließen. Auch im Zeitalter der Aufklärung waren die tiefe sakrale Bedeutung und die rituelle Übertragung der Insignien, die Erteilung des göttlichen Segens an die Herrscherin durch die Salbung und das Sakrament des Abendmahls während der feierlichen Liturgie Kern der Herrschaftsübertragung und der Legitimation.

An jenem Sonntagmorgen kündigten Pauken und Trompeten den Beginn der Zeremonie an.32 Das Militär war auf dem Kathedralenplatz des Kremls angetreten. Schaulustige füllten nicht nur den Platz und die Tribünen, sondern auch die Dächer der Häuser und Klöster der Kremlanlage. Katharina erschien am Tor des alten Kremlpalastes und schritt unter Glockengeläut und Ehrensalven die Paradetreppe herab. In der Vorhalle der Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale erwartete sie die hohe Geistlichkeit des Reiches. Unter dem Gesang des Psalmes »Gnade und Gericht, singe ich Dir, oh Herr« betrat sie den Innenraum der Kathedrale, »verrichtete vor den Ikonen ihre Andacht« und stellte sich auf den erhöhten Podest, auf dem der edelsteinverzierte ›persische Thron‹ aufgestellt worden war, und verlas das Glaubensbekenntnis.

Die Krone, die ihr auf einem goldenen Kissen vom Novgoroder Erzbischof gebracht wurde, setzte sie sich selbst aufs Haupt. Im Moment der Krönung schossen die Kanonen auf dem Roten Platz Ehrensalut. Katharina verlas ein Dankgebet und begab sich danach in vollem Ornat aus der Krönungskathedrale in die übrigen Kathedralen des Kremlplatzes. Auf ihrem Umzug über den Platz wurden die bereitgestellten 600.000 Goldrubel in die jubelnde Menge geworfen.


Abb. 4: Stefano Torelli, Krönung Katharinas der Großen in der Himmelfahrtskathedrale des Moskauer Kreml (1762).

Damit war der Krönungstag allerdings keineswegs beendet. Im Audienzsaal zeichnete sie mehrere Personen mit Orden und Ehrenzeichen aus, die sich beim Umsturz und der Ausrichtung der Krönungsfeierlichkeiten große Verdienste erworben hatten, schließlich erfolgte ein Mittagsmahl im Facettenpalast. Allein und auf dem Thron sitzend eröffnete sie das Essen, während die hohen Würdenträger des Reiches ihr stehend Ehre bezeugten und erst auf ihr Geheiß zu tafeln begannen. Der Tag der Krönung wurde beschlossen mit einer festlichen Illumination des Kremls, insbesondere des Glockenturms ›Ivan Velikij‹. Gegen Mitternacht zeigte sich die gekrönte Kaiserin noch einmal auf der Paradetreppe des Kremlpalastes, um im Lichterglanz die Huldigungen des noch immer versammelten Volkes entgegenzunehmen.

In der folgenden Woche reihte sich eine Festlichkeit an die andere: Am Montag wurden die weniger bedeutenden Höflinge im Facettenpalast empfangen, das diplomatische Korps brachte seine Glückwünsche dar und die Kaiserin demonstrierte ihre Volkstümlichkeit, indem sie auf dem Kathedralenplatz ein Volksfest ausrichten ließ. Ochsen drehten sich am Spieß, roter und weißer Wein sprudelte aus eigens errichteten Fontänen und mehrfach zeigte sich die Kaiserin dem Volk. Am Dienstag folgte der Empfang des russischen und deutschbaltischen Adels sowie der Gardeoffiziere, ihrer loyalen Parteigänger.

Am Donnerstag empfing sie Deputierte der 1755 gegründeten Moskauer Universität, welche sie mit panegyrischen Oden bereits zu diesem Zeitpunkt als weiseste Mutter des Vaterlandes verherrlichten. Schmeichelei und die Formulierung von Erwartungen an ihre Herrschaft gingen hier Hand in Hand. Abordnungen der Kaufmannschaft schlossen sich an.

Am Freitag schließlich waren Vertreter der Armenier, Tataren, Kalmücken, der Kosaken von der Wolga, vom Don und vom Jaik geladen, um ihr zu huldigen. Beinahe alle gesellschaftlichen Schichten, alle Ethnien des russischen Vielvölkerreiches machten der gekrönten Kaiserin ihre Aufwartung im Facettenpalast – nur den städtischen Unterschichten und den Bauern war es nicht vergönnt, zur Kaiserin vorgelassen zu werden. Sie mussten mit dem Anblick Katharinas auf der Paradetreppe vorliebnehmen. Nach weiteren Bällen und Abendessen folgte genau eine Woche nach dem Krönungssonntag ein Abschlussfeuerwerk.

Katharinas Krönungsfeierlichkeiten können als beispielhaft für den Ausgleich von Tradition und Neuerung sowie eine perfekte Nutzung des Kremls als Bühne für politische Kommunikation gelten. Und die Kaiserin blieb zunächst in Moskau und Umgebung. Weitere Bälle und Lustbarkeiten folgten, aber auch eine Wallfahrt ins Sergej-Troice-Kloster, das seit dem 14. Jahrhundert eines der bedeutendsten Klöster der Orthodoxie war.

Katharina knüpfte unmittelbar anschließend an die Tradition der Herrscherreise an, die auch die Kaiserin Elisabeth unternommen hatte. Peter I., auf den sich beide stets bezogen, war fast permanent in seinem Reich unterwegs gewesen, freilich oft auch, um von einem Kriegsschauplatz zum anderen zu reisen. Reisen, auch religiös motivierte wie Wallfahrten, dienten nach Peter I. ausschließlich der Repräsentation und vor allem der symbolischen Kommunikation mit den Untertanen durch Herrschernähe. So hatte Elisabeth den Sommer des Jahres 1744 in der Ukraine verbracht. In Kiev hatte sie das Höhlenkloster aufgesucht, das für sie als tiefreligiöse Frau Ausgang der Orthodoxie in der mittelalterlichen Rus’ war. Katharina und ihr Mann hatten sie begleiten müssen. Im Sommer des nächsten Jahres hatte sie sich nach Reval begeben. Es war das erste Mal seit Peter dem Großen, dass sich eine russische Herrscherin in die neuerworbenen Ostseeprovinzen begab.

Katharina setzte diese Tradition der Reisen insbesondere zu Beginn ihrer Herrschaft fort und schuf somit Vertrauen in ihre Herrschaft durch Anwesenheit. 1762/63 suchte sie die alten Fürstenstädte Jaroslavl und Rostov auf und erwies damit der mittelalterlichen Rus’ ihre Reverenz, deren Traditionen sie in ihren späteren Schriften zur russischen Geschichte als protonationalen Kern herauszuarbeiten trachtete.33

1764 reiste sie nun als Kaiserin ins Baltikum, das sie bereits kannte. Die baltischen Provinzen Livland und Estland waren im Großen Nordischen Krieg, den Peter I. gegen Schweden geführt und gewonnen hatte, an das Russische Imperium gekommen. Im Frieden von Nystadt 1721 war die Sozial- und Gesellschaftsverfassung der baltischen Provinzen nicht angetastet worden. Ganz im Sinne einer frühneuzeitlichen monarchia mixta handelte es sich um eine Angliederung, in der sowohl die baltischen Ritterschaften Livlands und Estlands als auch die Städte den Fortbestand ihrer Privilegien und Rechte zugesichert bekommen hatten. Dies galt auch für Konfession und Religion. Insgesamt waren also die baltischen Provinzen grundsätzlich anders verfasst als die übrigen Territorien des Imperiums.

Katharina stand deutlich vor Augen, dass sie mit den baltischen Provinzen über Territorien herrschte, die sich ausgezeichnet als Experimentierfeld für Reformen eignen würden. Gleichzeitig sah sie, dass es sich beim Baltikum um ein »Reservoir tüchtiger Menschen« handelte,34 auf deren Mithilfe sie bei der Regierung und Reform Russlands setzte. Ihre Reise hatte also einen doppelten Zweck: Zum einen wollte sie diese Provinzen an der nordwestlichen Peripherie ihres Reiches besser kennenlernen, zum anderen wollte sie mit einer solchen Reise natürlich auch imperiale Herrschaft demonstrieren und die für sie so wichtigen Untertanengruppen einbinden.

Katharina war bereits zuvor zweimal im Baltikum gewesen: Das erste Mal hatte sie die baltischen Provinzen durchquert, als sie 1744 nach Russland gereist war. Das zweite Mal hatte sie die Kaiserin Elisabeth 1746 gemeinsam mit ihren Mann Peter begleitet. Nun kam Katharina als Herrscherin.35

Die vierwöchige Reise begann in St. Petersburg am 20. Juni 1764 und führte die Kaiserin zunächst nach Narva. Katharina nahm die gleiche Route wie 1746 mit der Kaiserin Elisabeth. Sie machte auf dem Weg Station auf den Landgütern oder in Poststationen, jeweils wurde sie von ansässigen Adligen empfangen, bevor sie am 24. Juni in Katharinental eintraf und sich am nächsten Tag per Schiff nach Reval begab. Vier Tage voller Festivitäten verbrachte Katharina in der Hauptstadt Estlands. Dann ging es weiter nach Baltischport, einen Ort, den Katharina umbenannt hatte; am 2. Juli folgte der Aufbruch nach Livland wieder über Adelsgüter, bis sie schließlich am 3. Juli in Pernau anlangte. In Riga, der Hauptstadt Livlands, traf sie am 9. Juli ein. Hier wurde sie mit Glanz und allem Aufwand empfangen. Aus den Brunnen vor dem Rigaer Rathaus sprudelte Wein statt Wasser. Stände und Bürger bemühten sich, Provinz und Stadt im besten Zustand zu präsentieren, Renovierungen von Infrastruktur und Stadtbild waren erfolgt. Von Riga aus besuchte die Herrscherin Mitau, und bevor sie dann die Rückreise aus Riga antrat, fuhr sie in Richtung Dorpat. Schließlich verließ sie am 20. Juli Livland und wurde von den Gouverneuren der Provinzen bis nach Narva begleitet, von wo aus sie mit dem Schiff nach St. Petersburg zurückfuhr, wo sie am 25. Juli 1764 eintraf.

Die vierwöchige Reise fiel just in jene Zeit, in der es zum tragischen Tod Ivans VI. in der Festung Schlüsselburg kam.36 Ivan VI. war im November 1741 als Kleinkind von Elisabeth vom Thron gestoßen worden. Sicherlich war der Häftling keine große Gefahr mehr für Katharina; aber er mochte doch als Projektionsfläche einer Opposition dienen, die nicht in die nun regierenden Netzwerke mit eingebunden war. Seine Familie, die sogenannten Braunschweiger, waren von ihm getrennt in Cholmogory interniert worden. Ivan VI. wurde 1756 nach Schlüsselburg verbracht, isoliert und stark bewacht. Konnte der entthronte Zar daher immer noch als Personifizierung alternativer Projektionen der Gegner Katharinas (und Pauls) betrachtet werden? Dieser Ivan VI., der seine Familie nie wiedersehen sollte,37 wurde am Ort seiner Gefangenschaft bei einem angeblichen Fluchtversuch ermordet, und es war sicher nicht ungünstig, dass sich Katharina in relativ großer Entfernung von ihm befand. Katharina ließ dem Mörder einen Prozess machen, der zu dessen Hinrichtung führte. Damit war nach ihrem Mann nicht nur ein zweiter potenzieller Rivale um den Thron umgekommen, sondern auch derjenige, der Wissen um die Ereignisse in Schlüsselburg hatte. Katharina hatte mit der Praxis der Kaiserin Elisabeth, keine Todesurteile zu exekutieren, gebrochen.38

Ivans Geschwister wurden zusammen mit ihren Eltern gefangen gehalten, denn nach der Thronfolgeregelung Anna Ivanovnas galten auch sie als mögliche Thronanwärter und deshalb als potenzielle Gefährdung der jeweils regierenden Zaren und Zarinnen, wenn auch in der Öffentlichkeit nichts über ihre Existenz bekannt gewesen sein dürfte. Sie wuchsen unter ständiger Bewachung auf. Erst 1780 entließ Katharina II. die Geschwister zu ihrer Tante, der Königinwitwe von Dänemark, Juliane Marie von Braunschweig, wo sie in Jütland zurückgezogen lebten.

1764 war Katharina vom Ort des Mordes weit weg und damit beschäftigt, ihre Herrschaft zu inszenieren. Herrscherreisen, wie die in die baltischen Provinzen, als Mittel politischer Repräsentation und Zurschaustellung der Macht gegenüber den eigenen Untertanen, aber auch einer europäischen Öffentlichkeit, nutzte Katharina intensiv.

Weitere sollten folgen, etwa 1767 ins Wolga-Gebiet nach Kazan, das gesellschaftlich und religiös-konfessionell einen Gegenentwurf zu den baltischen Provinzen darstellte und wo sie eine Medresse und Moschee stiftete, die im Stil des Klassizismus errichtet wurden.39

Alle russischen Herrscher begaben sich zur Krönung nach Moskau und verließen zu Wallfahrten die Hauptstädte – dass man aber das Reich so ausgedehnt bereiste, war ungewöhnlich. Höhepunkt der Reisetätigkeit Katharinas war sicher ihre berühmte Taurische Reise 1787 auf die Krim. Diese Reisen folgten jeweils einer strengen Inszenierung. Die Reise in die baltischen Provinzen ist bereits im 19. Jahrhundert von Julius von Eckardt beschrieben worden.40 Zu ihr gehörte, dass Katharina von 56 Equipagen begleitet wurde und auf den Landgütern wie auch in den Städten jeweils von den lokalen Adligen sowie Abgeordneten der Bauern begrüßt wurde. In ihrem Gefolge reisten Grigorij und Alexej Orlov, die Fürsten Naryškin und Buturlin und weitere hochrangige Höflinge. Auf Reisen wurde weiter regiert und Politik gestaltet. Im Baltikum wurde sie von Generalgouverneur George Browne empfangen. Kurz vor Riga kam ihr Peter Biron, der Erbprinz von Kurland entgegengereist. Im Rigaer Schloss selbst machte ihr der 77-jährige Herzog Ernst Johann Biron von Kurland mit seiner Gemahlin seine Aufwartung. Die Kaiserin hatte dafür gesorgt, dass er wieder in seine Herzogsrechte eingesetzt worden war, und hatte mit diesem Schritt deutlich gemacht, dass sie Kurland als ihr ureigenstes Einflussgebiet ansah, obwohl die formale Lehensabhängigkeit zu Polen noch bestand.

Katharina empfing Abordnungen der Stände, sie nahm Huldigungsreden und Huldigungsgedichte entgegen; Ansprachen und das Überreichen von Geschenken wollten kein Ende nehmen. Sie ließ sich von den adligen Ritterschaften und der städtischen Elite Bälle und Abendgesellschaften ausrichten, sprach aber auch in kleinerem Kreis mit Vertretern der Bürgerschaft und ausgewählten Personen, von denen sie sich bei ihren Reformen Rat und Hilfe versprach. Dabei machte sie deutlich, dass die ständische Verfassung und vor allem die ritterschaftliche Selbstbestimmung ein ›Verfassungsrelikt‹ sei.41 In Reval hatte sie für Aufsehen gesorgt, als sie eine Rede des deutschbaltischen Adels in russischer Sprache beantwortete und damit symbolisch verdeutlichte, dass sie das Baltikum als eine Region wie jede andere im Russischen Reich zu betrachten gedachte. In diesen Kontext gehört auch der Besuch orthodoxer Gottesdienste auf ihrer Reise, um den ansässigen Untertanen zu zeigen, dass sich die Kaiserin selbst als orthodoxe Herrscherin begriff und auch in einer protestantischen Umgebung hiervon nicht abzuweichen gedachte.42

Katharinas Reise war in ihrer politischen Inszenierung nicht erfolglos. Sie hatte ihren Untertanen vor Augen geführt, dass sie das Baltikum in das Russische Reich zu integrieren trachtete, sollte doch aus der monarchia mixta ein Territorialstaat werden. Sie hatte zugleich die wichtigsten Akteure, auf deren Zusammenarbeit sie setzte, von ihrer Politik zu überzeugen versucht. Gleichzeitig hatte sie mit ihren Reden gegenüber den baltischen Untertanen etwas von jenem Programm preisgegeben, das sie in der Folgezeit im Baltikum wie im ganzen Reich zur Diskussion zu stellen, freilich auch durchzusetzen gedachte.

Katharina hatte schon vor ihrer Reise die Überzeugung gewonnen, dass man diese Provinzen mit sanften Mitteln dazu bringen müsse, russisch zu werden.43 Ihre Reise bildete hierzu den Auftakt. Die Kaiserin machte sich mit Energie daran, diesem Ziel näherzukommen, und nahm dabei auch langfristige Planungen in den Blick. Politische Autonomie konnte in einem autokratischen Staat kaum geduldet werden, das Baltikum wurde hier von Katharina nicht anders betrachtet als beispielsweise die Ukraine oder Territorien, die durch die Teilungen Polens bzw. die Südexpansion des Reiches erst noch gewonnen werden sollten.

Im Ostseeraum ging es ihr darum, die von den Ritterschaften korporativ ausgeübten Machtbefugnisse auch vor dem Hintergrund der Rezeption der Aufklärung zu brechen. Aufgeklärte Strömungen aus der protestantischen Geistlichkeit und dem städtischen Bürgertum sekundierten ihr dahingehend, dass auch sie die Privilegien der Ritterschaft für überkommen erklärten.44 Aber auch innerhalb der Ritterschaft fanden sich unterstützende Stimmen für ihre Reformvorhaben. Insofern konnte Katharina auch hier auf eine gewisse Unterstützung hoffen.45 Die Selbstverwaltung der Städte mit ihren partizipativen Möglichkeiten der Untertanenschaft betrachtete sie hingegen mit einem gewissen Interesse im Hinblick auf eigene Reformvorhaben im Bereich des Städtewesens.

Katharina hatte 1764 auch das formal unabhängige Kurland besucht. Die Herzogsfamilie hatte ihr in Riga ihre Aufwartung gemacht, und sie selbst reiste für einen kurzen Gegenbesuch nach Mitau. Faktisch war dieses Kurland, das durch die Säkularisierung des Ordenszweiges durch den letzten Ordensmeister Gotthard Kettler 1561 entstanden war und eine glanzvolle Geschichte durchlebt hatte, im 18. Jahrhundert abhängig von der russischen Politik. Und Katharina sollte es im Fahrwasser der russischen Politik halten, auch wenn formal der König von Polen der Lehnsherr der kurländischen Herzöge war.46 Ihre Rückreise über Mitau mochte den kurländischen Herzögen verdeutlicht haben, dass die Tage dieses kleinen Staates gezählt waren, auch wenn es bis zur formalen Inkorporation noch etwa drei Jahrzehnte dauern sollte.

Katharina die Große

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