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Russland um die Mitte des 18. Jahrhunderts

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Im Januar 1744 reiste Sophie Friederike, die spätere Katharina II., nach Russland, wohin sie Kaiserin Elisabeth, die Tochter Peters des Großen eingeladen hatte,1 um den ausersehenen Thronfolger Karl Peter Ulrich, ihren Neffen, zu heiraten. Diese Reise von Zerbst nach Russland führte sie über Berlin, wo sie Friedrich II. traf, nach Reval (Tallinn), und von St. Petersburg nach Moskau, wo sie im Februar 1744 eintraf. Ihre ersten Eindrücke von Russland hatte die Zerbster Prinzessin also reisend erfahren: Sie lernte das Baltikum kennen, St. Petersburg, die wachsende Kapitale Peters I. an der Neva, den beschwerlichen Weg nach Moskau, der sich freilich im tiefen Winter mit dem Schlitten vergleichsweise komfortabel und schnell zurücklegen ließ. Alles war um vieles größer und weiträumiger als das, was sie kannte – Stettin, Zerbst, Berlin. Der Raum, so reflektierte Katharina als Großfürstin, aber auch als Herrscherin immer wieder, war für jede Regierung des Russischen Imperiums eine Herausforderung ersten Ranges.

Dieses Reich erstreckte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts von der Ostsee bis an den Pazifik. Peter I. hatte Livland, Estland und Ingermanland im Großen Nordischen Krieg (1700–1721) von Schweden gewonnen. St. Petersburg, 1703 gegründet, hatte dem bis dahin führenden Hafen am Weißen Meer, Archangel’sk, schon in den ersten Jahren seiner Existenz den Rang abgelaufen. Im Osten des Reiches war die Eroberung Sibiriens bereits im 17. Jahrhundert erfolgt: 1639 erreichte man bereits das Ochotskische Meer, 1689 und 1727 wurden mit den Verträgen von Nerčinsk bzw. Kjachta erste Verträge mit der Ching-Dynastie Chinas geschlossen. Scharfgezogene Grenzen zum Mandschureich bedeutete dies freilich nicht.2 Sibirien und der Ferne Osten waren extrem dünn besiedelt. In Westsibirien etwa gab es breite Übergangszonen zu Ethnien, die nomadisch lebten, Kasachen, Kirgisen und andere. Auch im Süden des europäischen Russlands existierten keine festen Grenzen. Während man an den Mündungen von Wolga und Don mit Astrachan und Azov Festungen hatte, war das ›wilde Feld‹ (dikoe pole) zu den Krimtataren und mit dem autonomen Kosakenhetmanat der sogenannten linksufrigen Ukraine von einer ebensolchen breiten Übergangszone geprägt.3

Dieses Reich war das größte Flächenland der Welt, und seine Herrscherinnen und Herrscher kannten es nur wenig: Die bedeutenden Expeditionen nach Sibirien, die noch Peter der Große veranlasste, dienten etwa dazu, Kenntnis über das Reich, seine Menschen und seine naturräumliche Gestalt zu erhalten. Zwischen 1720 und 1727 bereiste der deutsche Mediziner Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) West- und Zentralsibirien. Die Erste und Zweite Kamčatkaexpedition (1728–1730 bzw. 1733–1743) waren Forschungs- und Entdeckungsreisen unter der Leitung des Marineoffiziers Vitus Bering, deren Teilnehmer Sibirien erforschten, die nördlichen Küsten des Russischen Reiches vermaßen und Seewege vom ostsibirischen Ochotsk nach Nordamerika und Japan erkundeten.4 Die Informationen, die auf diesen und anderen Expeditionen über die Zahl und Lebensweise der Völker gewonnen wurden, führten zu etwas genaueren Vorstellungen, wie dieses Reich sich zusammensetzte, funktionierte und wie es zu entwickeln sei.

Russland war ein multiethnisches und multireligiöses Imperium. Nach in ihrer Zuverlässigkeit umstrittenen Schätzungen lebten 1719 etwa 16 Millionen Menschen, um 1750 aber schon etwa 25 Millionen und am Ende der Herrschaft knapp 38 Millionen Menschen im Russischen Reich:5 Viel als absolute Summe, wenig mit Blick auf die Fläche. In Teilen war Russland eine monarchia mixta, ein Herrschaftsgebiet mit durchaus unterschiedlichen Rechtsverhältnissen und jeweils verschieden verfassten Untertanenschaften. Der gemeinsame Bezug war die Autokratie, die das bindende Element darstellte.6 Davon konnte sich die nach Moskau reisende Sophie Friederike einen ersten Eindruck verschaffen. In Reval stieß sie auf eine Stadt mit einer ganz anderen Tradition und Stadtverfassung als in St. Petersburg oder in russischen Provinzstädten. Während die Selbstverwaltung der Städte des Baltikums auf den Traditionen mittelalterlicher Stadt- und Handelsrechte beruhte, kannten Städte seit den Städtereformen Peters I. am Beginn des 18. Jahrhundert zwar Begrifflichkeiten wie Magistrate oder Bürgermeister. Doch Selbstverwaltung und Autonomie kannten sie kaum.7

Die ersten Adligen, denen die Zerbster Prinzessin begegnete, stammten aus den Ritterschaften des Baltikums.8 Sie gehörten zu jenen Adelsgruppen, die ihre fortgeschriebenen Privilegien, was ständische Rechte und Schutz des Protestantismus anging, zu behaupten suchten. Sie waren nicht die einzigen Gruppen mit Sonderrechten. Die Kosakenverbände, etwa das erwähnte Hetmanat, aber auch am Don und am Jaik, genossen Autonomie.

Von St. Petersburg nach Moskau9 aber reiste Sophie durch von Russen besiedelte Gebiete und hier mochte sie einen ersten Eindruck von der Orthodoxie als Bestandteil der russischen Lebenswelt bekommen haben. Die russische Bevölkerungsmehrheit des Imperiums war orthodox, ihre Kirche vielleicht die einzige Institution, die den Staat in der Fläche repräsentierte. An den Peripherien des Reiches lebten aber auch Millionen von Untertanen, die sich nach der Kirchenspaltung (raskol) um die Mitte des 17. Jahrhunderts den sogenannten Altgläubigen zurechneten. Im Wolga-Kama-Raum lebten muslimische Ethnien, die nach der Eroberung Kazans 1552 durch Ivan IV. Groznyj unter die Herrschaft der Zaren geraten waren – muslimische nomadische Baschkiren sahen sich orthodoxen Kolonisten gegenüber.10 In Sibirien und im hohen Norden existierte zumindest bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nicht nur der Doppelglaube (dvoverie), das Nebeneinander von naturreligiösen und orthodoxen Traditionen, sondern lebten Jakuten und Kamčadalen pagan.11 Unter Kalmücken und Tuwinern war der Buddhismus verbreitet. Mission durch die orthodoxe Kirche konnte also aus der Sicht des Staats ein Vorantreiben von Territorialisierung bedeuten, stieß aber, als sie etwa in der Zeit der Kaiserin Elisabeth im Wolga-Kama-Raum intensiver betrieben wurde, auf Widerstand.12 In der Regel dominierte ein pragmatischer Umgang mit religiöser und ethnischer Differenz. Eine Ausnahme sei genannt: In Russland gab es keine nennenswerte jüdische Bevölkerung, sondern es existierte ein verbreiteter Antijudaismus. Kaiserin Elisabeth selbst war ein Beispiel dafür.13

Sophie reiste in ein agrarisch geprägtes Reich, darin unterschied sich Russland nicht von anderen frühneuzeitlichen Herrschaftsbildungen. Eine Besonderheit war jedoch der geringe Urbanisierungsgrad. Die neue Hauptstadt St. Petersburg besaß etwa 150.000 Einwohner, die alte Hauptstadt Moskau um die 200.000 Einwohner, aber die weit auseinanderliegenden Provinzstädte, oft aus mittelalterlichen burgstädtischen Siedlungen hervorgegangen, nur wenige Tausend. Sieht man einmal von den markanten Kirchenbauten und den Kreml- und Klosteranlagen ab – und natürlich von St. Petersburg, für das bereits Peter I. befohlen hatte, es dürfe nur Stein als Baumaterial verwendet werden –, war es ein Reich der Holzbauweise.14 Die Städte und Dörfer waren aus Holz und damit aus einem Material, das die naturräumlichen Gegebenheiten hergaben und das sich dem Klima, den kalten langen Wintern, den heißen Sommern und der kurzen Übergangszeit in Herbst und Winter, der Zeit der Wegelosigkeit, in idealer Weise anpasste. Steine hingegen mussten über weite Entfernungen herantransportiert werden. So übernachteten Sophie und ihre Mutter auf dem Weg von St. Petersburg des Öfteren in Gasthäusern aus Holz; die Gaststuben mögen ihr verraucht und fensterlos vorgekommen sein, aber sie hielten auf diese Weise effektiv Hitze oder Kälte ab.

Die überragende Mehrheit der russischen Bauern (ca. 90 %) war von ihrem Grundherrn abhängig. Die Leibeigenschaft, strukturgebend für den gesamten ostelbischen Raum seit der frühen Neuzeit, erreichte im Russischen Reich ihre wohl bindendste Form.15 Ob der Grundherr ein Adliger, ein Kloster oder die Krone war, der Bauer war an das grundherrliche Land gebunden. Sophie mochte sich in Zerbst keine Gedanken darüber gemacht haben, ob es den Zerbster Bauern auch so ging. In der zu Zerbst gehörenden ostfriesischen Herrschaft Jever, die sie als junges Mädchen besucht hatte und wo sie sich wohl gefühlt hatte,16 waren die Bauern frei. Solche freien Bauern, die sogenannten Einhöfer (odnodvorcy) gab es auch im Russischen Reich, etwa im hohen Norden oder in Sibirien als naturräumlichen Ungunsträumen. Ihre Zahl war jedoch gering. Menschen flohen vor der Leibeigenschaft, etwa an die südliche Peripherie (u krania) in das sogenannte wilde Feld (dikoe pole) und schlossen sich dort mit anderen Kosaken zusammen. Oder sie versuchten vor der Indienstnahme auf Gebiete auszuweichen, in denen sie auf nomadisierende Ethnien trafen, etwa im Kaukasusvorland oder im bzw. östlich des Ural. Durch die Verleihung von Land an den Adel in peripheren Räumen rückte das Prinzip der Leibeigenschaft in Form der Kolonisation jedoch nach.17

In Zentralrussland war der Bauer im Wesentlichen an die Scholle gebunden. Er leistete je nach Region und, aus Sicht des Grundherrn, ökonomischem Zweck Frondienste (barščina) oder Zins (obrok), oder gar beides. Nachdem sich diese Form der Leibeigenschaft seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert gebildet hatte, wurde sie im Gesetzbuch des Zaren Aleksej von 1649, das auch hundert Jahre später noch die Grundlage jeder Rechtsprechung darstellte, festgeschrieben. Dies bedeutete theoretisch zwar nicht, dass der Bauer ›seinem‹ Grundherren auch physisch gehörte, doch die Praxis sah anders aus.18 Bauern konnten Manufakturen als Arbeitskräfte ›zugeschrieben‹ werden und wurden faktisch samt ihren Familien gehandelt. Zeitungen in der Zeit Kaiserin Elisabeths offerierten solche unter Annoncen. 1713 erlaubte Peter I. den Grundherren ausdrücklich, die Bauern mit der Knute zu züchtigen, 1741 verloren sie ihre Rechts- und Geschäftsfähigkeit und wurden vom Untertaneneid ausgeschlossen. Immerhin ging es hierbei um mehr als 80 % der Bevölkerung. Die Bauern trugen also in mehrfacher Hinsicht das Reich ökonomisch. Sie finanzierten den Adel und trugen die Kopfsteuer sowie Naturalleistungen. 1722 machte Peter I. die Gutsbesitzer zur denjenigen, die die Steuer einzutreiben und die Ordnung auf den Gütern aufrechtzuhalten hatten.19

Während man im Zeitalter der Aufklärung die Leibeigenschaft publizistisch unter Feuer nahm, argumentierten die Grundbesitzer, dass sie ihren Bauern auch Schutz und Schirm böten. Die bäuerliche Gesellschaft des Zarenreiches war eine paternalistische und patriarchalische zugleich. Mochte die Leibeigenschaft im fortschreitenden 18. Jahrhundert auch zunehmend in die Kritik geraten und immer öfter mit der Sklaverei verglichen werden. Ökonomisch gesehen existierte auf Seiten der Grundbesitzer offensichtlich kein Handlungsbedarf. Mit ihrem ersten Eindruck von der Bauerngesellschaft wurde Sophie auf ein Thema gestoßen, welches sie in ihrer Herrschaft noch intensiv beschäftigen sollte.20

Die zur Gattin des Thronfolgers ausersehene Zerbster Prinzessin machte in dem Moment, in dem sie den Boden des russischen Reiches betrat, Bekanntschaft mit dem Adel des Imperiums. Insbesondere in St. Petersburg und Moskau lernte sie jenen Adel kennen, der sich spätestens seit Peter dem Großen nach Westen orientierte. Ob freiwillig oder nicht – die mittel- und westeuropäische Hofkultur entwickelte eine Sogkraft, der sich die Adligen nicht entziehen konnten. In der Zeit der Kaiserin Anna waren Deutsch, zunehmend aber auch Französisch die Sprachen des hauptstädtischen Adels.21

In den Hauptstädten wurde Sophie mit jenen Adligen bekannt, die in der Rangtabelle, die seit Peter I. dem Großen jeden Adligen kategorisierte (1722) und ihm seine Position im Militär, in der Verwaltung oder bei Hofe zuschrieb, relativ weit oben rangierten.22 Die großen Familien der Voroncovs, der Šeremetevs, der Dolgorukij und anderer hatten wenig gemein mit dem Provinzadel, dem Sophie auf ihrer ersten Reise begegnete, geschweige denn mit den wenigen, die über die Rangtabelle überhaupt erst in den Adel aufgestiegen waren. Die reichen und einflussreichen Familien – in der Forschung ist gar von ruling families gesprochen worden23 – kämpften um Herrschernähe und verfügten über derart umfangreiche Ressourcen, dass sie in der Lage waren, aufwendig zu repräsentieren und in Imitation des Zarenhofes ihrerseits Hof zu halten, ohne freilich die politische Selbstständigkeit und Macht etwa polnisch-litauischer Magnaten zu besitzen. Ihre Herrschernähe bedingte, dass ihre Lebenswelt zu der Sophies wurde, als sie russischen Boden betrat.

Die großen Familien verfügten über Zehntausende von Leibeigenen, die ihren Wohlstand sicherten, weniger wohlhabende Adlige vielleicht nur über knapp Hundert – für ein aufwendiges Leben bei Hofe zu wenig. Der ärmere Adel blieb also auf den Dienst im Militär, in der Verwaltung und bei Hofe zur Sicherung eines in seinen Augen angemessenen Lebensunterhaltes angewiesen. Der Dienst verband den Adel somit aus unterschiedlichen Gründen. Peter I. hatte ihn verbindlich gemacht, und diese Dienstpflicht galt mit Einschränkungen, die seine Nachfolgerinnen vorgenommen hatten, weiterhin.24 Der Adel des Imperiums war mithin ein Dienstadel, der für seinen Dienst Steuerfreiheit und die Einkünfte aus leibeigener Arbeit genoss. Idealtypisch kann von einer auf die Person des Herrschers zugeschnittenen Dienstgesellschaft gesprochen werden, die Abstufungen und Schattierungen natürlich immer einschloss.

Was Sophie Friederike jedoch sofort aufgefallen sein dürfte, war die Herrscherzentrierung auf die Kaiserin Elisabeth. In dem kleinen Fürstentum Anhalt-Zerbst konnte ihr Vater praktisch überall schnell präsent sein, eine 30-Kilometer-Reise führte ihn von Zerbst aus in fast jeden Winkel seines Territoriums, sieht man einmal von der Herrschaft Jever ab. Im Russischen Imperium hingegen vergingen Monate, bis ein kaiserlicher Befehl aus St. Petersburg etwa Irkutsk erreichte. Herrschaftsdichte nach dem Prinzip, durch herrschaftliche Anwesenheit Vertrauen und Akzeptanz zu schaffen, war im Russischen Imperium nicht möglich. Die Verwaltung vor Ort war nur locker ausgebildet, die petrinische Reform, die das Reich in elf Gouvernements und mehr als 40 Provinzen eingeteilt hatte, hatte die Administration verdichtet, jedoch keine intermediären Gewalten mit einer Delegation von Entscheidungsrechten geschaffen. Im riesigen Imperium lief strukturell alles auf den Herrscher zu, und dies lag in der Autokratie als Herrschaftsprinzip begründet.

Schon lange hat sich die Frühneuzeitforschung von der Vorstellung, die Herrscherinnen und Herrscher dieser Epoche hätten absolute Herrschaft durchsetzen können, verabschiedet.25 Die Herrscherinnen und Herrscher des Russischen Reiches trieben diesen Anspruch mit der Autokratie auf die Spitze. Diese Autokratie hatte sich seit Ivan III., der den Zarentitel im Umgang mit auswärtigen Mächten durchzusetzen versuchte, verfestigt. Die Selbstherrschaft (Samoderžavie, Autokratie) meinte die Verfügungsgewalt des Herrschers über alle seine Untertanen, deren Dienst auf ihn hin ausgerichtet war. Die Großfürsten und seit 1547, als mit Ivan IV. erstmals ein Moskauer Herrscher zum Zaren gekrönt wurde, die Zaren hatten in ihrer Politik alles getan, um die Herausbildung von Ständen zu verhindern. So hatte der rechtlich nivellierte Adel keine ständische Identität herausgebildet, sondern blieb über den Dienst auf den Herrscher bezogen. Die Autokratie blieb im Grunde unhinterfragt.26

Als in der Zeit der Smuta (Zeit der Wirren) um 1600 das Moskauer Reich daniederlag und 1613 der erste Romanov-Herrscher Michailvon einer Landesversammlung gewählt wurde, ging das mit keiner Machtbeschränkung einher. Peter I. mit seinen grundstürzenden Reformen und seiner expansiven Außenpolitik hatte die Autokratie neu legitimiert, kommuniziert und begründet. Neben das Auserwähltsein durch und zugleich die Verantwortung vor Gott traten naturrechtliche Begründungen. Aber bei allen Wandlungen blieb die unbedingte Unterordnung unter die Person des Herrschers Kern der Idee. Als 1730 Anna, der Nichte Peters I. und Herzogin von Kurland, die Krone angeboten wurde, gab es in verschiedenen Gruppen des höheren und niederen Adels die Vorstellung, die Macht der Herrscherin in einer Wahlkapitulation zu begrenzen.27 Doch Ergebnis der autokratischen Politik war eine Fragmentierung des Adels als Gruppe gewesen, die sich auch in der Situation von Wahl und Krönung 1730 zeigte. Anna musste keinerlei die autokratische Macht beschränkende Kapitulation annehmen, die Autokratie existierte fort, auch wenn gerade diese Kaiserin das Regieren weitgehend ihren Beratern überließ.28 Auch ein Putsch stellte offensichtlich die Autokratie nicht in Frage. Als die Kaiserin Anna starb, wurde ihr zwei Monate alter Großneffe Ivan (VI.) Zar. Elisabeth, die aus verschiedenen Gründen übergangene Tochter Peters I., nutzte die Unzufriedenheit mit der Regentschaftsregierung, um sich 1742 mit Hilfe der Garden an die Macht zu putschen. Mit den kolportierten Worten, die Untertanen wüssten, wessen Tochter sie sei,29 führte sie eine umgehend akzeptierte Palastrevolution durch. In der Uniform eines Obersten der Garderegimenter, der seit Peter I. prestigereichen Elitetruppen des Reiches, setzte sie ihre Gegner fest, nahm den Untertaneneid entgegen und ließ sich im April 1742 in Moskau in einer Zeremonie zur Kaiserin des Russischen Reiches krönen, die von einer bis dato einmaligen Prachtentfaltung war. Das aufwendig gestaltete Krönungsbuch, das aus diesem Anlass an alle kleinen und großen Herrscher Europas geschickt wurde, kündete von dem ungeschmälerten Anspruch der Autokratie und von einem starken Sinn für Symbolpolitik und Prestige.30 Elisabeth war unverheiratet und kinderlos. Die schnelle Bestellung ihres Neffen Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorf als Thronfolger am 7. (18.) November 1742 und die Einladung Sophies nach Russland dienten ihrer Machtsicherung und der Dynastie.

Welche Aufgabe Sophie hier zufiel, wird ihr ihre Mutter auf der Reise eingeschärft haben. Welche Größe, welche Vielgestalt dieses Reich hatte, wird ihr sicherlich kaum bewusst gewesen sein. Und auch die europäische Bedeutung wird sich ihr nur indirekt erschlossen haben – über eine preußische Perspektive. Sophies Vater hatte zur Zeit ihrer Geburt im pommerschen Stettin in preußischen Diensten gestanden; nachdem er die Regierung des Fürstentums Zerbst 1742 übernommen hatte, blieb Preußen der politische Referenzrahmen. Sophie und ihre Mutter Johanna besuchten den Berliner Hof mehrfach.

Die Selbstwahrnehmung Friedrichs II. war die eines Königs, der eine aufsteigende Großmacht im Krieg um Schlesien gegen Österreich in Stellung brachte. Der Feldherr überlagerte in dieser Zeit die Selbstinszenierung als aufgeklärter Monarch. Die Kaiserin Elisabeth verachtete er, auch wenn ihm ihre Neutralität im ersten und zweiten Krieg um Schlesien (1740–1742, 1744–1745) wichtig war.31 Ebenso bedeutend war für ihn eine Abstimmung mit dem Zarenreich über eine gemeinsame Politik gegenüber der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Während die russischen Herrscher seit dem Großen Nordischen Krieg (1700–1721) und insbesondere seit dem stummen Reichstag von Grodno das Ziel hatten, die gesamte Adelsrepublik als Protektorat zu lenken und ihnen dies auch weitgehend gelang, etwa im russisch-polnischen Thronfolgefolgekrieg (1733–1736)32 zur Zeit der Kaiserin Anna, bezogen sich die preußischen Ambitionen, wie sie in den Hohenzollerntestamenten niedergelegt wurden,33 vor allem auf Danzig, Thorn und Westpreußen. Sophie und ihre Mutter ›umfuhren‹ dieses Feld außenpolitischer Aspirationen, da sie den Seeweg von Lübeck über Reval nahmen, durchschifften aber gleichsam ein weiteres Politikfeld – die Ostsee.

Die Auseinandersetzung um das dominum maris baltici war im Großen Nordischen Krieg mit Schwedens Verlust seiner baltischen Provinzen an Russland 1721 nur teilweise entschieden worden. 1741 beschloss die im schwedischen Reichstag dominierende Adelsgruppierung der sogenannten Hüte, den Versuch zu unternehmen, die Ergebnisse des Friedens von Nystadt zu revidieren, und Russland den Krieg zu erklären. Auf diesen Krieg war mit Hilfe der französischen Außenpolitik länger hingearbeitet worden, und man hatte gehofft, das Zarenreich in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Seit 1735 befand sich St. Petersburg im Krieg gegen das Osmanische Reich. Doch 1739 hatten Russen und Osmanen in Belgrad bereits Frieden geschlossen. Von dem Staatsstreich Elisabeths, der von Frankreich unterstützt worden war, erhoffte sich die schwedische Kriegspartei einen schnellen Friedensschluss, doch sie hatte sich getäuscht. Elisabeth befahl ihrem General Peter Lacy die Gegenoffensive an den Küsten des finnischen Meerbusens, und die Region um Helsinki konnte eingenommen werden. Der Frieden von Åbo 1743 brachte leichte Gebietsgewinne für Russland und es konnte durchgesetzt werden, dass mit Adolf Friedrich, Onkel des für Russland ausersehenen Neffen Elisabeths, ein Gottorfer als schwedischer Thronfolger benannt wurde.34 Als Sophie 1744 russischen Boden betrat, hatte Elisabeth also ihre ersten Feuerproben in der Außenpolitik bestanden und sich als unabhängig von französischen Interessen, die ihr Subsidien gebracht hatten, gezeigt.

Dieses Russische Imperium in den ersten Jahrzehnten nach den Reformen und Kriegen Peters des Großen, in das Sophie 1744 gereist war, war eines des Wandels und der Beharrung zugleich. Dem Transfer und der ›Verwestlichung‹ der Eliten – die sich übrigens in einer erstaunlichen Geschwindigkeit vollzog – stand eine Beharrungskraft der traditionalen Gesellschaftssegmente gegenüber, insbesondere außerhalb der Metropolen. Die Entfaltung einer glanzvollen Hofkultur und die Verfestigung der Sozialstruktur einer Dienstgesellschaft begünstigten einander. Das Imperium war als kontinentale Flügelmacht nach der Eroberung des Ostseezugangs in der Zeit Peters I. als Akteur in Europa eine feste Größe, auch wenn der Anspruch der Autokratinnen auf Gleichrangigkeit in Europa insbesondere bei den Habsburgern auf Widerstand stieß.35 Die Gattin eines Großfürsten zu werden, der der Kaiserin Elisabeth nachfolgen sollte, war eine Chance, deren Tragweite Sophies Familie sicher deutlich vor Augen stand. Ob sich die kaum 15-jährige Zerbster Prinzessin auf ihrer Reise dessen klar bewusst war, wie Katharina später in ihren Memoiren behaupten sollte, wissen wir nicht.

Katharina die Große

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