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1. Ihr Reiseplan

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Eingestiegen, abgefahren. Pünktlich angekommen? Nein. Der ICE Berlin–München verspätete sich am 8. Dezember 2017 heftig, und die Anschlusszüge in der bayerischen Metropole waren längst weg. Nichts Besonderes?

Am 8. Dezember 2017 rauschten zu der um mehrere Jahre verspäteten Eröffnung von Deutschlands neuer Schnellfahrstrecke zwei Sonderzüge mit Ehrengästen und Journalisten über die Nord-Süd-Magistrale. Sie liefen bei der von der Deutschen Bahn als Rekordfahrt beworbenen Premierentour pünktlich im Berliner Hauptbahnhof ein und fuhren nach dem prächtigen Festakt auch pünktlich wieder nach München ab. Auf der Rückfahrt nach Bayern kam einer der beiden Sonderzüge jedoch mehrmals nach Zwangsbremsungen auf der mit 29 Tunneln und 22 Brücken gespickten Strecke zum Stehen. »Störung in der Zugbeeinflussungsanlage« hieß es zunächst, dann »in Kürze gleich weiter« und schließlich »es gibt eine wiederkehrende Fahrzeugstörung«. Aus der geplanten Ankunft in München um 23.15 Uhr wurde nichts. Als der ICE gegen 0.30 Uhr nur noch im Schneckentempo »auf Sicht« vorankam und die Zugbegleiter mit der Ausgabe von Taxigutscheinen im Wert von zigtausend Euro begannen, schwante so einigen Fahrgästen aus Oberbayern, dass sie keinen Anschlusszug mehr erreichen würden.

In der Tat endete die glanzvoll begonnene »Rekordfahrt« trostlos um 1.22 Uhr im fast menschenleeren Münchener Hauptbahnhof. Die Verspätung betrug zwei Stunden und sieben Minuten; der Zug war ebenso lange unterwegs gewesen wie vor der Eröffnung der zehn Milliarden Euro teuren Schnellfahrstrecke des Verkehrsprojekts Deutsche Einheit (inzwischen fährt er mehr oder weniger plangemäß). Für Spott brauchte die Deutsche Bahn AG nicht zu sorgen. »Verspätet – wie üblich«, lautete das ernüchternde Resümee. »Warum soll es Ehrengästen besser gehen als Normalfahrern?« das hämische.2

Warten, warten, warten – wer Bahn sagt, muss hierzulande leider allzu häufig auch Verspätung sagen. Fahrgäste sollten beim Bahnfahren jedenfalls zwei Tugenden abrufen: Geduld und Humor. Und schon kommen mir Reisen im und um das Zimmer herum des Konstanzer Literaturprofessors Bernd Stiegler in den Sinn, sprich das »Reisen ohne sich vom Fleck zu bewegen und dabei doch vieles in Bewegung zu setzen«.3 Dafür benötigt unsereins ja keine Auskünfte über Abfahrts- und Ankunftszeiten, muss keinen Anschlusszug verpassen oder gar Busersatzverkehr in Kauf nehmen und sich schon gar nicht im waltenden Tarifdschungel verheddern oder an einem Ticketautomaten verzweifeln. Durchsagen wie »Reisende, die sportlich unterwegs sind und nicht zu viel Gepäck haben, sollten den Anschlusszug noch erreichen«, bleiben einem bei Lehnsesselreisen in den eigenen vier Wänden auch erspart. Wobei von dienstlich festgelegten Phrasen abweichend formulierte Durchsagen manchmal etwas Tröstliches haben: »Für alle neu zugestiegenen Fahrgäste ohne Platzreservierung: Willkommen auf unserer Stehparty!« Oder: »Denken Sie an Pinguine! Dann ist die kaputte Klimaanlage nicht so schlimm.« Kurz: »Wir bitten Sie, den Zirkus zu entschuldigen, den wir gerade mit Ihnen veranstaltet haben.«4

Im Intercity-Express (ICE), Intercity (IC) und Eurocity (EC) wird bei der Bereitstellung das Faltblatt Ihr Reiseplan ausgelegt.5 Es enthält übersichtliche Informationen zum Zuglauf (Haltebahnhöfe mit Ankunfts- und Abfahrtszeiten), über Serviceleistungen sowie Anschlussverbindungen. Den QR-Code nicht zu vergessen, der via Smartphone »aktuelle Informationen zur Fahrt«, im Zweifelsfall zu außerplanmäßigen Halts gibt. Fatalerweise erweist sich der geduldig papierene Fahrplanauszug der Deutschen Bahn jeden Tag aufs Neue für so einige Fahrgäste als irreführend. So kann schon die erste Eintragung – z. B. Köln Hbf ab 6.44 – in der Praxis durch die Mitteilung des Zugchefs ad absurdum geführt werden: »Aufgrund einer Stellwerksstörung verlassen wir den Bahnhof mit circa dreißig Minuten Verspätung.« Weitere Konfusionen durchaus inbegriffen: »Der Zug fährt in umgekehrter Wagenreihung ohne die Wagen 18, 21 und 25. Sitzplatzreservierungen können nicht angezeigt werden.« Ob die unter der Rubrik »Service im Zug« gelisteten Leistungen tatsächlich gewährt werden – wer weiß. Die Durchsage »Aufgrund einer elektrischen Störung kann das Bordrestaurant leider keine warmen Speisen zubereiten« ist durchaus kein Fahrgastlatein. Die im Reiseplan bei allen angefahrenen Bahnhöfen angegebenen minutengenauen Abfahrtszeiten von Anschlusszügen in allen Ehren; bei Verspätungen können sie nur allzu oft »leider nicht warten«. Ist das eine Übertreibung?6

Verspätet war, ist und droht für die Zukunft so einiges bei der Eisenbahn zu sein. So kam sie in deutschen Landen erst Ende 1835 und damit fünf Jahre später nachhaltig in Fahrt als in Großbritannien, wurde die viel rentablere elektrische Traktion sehr viel später als möglich zum Standard, sind dringend notwendige infrastrukturelle Modernisierungen grotesk und das Programm »Digitale Schiene« ziemlich verspätet und so weiter und so fort. Verspätet haben nicht zuletzt die Wissenschaftler damit begonnen, den verbreiteten romantischen Verklärungen der Eisenbahn gleichsam aufs Flügelrad zu fühlen (ein Rad mit Flügeln symbolisiert weltweit die Eisenbahn und den Schienenverkehr). So gibt es bislang keine mir bekannt gewordene Untersuchung zur historischen Entwicklung der Pünktlichkeit bei den deutschen Eisenbahnen seit 1835. Dabei gehört die Pünktlichkeit zu den systemspezifischen Vorteilen des Schienenverkehrs. Übrigens erfolgte hierzulande auch die Einführung der für die Fahrpläne so wichtigen Einheitszeit, der Mitteleuropäischen Zeit, erst 1893. Die Verspätung betrug zum Beispiel gegenüber Serbien fast ein Jahrzehnt. Die Erforschung der sozialen Herkunft, der Reiseziele und -zwecke, Komfortwünsche und Beschwerden der Fahrgäste hat merkwürdigerweise mit einer gewaltigen Verspätung gegenüber der von Bahnlinien, Lokomotiven, Signalen und anderen bahntechnischen Artefakten eingesetzt; sie hält sich bislang in engen Grenzen.7 In diesem Buch kommen jedenfalls sowohl verstorbene wie auch lebende deutsche Bahnreisende bzw. ihre fiktiven Gestalten ausreichend zu Wort.8

Die Eisenbahn hat hierzulande ab Beginn der 1830er Jahre die Lebensbedingungen und den Erfahrungshorizont der Menschen erheblich verändert. Unter dem Druck industrieller und finanzieller Interessen setzte sie sich rasch durch und avancierte zu einem wichtigen Träger des landgestützten Personen- und Gütertransports (Letzterer bleibt in diesem Buch ausgeblendet). Eingeführt und etabliert wurde die Eisenbahn fast durchgängig von privaten Gesellschaften. Ihr riesiges ökonomisches Potenzial erwies sich als Glücksfall für viele Unternehmer, Industrielle und Spekulanten. Ihr großes militärisches Potenzial wiederum blieb der Politik nicht lange verborgen – auch deshalb endete das erste Zeitalter der Privatbahnen auf den Hauptstrecken am Ende des 19. Jahrhunderts. Vom Aufstieg der Eisenbahn zum führenden Verkehrsmittel profitierten zumal immer mehr Fachschriftsteller und Herausgeber von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern – die Fülle grundlegender Monografien sowie von Artikeln und Jahresberichten war bereits um 1900 unüberschaubar. Nicht zuletzt die Sicherheit des Zugbetriebs wurde in Folge der stetig steigenden Geschwindigkeit sowie rapiden Verdichtung des Schienenverkehrs ein Dauerthema in Fachwelt und Öffentlichkeit.

Das 20. Jahrhundert wartete für den deutschen Schienenverkehr mit mehreren Zäsuren auf – mit der Etablierung einer einheitlichen Staatsbahn nach dem Ersten Weltkrieg, dem Betrieb von zwei Staatsbahnen nach der deutschen Teilung, dem dramatischen Bedeutungsverlust im Zuge der Durchsetzung der Massenautomotorisierung ab Mitte der 1960er Jahre und der Verschmelzung von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG nach der Vereinigung. Die Übertragung des Schienenpersonennahverkehrs in die Obhut der Bundesländer sowie die Öffnung des deutschen Eisenbahnnetzes für nichtbundeseigene Eisenbahnunternehmen kurz vor dem Millennium kamen hinzu.

Seit 1996 können private Eisenbahnunternehmen wieder die deutschen Lande erobern bzw. auf den »diskriminierungsfreien« Zugang zum mit rund 33 500 Kilometern sechstlängsten und zweitdichtesten Streckennetz der Welt pochen. Der Eisenbahn-Markt (!) unserer Tage spiegelt ein zunehmend verwirrendes Puzzle privater, öffentlich und staatlich kontrollierter Unternehmen und Holdinggesellschaften und folgt den herrschenden ökonomischen Prinzipien von Wachstum, Konkurrenz und Gewinnmaximierung. Die nach wie vor in Bundesbesitz befindliche Deutsche Bahn AG ist längst keine monopolistisch agierende Staatsbahn mehr, sondern nur mehr ein Eisenbahnverkehrsunternehmen unter anderen. Zwar meinen viele, wenn sie von der »Bahn« sprechen, die Deutsche Bahn. Aber eben zuweilen auch Wettbewerber wie beispielsweise die Hohenzollerische Landesbahn AG. Wie dem auch sei, der seit 1994 waltende und schaltende Staatskonzern Deutsche Bahn AG ist schon aufgrund seiner noch fast absoluten Dominanz im Fernverkehr ein Thema für sich und erfährt viel Kritik – nicht zuletzt in Büchern wie Schwarzbuch Deutsche Bahn und Chronik Deutsche Bahn AG.9

Bahnfahren, so verkündet das Faltblatt Ihr Reiseplan unermüdlich, schützt »Klima und Umwelt«. Züge fahren in der Tat vergleichsweise emissionsarm; etwas mehr als vierzig Prozent ihres Stroms stammen hierzulande bereits aus erneuerbaren Energien. Zudem fahren sie aufgrund des viel geringeren Rollwiderstandes von Rad und Schiene wesentlich energieeffizienter als Automobile. Warum aber werden mit dem Kraftfahrzeug hierzulande zehnmal mehr Kilometer als mit der Bahn gefahren? Den 2016 insgesamt zurückgelegten 965,5 Milliarden Kilometern im Straßenverkehr standen jedenfalls lediglich 95,8 Milliarden Kilometer im Schienenverkehr gegenüber.10

Von Beginn an gab es in Deutschland im und mit dem Eisenbahnverkehr mehr Probleme, als den Fahrgästen und anderen Betroffenen lieb sein konnte und weiterhin kann. Solange sich die Bahn für Reisende und Pendler eher als Zumutung, denn als unschlagbare Alternative zu anderen Verkehrsmitteln erweist, dürfte sie ihre Vorteile in unserer immer mehr digital organisierten und vernetzten Welt nicht ausspielen können. Ganz zu schweigen von den sich merklich verändernden Rahmenbedingungen in diesem frühen 21. Jahrhundert. Die komplexen Veränderungsprozesse, die auf die Mobilitäts- und Verkehrssysteme einwirken, speisen sich aus der technologischen Entwicklung samt künstlicher Intelligenz, der demografischen Entwicklung, der Urbanisierung, der Veränderung von Lebensstilen und wachsenden Individualisierung von Mobilitätsbedürfnissen, den Umwelt- und Klimaschutzzielen und anderen mehr. Welche Möglichkeiten, aber eben auch Veränderungszwänge und Risiken für eine zukunftsfähige Transformation des Personenverkehrsmittels Eisenbahn in Deutschland bestehen, rücke ich im letzten Drittel dieses Buches ins Blickfeld.

Wie ergeht es einer Gesellschaft, die die dramatisch ändernden Umweltbedingungen nicht zum Anlass für mindestens ebenso dramatische Änderungen am überbordenden und fossil geprägten Verkehrswesen nimmt? Was passiert, wenn die deutschen Eisenbahnen den Anschluss im politisch verordneten und zugleich neoliberal verzerrten »Wettbewerb« mit Pkws, Bussen und Flugzeugen verlieren? Und was passiert, wenn der Staatskonzern Deutsche Bahn AG den Anschluss an das gerade in Fahrt kommende postfossile und digitalisierte Mobilitätssystem verpasst?

Was passiert, wenn die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung einer Staatsbahn schiefläuft, lässt sich jenseits des Ärmelkanals studieren. Die Mehrheit der Briten gibt seit 2016 bei Umfragen an, sie wünsche die Wiederverstaatlichung der diversen Eisenbahnverkehrsunternehmen, deren Service, Fahrplan- und Preisgestaltung unzumutbar seien. Bezeichnenderweise berichtete die britische Boulevardpresse im Sommer 2017 über ein Preisgefälle zwischen Schienen- und Luftverkehr, das in vielerlei Hinsicht gewaltig zu denken gibt. Die Geschichte geht so:

Als die in Newcastle lebende Lucy Walker und ihre in Birmingham lebende Freundin Zara Quli beschlossen, mal wieder ein Wochenende miteinander zu verbringen, offerierte Lucy, mit dem Zug nach Birmingham zu kommen. Als die 27-jährige Lehrkraft herausfand, dass das Bahn-Rückfahrticket für die 320 Kilometer lange Strecke 105 Pfund Sterling kosten würde, war sie »schockiert« und begann eine Internetrecherche. Diese endete mit dem Ergebnis, dass eine Hin- und Rückflugkarte nach Málaga für weniger als zwanzig Pfund zu haben war. Für Zara sollte der Hin- und Rückflug von Birmingham aus rund 55 Pfund kosten. Und da an der Costa del Sol eine Nacht im Hostel für nur zehn Pfund zu haben war, verlegten die beiden Freundinnen ihr Treffen für ein langes Wochenende nach Südspanien – was statt auf insgesamt 640 Zugkilometer auf insgesamt 7840 Flugkilometer hinauslief, jedoch immer noch billiger als die Bahnfahrt war.11

Und was lehrt dieses Exempel? Nun, solange ein umwelt- und klimaschädlicher Flug über große Distanzen deutlich preiswerter als eine zwölfmal kürzere und das Klima kaum in Mitleidenschaft ziehende Eisenbahnfahrt ist, liegt offenbar ein gesellschaftlich willentlich in Kauf genommenes Politik- und Marktversagen vor. Und zwar gewiss nicht nur in Großbritannien.

Pünktlich wie die deutsche Bahn?

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