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2. Ihre nächste Reisemöglichkeit

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Das Faltblatt Reiseplan gab es 1907 noch nicht, als ein gewisser Hans Castorp in seiner Heimatstadt Hamburg den Zug bestieg, um für drei Wochen seinen Cousin in einem Davoser Sanatorium zu besuchen. Der 23-Jährige hatte gerade sein Examen bestanden und bei einer Schiffswerft eine Stelle in Aussicht. Castorp ist der Held in dem bewegenden Roman Zauberberg von Thomas Mann. Von Verspätungen ist in der Beschreibung seiner Reise von Norddeutschland in das Schweizer Hochland keine Rede, von erreichten Anschlusszügen aber schon:

»Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise […]. Es geht durch mehrerer Herren Länder, bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres [Bodensee] und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten. Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umständlichkeiten. Beim Orte Rorschach, auf schweizerischem Gebiet, vertraut man sich wieder der Eisenbahn, gelangt aber vorderhand nur bis Landquart, einer kleinen Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist. Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewöhnlich zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht zu enden wollen scheint.«12

Als Thomas Mann 1913 mit der Arbeit am Zauberberg begann, war das deutsche Kaiserreich ein Eisenbahnparadies, vernetzten die Hauptbahnen Städte und Regionen miteinander, verbanden verästelte Neben- und Kleinbahnen selbst abgelegene Dörfer sowie touristische Zentren mit den Hauptlinien und gab es so viele Bahnknotenpunkte wie in keinem anderen europäischen Land. Die von Thomas Mann beschriebene lange Bahnfahrt würde dieser Tage aufgrund der auf den Hauptstrecken mit viel höherer Geschwindigkeit fahrenden ICEs im Idealfall zwar weniger Zeit als 1907 kosten, aber eine ähnliche Reiseerfahrung bieten. Denn die mangelhafte Vertaktung des Schienennah-, Regional- und Fernverkehrs sowie das damit verbundene Herumstehen auf nicht selten wenig einladenden kleinen Bahnhöfen und Haltepunkten gehören schließlich nach wie vor zum Alltag vieler Fahrgäste. Eine Nebenwirkung, die für Thomas Mann bzw. seinen Protagonisten auf der Eisenbahn quasi noch naturgegeben war, hat sich allerdings in Luft aufgelöst, nämlich die Verunreinigung der Reiselektüre durch den »hereinstreichende[n] Atem der schwer keuchenden Lokomotive […] mit Kohlenpartikeln«13.

Während Thomas Mann am Zauberberg schrieb, machten in Deutschland gut 33 000 Lokomotiven Dampf. Ihr Aussterben begann Anfang der 1970er Jahre, und ein Slogan der Bundesbahn verkündete: Unsere Lokomotiven haben sich das Rauchen abgewöhnt. Das Dampfzeitalter endete in Westdeutschland im Oktober 1977, als die letzten ölbefeuerten Dampflokomotiven auf der Emslandstrecke durch Dieselloks ersetzt wurden. In Ostdeutschland wurde der letzte planmäßige Dampfbetrieb auf vollspurigen Gleisen im Oktober 1988 auf dem Umlauf Halberstadt–Magdeburg–Thale–Halberstadt offiziell eingestellt. Bücher können heute in den Fern-, Regional- und Nahverkehrszügen der Deutschen Bahn und anderer Eisenbahnverkehrsunternehmen getrost gelesen oder zur Seite gelegt werden, ohne die Verschmutzung durch Kohlepartikel fürchten zu müssen. Eher schon durch überschwappende Getränke oder Sandwichmayonnaise. Bei der jederzeit möglichen Durchsage: »Nächster Halt … ach, Sie sehen es selbst, wir stehen schon«, schaufelt der außerplanmäßige Stillstand zumal mehr Zeit für die Zuglektüre frei.

Gelesen wird in der Eisenbahn, um Monotonie und Langeweile gar nicht erst aufkommen zu lassen und um sozusagen hinter einer Zeitung das kleine Sitzterritorium für die private Autonomie zu retten. Inzwischen bieten digitale »Begleiter« erheblich erweiterte Möglichkeiten. Dass das Lesen im Waggon anders als in einer rumpligen Postkutsche kein Problem sein würde, hatte bereits 1833 ein Zeitgenosse mit Verweis auf die englischen »Dampfwagen« verdeutlicht. Ihre Bewegung sei »so leicht, sanft und bequem«, betonte er, »daß man nicht nur vollkommen dabei lesen, sondern sogar schreiben kann«.14 Nun erzwangen schon die Verhältnisse in den lange üblichen Abteilwagen mit ihrer der Postkutsche nachempfundenen Sitzanordnung ein Visavis-Verhältnis, das vielen Fahrgästen unangenehm erschien und so manchen unerträglich war. Der Griff zur »abschirmenden« Lektüre lag da mehr als nahe, zumal mit der rasch wachsenden Gewöhnung an das neue Verkehrsmittel und dessen größer werdender Geschwindigkeit der Blick aus dem Abteil- bzw. Coupé-Fenster an Reiz einbüßte. Da die bei schwachem oder dämmrigem Tageslicht in den Personenwagenabteilen zu jener Zeit entzündeten Öllampen nur einen kläglichen Lichtschein abgaben, mussten Leseratten freilich mit Augenschmerzen rechnen. Erst nach der Einführung der ersten Durchgangsabteilwagen Ende des 19. Jahrhunderts, die die gänzliche Isolation im Coupé aufhoben, und nicht zuletzt der Gasbeleuchtung, die das Lesen sehr erleichterte, kannte bei den bürgerlichen Passagieren der Wunsch nach Lektüre schließlich fast keine Grenzen mehr.

Fehlten nur noch die das Lesebedürfnis spezifisch bedienenden »Reise- und Eisenbahnbibliotheken« von Verlagen wie Reclam und natürlich die Händler für Zeitschriften und »Reiseliterarien«. Sie bereicherten hierzulande peu à peu ab 1847 das Bahnhofsleben in Nürnberg, Würzburg, München, Stettin und andernorts – übrigens durchaus später als etwa in England, wo sie ab Beginn der 1840er Jahre üblich geworden waren. 1854 ließ der ungemein produktive Berufsschriftsteller Karl Gutzkow in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd denn auch wissen: »Es ist auffallend, dass sich unsere deutschen Buchhändler, die doch sonst so unternehmerisch sind, noch nicht auf die Eisenbahnen gewagt haben. Sollten sie von dem strengen officiellen Tone, der auf unseren Bahnen herrscht, zurückgeschreckt worden sein? Ein Buchladen auf Stationen, wo sich, wie z. B. in Halle, zwei Linien kreuzen, müsste gute Geschäfte machen; denn mit dem Bücherkaufen geht es in Deutschland doch wie mit dem Einkaufen in Versicherungsanstalten. Man denkt immer und immer daran, will und will und plötzlich hat uns die Gefahr getroffen, wenn es zu spät ist. So kauft man Bücher erst, wenn man sich langweilt, einen Führer erst, wenn man schon reist, eine Karte erst, wenn man sich schon zehn Mal geirrt und seine Mitreisenden durch ein ewiges Ausfragen gelangweilt hat.«15

Aus den zunächst nur provisorischen Verkaufsständen der örtlichen Buchhändler, erhellt Christine Haug, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Bahnhofsbuchhandel als eigenständige Teilbranche des Sortimentsbuchhandels. »Bemerkenswert ist, dass der Verkauf von Reiselektüre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ausschließlich über spezielle, funktionale Bücherwagen und Verkaufskioske betrieben wurde. Die geschlossenen, beheizten Verkaufspavillons waren ein Zugeständnis an die Angestellten, denn die Verkäufer litten gerade im Winter unter der Kälte und Zugluft in den Bahnhofshallen. Die von Kunden begehbaren Bahnhofsbuchhandlungen, wie wir sie heute kennen, entstanden erst in den 1950er Jahren.«16

Um 1870 gab es ein Dutzend Bahnhofsbuchhändler, um 1900 gut zweihundert, um 1930 knapp sechshundert. Ihre Kioske, Verkaufswagen und ausklappbaren Stände fanden sich auf vielen Bahnsteigen bzw. Perrons.17 In seinem 1930 publizierten Artikel Kriminalromane, auf Reisen ließ Walter Benjamin wissen: »Die wenigsten lesen im Eisenbahnwagen Bücher, die sie zu Hause im Regal stehen haben, kaufen lieber, was sich im letzten Augenblick ihnen bietet. Der Wirkung von langer Hand bereitgestellter Bände mißtrauen sie und mit Recht. Außerdem legen sie vielleicht Wert darauf, gerade am buntbewimpelten Fahrgestell auf dem Asphalt des Perrons ihren Kauf zu machen. Jeder kennt ja den Kultus, zu dem es einlädt. Jeder hat schon einmal nach den gehißten, schwankenden Bänden gegriffen, weniger aus Lesefreude als im dunklen Gefühle, etwas zu tun, was den Göttern der Eisenbahn wohlgefällt. Er weiß, die Münzen, die er diesem Opferstock weiht, empfehlen ihn der Schonung des Kesselgottes, der durch die Nacht glüht, der Rauchnajaden, die sich über dem Zuge tummeln, und des Stuckerdämons, der Herr über alle Schlaflieder ist. Sie alle kennt er aus Träumen, kennt auch die Folge mythischer Prüfungen und Gefahren, die sich als ›Eisenbahnfahrt‹ dem Zeitgeist empfohlen hält, und die unabsehbare Flucht raumzeitlicher Schwellen, über die sie sich hinbewegt, angefangen vom berühmten ›Zu spät‹ des Zurückbleibenden, dem Urbild aller Versäumnis, bis zur Einsamkeit des Abteils, zur Angst, den Anschluß zu verpassen …«18

Zurzeit buhlen rund fünfhundert Bahnhofsbuchhandlungen (2017) um die Gunst von Reisenden. Laut ihrem Verband haben sie »an 365 Tagen im Jahr und mindestens 100 Stunden in der Woche geöffnet«, und deckt sich »jeder dritte Reisende« in einer von ihnen mit der gewünschten Zuglektüre ein19 – nicht zuletzt über die Eisenbahn selbst, über die es unzählige Bücher und eine große Anzahl von Zeitschriften gibt.20 Und wem gedruckte Literatur zu teuer oder nicht geheuer oder bei der Bahnfahrt zu hinderlich ist, den lässt das Internet gewiss nicht im Stich – und WLAN wird in immer mehr Zügen zwar reichlich spät, aber endlich zum Standard.

Internetsuchmaschinen liefern heutzutage zu jedem bahnspezifischen Stichwort eine Vielzahl von Links, die teils auf bemerkenswert informationsreiche Webseiten verweisen. Eine Fülle von Dokumentar- und Spielfilmen – etwa Mord im Orient-Express – sowie Videos auf YouTube kommen hinzu. Von der 1991 im Dritten Fernsehprogramm des Südwestfunks als Pausenfüller gestarteten Reihe Eisenbahn-Romantik zum Beispiel sind allein bis 2017 über neunhundert Folgen ausgestrahlt worden. Der Eisenbahn-Romantik-Zuschauerclub zählt bereits mehr als 10 000 Mitglieder.

Apropos Romantik. Als romantisch wird alles Mögliche bezeichnet – die Spanne reicht vom Abendessen bis hin zur Zugfahrt. »Kein anderes Transportmittel eignet sich so sehr für romantische Gefühle wie die Eisenbahn«, betonen gewiefte Marketingexperten, und präzisieren: »Eine Dampflok mit jahrzehntealten Waggons, die gemütlich über die Schienen schleicht, hängt bezüglich der Romantik jedes Flugzeug und jedes schnelle Auto ab. Auf der Schiene lässt es sich gemeinsam träumen, während die Welt langsam vorbeizieht.«21

Wenn Verkehrsmittel in die Jahre kommen, finden sich Liebhaber und Museumsbetreiber, die sie hegen und pflegen. Wie es scheint, wird bei keinem anderen Verkehrsmittel der vermeintliche »Charme vergangener Zeiten« so gezielt und umfänglich beschworen wie bei der Eisenbahn. Der vielerorts mit großem Aufwand und Engagement aufrechterhaltene Betrieb von Museums- und Schmalspureisenbahnen kommt nicht von ungefähr. Nun kann das Mitfahren auf den Holzbänken eines alten Eisenbahnwaggons dritter Klasse in unserem aufgepolsterten Digitalzeitalter in der Tat ein herrliches Erlebnis sein. Ob jedoch das häufig damit verknüpfte nostalgische Beschwören der »guten alten Eisenbahn« oder der »guten alten Zeit« auch seine Berechtigung hat, also einer historischen Überprüfung standhält, ist doch sehr die Frage. Zu ihrer Beantwortung möchte dieses Buch jedenfalls hinlänglich beitragen. Nicht zuletzt die im Bahnhofsbuchhandel ausliegenden Eisenbahn-Zeitschriften, -Magazine und nostalgischen Bildbände präsentieren so etwas wie das Idealbild einer Eisenbahn, die weder Verspätungen oder Zugausfälle noch drangvoll überfüllte Wagen und andere unschöne Begleiterscheinungen kennt. Schön wär’s.

Nun wurden ausgerechnet während der Romantik, deren große Geister die Abwendung von der Zivilisation und Hingabe zur Natur einforderten, gleich zwei motorisierte Verkehrsmittel in die Welt gesetzt, die alles andere als idyllische Zustände heraufbeschworen: 1801 fuhr das erste taugliche Automobil (mit Dampfmaschinenantrieb) durch die Landschaft und 1804 die erste Eisenbahn. Als 1835 die Epoche der Spätromantik in den letzten Zügen lag, eröffnete am 7. Dezember die auf Aktien gegründete Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft die erste deutsche Bahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth. Die Personenwagen wurden übrigens zunächst nicht ausschließlich von der Dampflok »Adler«, sondern aus Kostengründen auch von Pferden gezogen. Aber was machte das schon: Einen Anschlusszug, den Reisende hätten verpassen können, gab es ja weder in Nürnberg noch in Fürth.

Als der deutsche Eisenbahnverkehr mit Dampfkraft in Fahrt kam, stieß dies bei zahlreichen zeitgenössischen Beobachtern nicht eben auf begeisterte Zustimmung. Der Literat Karl Immermann kommentierte das Geschehen mit den Worten: »Mit Sturmesschnelligkeit eilt die Gegenwart einem trockenen Mechanismus zu; wir können ihren Lauf nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten, wenn wir für uns und die Unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen und diese Insel so lange als möglich gegen den Sturz der vorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen.«22 Johann Wolfgang von Goethe, der die Eisenbahn fahrend nicht mehr zu Gesicht bekam, hatte bereits im Oktober 1825 vorsichtshalber angemerkt: »Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt, Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.«23

Fest steht, dass die im Laufe des 19. Jahrhunderts im deutschen Kleinstaaterei-Gebilde mit einiger Verzögerung einsetzende Industrialisierung der Arbeits- und Alltagswelten ohne die Revolutionierung des Transport- und Verkehrswesens durch Eisenbahn und Dampfschifffahrt nicht vorangekommen wäre. Übrigens auch nicht ohne die Revolutionierung der Kommunikationssysteme durch die Telegraphie und die Standardisierung von Posttarifen. Ach ja. Der Begriff Bahn bezeichnet eigentlich den Fahrweg, auf dem sich ein Objekt bewegt – und sei es eine Fahr- oder Landebahn. Die Eisenbahn ist so gesehen der spezifische Fahrweg der Züge. Da wir jedoch das rollende Material auch als Eisenbahn oder kurz Bahn bezeichnen, ist das Wort für den Fahrweg bei diesem Verkehrsmittel sozusagen inbegriffen. Allerdings kommt, wenn die Bahn überhaupt kommt, nur ein Zug oder Triebwagen, nicht der Eisenweg …

Pünktlich wie die deutsche Bahn?

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