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3. Verzögerte Abfahrt ins Eisenbahnzeitalter

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»Unschlüssigkeit und Atemlosigkeit genügen sicherlich, einen Menschen von zorniger Gemütsart zum Fluchen zu bringen, noch dazu, wenn er, gehetzt vom Abfahrtssignal, in Windeseile die unbequemen Stufen des Wagens hinaufklimmen muß und sich das Schienbein an das Trittbrett anschlägt. Er flucht, flucht auf die Stufen und auf ihre dämliche Konstruktion, flucht auf das Schicksal. Indes hinter solcher Ungehobeltheit steckt eine richtigere, ja aufreizendere Erkenntnis, und wäre der Mensch helldenkend, er könnte es wohl aussprechen: bloßes Menschenwerk ist dies alles, ach, diese Stufen, angepaßt der Beugung und Streckung des menschlichen Knies, dieser unermeßlich lange Bahnsteig, diese Tafeln mit Worten darauf und die Pfiffe der Lokomotiven und die stählernd glitzernden Gleise, Fülle von Menschenwerken, sie alle Kinder der Unfruchtbarkeit.«24

Bevor sich um 1930 jemand wie der Wiener Autor Hermann Broch vom Abfahrtssignal gehetzt fühlen konnte, musste das »bloße Menschenwerk« erst einmal geschaffen werden. Die ersten zweckdienlichen Dampfwagen für den Transport von Menschen und Gütern auf Straßen und Schienen setzte der englische Grubeningenieur Richard Trevithick (1771–1833) in Fahrt. Er hatte 1798 eine für mobile Zwecke brauchbare Hochdruckdampfmaschine konstruiert, die ihre Tauglichkeit 1801 in einem veritablen Automobil unter Beweis stellte.25 Mangels Kaufinteressenten richtete Trevithick sein Interesse auf Schienenfahrzeuge und baute mit seinen Mitarbeitern einen waagerecht liegenden Hochdruckdampfkessel mit Schornstein – die erste Dampflokomotive. Die Maschine mit Spurkranzrädern fuhr das erste Mal am 25. Februar 1804 auf einer Hüttenwerksbahn in Südwales und zog fünf Waggons mit einer Last von zehn Tonnen über eine Strecke von rund fünfzehn Kilometern. Es war die erste nachweisbar gelungene Fahrt eines mechanischen Dampfwagens mit Anhängern auf Schienen, der nicht nur Güter transportierte, sondern zugleich an die siebzig Personen, die die Mitfahrt gewagt hatten.

Als nachhaltig industrieller Verwerter der von Trevithick entwickelten Technik trat ab 1814 der englische Unternehmer George Stephenson (1781–1848) auf. Er leitete von 1821 bis 1825 den Bau einer Bahnlinie im Kohlerevier zwischen Stockton und Darlington und gründete in Newcastle die weltweit erste Lokomotivenfabrik, in der 1829 mit der »Rocket« ein bereits 48 km/h schnelles Zug- und Dampfross gebaut wurde. Ein Jahr später, bei der Einweihung der ersten öffentlichen Linie Liverpool–Manchester, zeigte sich das enorme Potenzial des neuen Verkehrsmittels. Die bereits zweigleisig geführte Strecke verlief durch einen zwei Kilometer langen Tunnel sowie über 65 Viadukte. Die Bahnhöfe verfügten über Ausweich- und Rangiergleise, und es gab einen Fahrplan. Der deutsche Publizist Georg Weerth brachte das durch wagnisbereite Aktiengesellschaften geprägte Geschehen kenntnisreich so auf den Punkt:

»Im Jahre 1830 wurde dem Publikum die Bahn eröffnet, und von 30 Kutschen welche bisher zwischen Manchester und Liverpool fuhren, stellten 29 sofort ihren Dienst ein. Früher reisten täglich 500 Personen zwischen beiden Städten, jetzt stieg diese Zahl sogleich auf das Dreifache, und schon in den ersten Tagen expedierte man 1600 Passagiere täglich. […] Jedenfalls machte der Personentransport von Anfang an den Hauptgewinn der neuen Bahn aus. Schon bald zeigte man eine Dividende von 10 Prozent an, und die Aktien stiegen auf 120 Prozent Prämie. Somit war die Sache im Gange.«26

Nach dem Bekanntwerden dieser Erfolgsgeschichte reisten Heerscharen von Kaufleuten, Regierungsmitgliedern, Technikern und Bankiers vom Kontinent nach England, um das Eisenbahnsystem zu studieren, flammte im liberal gesinnten deutschen Bürgertum nachhaltiges Interesse für das neue Verkehrsmittel auf. Zu den bedeutenden Akteuren, die auf den Bau von Eisenbahnen drängten, zählten u. a. die Nürnberger Stadtväter Georg Zacharias Platner (1781–1862) und Johannes Scharrer (1785–1844), der als »Vater des Ruhrgebiets« gerühmte Unternehmer und Politiker Friedrich Harkort (1793–1880), der Wegbereiter der Bahn in Bayern, Joseph Freiherr von Baader (1763–1835), und der Begründer der Herzoglich Braunschweigischen Staatseisenbahn, Philipp August von Amsberg (1788–1871).

Eine herausragende Rolle spielte Friedrich List (1789–1846). Der in den 1820er Jahren wegen seiner demokratischen Überzeugung politisch verfolgte und eine Zeitlang ins Exil getriebene Wirtschaftstheoretiker hatte ab 1828 in seinen Mittheilungen aus America das deutsche Publikum von den Anfängen des Eisenbahnwesens in den Vereinigten Staaten unterrichtet und in Pennsylvania mit anderen Gesellschaftern eine Eisenbahnlinie begründet. Deren praktischen Nutzen kannte List aus eigener Erfahrung, als er nach dem Erhalt der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1833 im Range eines amerikanischen Konsuls in das Großherzogtum Baden entsandt wurde.

Wieder im Lande begrüßte Friedrich List, für den die Überwindung der innerdeutschen Zollschranken ein wichtiges Anliegen war, den gerade gegründeten Deutschen Zollverein. Zugleich setzte er sich vernehmlich für den Aufbau eines deutschen Eisenbahnnetzes ein. Noch 1833 verfasste er eine kleine Schrift, die er in hoher Auflage kostenlos verteilen ließ: Ueber ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden. Schon dieser erste Entwurf beinhaltete einige später gebaute Hauptlinien. Weitere Vorschläge und Planungen des liberalen Ökonomen und bedeutenden Eisenbahnpioniers ließen nicht auf sich warten. Sie verrieten visionären Sachverstand.27

Die erste öffentliche Dampfeisenbahn auf dem europäischen Kontinent fuhr allerdings nicht in deutschen Landen, sondern ab 5. Mai 1835 auf der Teilstrecke Brüssel–Mecheln. Die belgische Regierung hatte 1834 George Stephenson mit der Entwicklung eines auch die Nachbarländer einbeziehenden Eisenbahnnetzes beauftragt, das dann ebenfalls entstand – als erste Staatseisenbahn der Welt. Das deutsche Eisenbahnzeitalter läuteten mit einiger Verzögerung gegenüber dem Mutterland der Industrialisierung nun nicht die von List angetriebenen Sachsen ein, sondern fränkische Kaufleute, die im Mai 1833 die Gesellschaft für die Errichtung einer Eisenbahn mit Dampfkraft zwischen Nürnberg und Fürth aus der Taufe gehoben hatten. Im Februar 1834 erhielt die Gesellschaft von König Ludwig das Privileg zum Betrieb der Strecke für den Zeitraum von dreißig Jahren, einige Monate später begann der Ingenieur Paul Camille von Denis (1795–1872), der sich auf Reisen durch Nordamerika und England mit dem Eisenbahnwesen vertraut gemacht hatte, mit der Vermessung der Strecke und der Erstellung der Pläne und Zeichnungen. Im Mai 1835 wurden die Erdarbeiten in Angriff genommen, ab Juli die Gleise nach dem englischen Vorbild verlegt.

Der deutsche Schienenpersonenverkehr mit Dampfkraft startete am 7. Dezember 1835 auf der knapp sechs Kilometer langen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth. Die Trasse war zuvor trotz fehlender praktischer Erfahrung und dem Mangel an technischen Hilfsmitteln in wenigen Monaten fertiggestellt worden. Und das, obwohl die Schienen aus Deutschlands zu jener Zeit einzigem walzfähigen Eisenwerk im dreihundert Kilometer entfernten Neuwied mühselig mit Pferdefuhrwerken herangeschafft werden mussten. Fuhrwerke wurden auch zum Heranschaffen der Kohle aus Zwickau eingesetzt. Da das bei einer Entfernung von zweihundert Kilometern mit hohen Kosten verbunden war, kam die aus der Fabrik von George Stephenson importierte Lokomotive »Adler« anfangs nur selten zum Einsatz. Gut drei Viertel der Zugfahrten erfolgten zunächst nicht mit dem eisernen, sondern mit tierischen Rössern. Immerhin reduzierte sich beim Dampfbetrieb die Fahrzeit gegenüber der Pferdekutsche von 25 auf fünfzehn Minuten.

Die erste deutsche Bahnlinie war sozusagen der Vorläufer des heutigen öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Von Nürnberg nach Fürth wurde täglich vormittags dreimal mit Pferden gefahren, nachmittags zwei- bis dreimal mit der Lok »Adler« und später mehrere Male erneut mit Pferden. Die Rückfahrt von Fürth nach Nürnberg erfolgte spiegelbildlich entsprechend. Zusätzliche Fahrten wurden eingerichtet, wenn Bedarf bestand. Die Personenwagen hatten Platz für zwölf bis dreißig Personen, wobei die einfachsten nach oben offen und die für die vornehme Klientel gegen die Einflüsse von Wind und Wetter mit Glasfenstern versehen und mit Tuch und Borten geschützt waren.

Friedrich Lists Aufruf zur Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden ging auch in Erfüllung und bescherte den Deutschen die erste Ferneisenbahn.28 Die mit einem Tunnel aufwartende 150 Kilometer lange Gesamtstrecke zwischen der Messestadt und der Residenzstadt war vom 7. April 1839 an durchgängig befahrbar. Sie verkürzte die Reisezeit zwischen beiden Städten von 21 auf damals schier unglaubliche drei Stunden.

Die dritte deutsche Linie Berlin–Potsdam – zugleich die erste preußische Eisenbahn – wurde am 22. September 1838 eröffnet. An diesem Tag nahm die Berlin-Potsdamer Eisenbahn-Gesellschaft auf der Teilstrecke Zehlendorf–Potsdam den öffentlichen Verkehr auf. Die Spurweite richtete sich übrigens wie schon in Nürnberg und Leipzig nach britischen Gepflogenheiten. Sie betrug 1,435 Meter und ist uns als sogenannte Normalspur bis heute erhalten geblieben. Die sechs Lokomotiven mussten mangels deutscher Alternativen von Stephensons Fabrik aus Newcastle bezogen und bei der Einfuhr nach Preußen verzollt werden. Immerhin durften die mitgelieferten Muster-Personenwagen dann in Berlin nachgebaut werden.

»In gewisser Beziehung ist dieses Ereignis, da es den Anfangspunkt der Benutzung der Eisenbahnen im preußischen Staat bildet, für diesen eines der wichtigsten des Jahrhunderts«, kommentierte ein Reporter der Vossischen Zeitung das Eröffnungsgeschehen der Berlin-Potsdamer-Eisenbahn. »In der Geschichte der Industrie wenigstens dürfte ihm keins an die Seite zu setzen sein. […] Schon vom frühen Morgen an bot die Gegend um den Bahnhof ein belebtes Schauspiel dar. Gegen die Mittagszeit aber waren Tausende von Zuschauern herbeigeströmt, welche auf der Brücke, in den ringsum gelegenen Gärten, Wiesen, Feldern und Wegen, sich in bunten Gruppen verteilt hatten, um der Abfahrt beizuwohnen. Es waren zu derselben über dreihundert Billetts ausgegeben worden, und sechzehn Wagen wurden von den beiden Lokomotiven ›Adler‹ und ›Pegasus‹ gezogen. Auf dem vordersten Wagen wehten Fahnen in den preußischen Farben und mit dem preußischen Adler geschmückt. Dieser und die Lokomotiven waren gleichfalls mit Laubgewinden geschmückt.

Kurz vor zwölf Uhr wurde das Zeichen zum Einsteigen gegeben; auf dem ersten Wagen befand sich ein Musikchor und unter schmetterndem Hörner- und Trompetenklang und den Freudenschüssen aufgestellter Böller, setzte sich mit dem Schlag zwölf Uhr der Zug in Bewegung. Ein schneidendes Pfeifen gab das Signal zur Abfahrt. Sie begann in langsamem Tempo, wuchs aber mit jeder Sekunde, bis sie jene rapide Schnelligkeit erreicht hatte, wodurch die Eisenbahnen ihren so glänzenden Sieg über alle sonstigen Mittel des Fortkommens erfechten. Einige Reiter versuchten eine Zeit lang den Wagenzug zu begleiten, doch schon nach wenigen Minuten konnten die erschöpften Pferde nicht mehr in gleicher Schnelligkeit folgen.«29

Über die Beförderungsbedingungen blieb keiner der ersten Fahrgäste in Zweifel. Jeder durfte nur so viel Gepäck mitnehmen, wie er auf dem Schoß halten konnte, ohne den Nachbarn zu belästigen. Das Rauchen war nur in der dritten, der Holz-Klasse, erlaubt. Dreimaliges Abläuten in Abständen von jeweils fünf Minuten rief zum Zuge; die Wagentüren durften nur vom Zugpersonal geöffnet und geschlossen werden.

Welche vielfältigen Auswirkungen die Eröffnung der Linie Berlin–Potsdam nach sich zog, brachte der Schriftsteller Willibald Alexis (eigentlich Wilhelm Häring) in einem Beitrag für das Morgenblatt für gebildete Stände wie folgt auf den Punkt: »Gehen Sie die Leipziger Straße entlang, die zur Eisenbahn führt, man kennt sie nicht wieder; ein Hin- und Rückstrom von Fußgängern, Droschken, Kutschen und andern Fuhren; die festen, massiven Häuser dröhnen unter der fortwährenden Erschütterung, und Bewohner, welche vordem hier eine stille, schöne Straße, mit den Vorzügen von naher Landluft und Grün der Räume und des Feldes gesucht, möchten wieder tiefer in die Stadt hinein, um die verlorne Ruhe zu suchen. Wahrscheinlich wird die Industrie künftig die große Leipziger Straße bevölkern und eine Reihe Läden die Erdgeschosse einnehmen. Das sind nur die Erschütterungen und Umwälzungen, veranlaßt durch den Zustrom zur Potsdamer Eisenbahn; das Kochen und Donnern und Rasseln der Lokomotiven, die Dampfwolken und das Kreischen und Pfeifen der sich entladenden Kessel verändern vor dem Thore die Physiognomie der Stadt vollends. […] So mißtrauisch man Alles, was die Direktion gerade dieser Bahn unternahm, verfolgte, jetzt ist die Sache in’s Leben getreten, ihre gedeihliche Wirksamkeit ist augenfällig und handgreiflich, zwei Residenzstädte, zu den Zeiten unserer Großväter noch durch eine beschwerliche Tagereise getrennt, sind eins geworden, nur durch den leichten Weg von 3/4 Stunden getrennt. Potsdam wandert nach Berlin und Berlin nach Potsdam …«30

Im Dezember 1838 stand in den von 37 souveränen Bundesstaaten und vier freien Städten geprägten deutschen Landen die gegenüber Belgien verzögerte Eröffnung der ersten Staatsbahn auf dem Plan, nahm die Herzoglich Braunschweigische Staatseisenbahn die Strecke Braunschweig–Wolfenbüttel in Betrieb. Und nun stelle ich das Signal auf Rot. Eine qualvoll ermüdende Aufzählung und Kommentierung all der neuen Strecken und Eisenbahnlinien, die in den folgenden Dezennien zumeist ausgehend von Groß-, Hafen- und Residenzstädten sowie den Industriezentren in Betrieb genommen wurden, tut hier nicht not. Für fast alle von ihnen liegen im Übrigen ausführliche (lokal-)historische Abhandlungen vor.31

Aufgrund der deutschen Kleinstaaterei und auch der Konkurrenz zwischen den zunächst dominierenden Privatbahnen vollzogen sich Eisenbahnbau wie Strecken- und Linienführung im Laufe des 19. Jahrhunderts eher wildwüchsig als sinnvoll aufeinander abgestimmt – eine Tatsache übrigens, die sich bis heute im Schienenverkehr auswirkt. Der Bahnexperte Winfried Wolf erhellt: »Die Regierungen der einzelnen Länder, die mit dem Deutschen Bund lediglich über einen Zollverein verfügten, hatten das Interesse, möglichst viele Eisenbahnlinien auf ihrem Staatsgebiet zu konzentrieren, da hierdurch ein Maximum an Fracht- und Zolleinnahmen erzielt wurde. Entsprechend verlaufen einzelne Strecken – beispielsweise die Schwarzwaldbahn, die Verbindung München–Lindau und diejenige zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel – nicht entlang des kürzesten Wegs und auf dem Gelände, das einen kostengünstigen Bau des Schienenstrangs ermöglicht hätte, sondern entlang der Landesgrenzen: bei entsprechend unnötig verlängerten Schienenkilometern, gesteigerten Baukosten und den zum Teil bis heute bestehenden erhöhten Transportkosten.«32

In der bis in die 1840er Jahre reichenden ersten Periode der Entstehung der deutschen Eisenbahn ging es vor allem um die Planung und Festlegung der Strecken, denen überwiegend lokal-regionale Interessen zugrunde lagen. Die Finanzierung wurde fast ausschließlich durch private Mittel gedeckt, weil die Bundesstaaten und Freien Städte entweder kein Interesse am Bahnbetrieb hatten oder finanziell noch im zu jener Zeit stark vorangetriebenen Chausseebau engagiert waren. Die tonangebenden Kreise der Wirtschaft drangen indes nachdrücklich auf Herstellung eines dichten Eisenbahnnetzes. Nicht zuletzt Friedrich List strich sie immer wieder heraus – 1838 etwa in der Schrift Das deutsche National-Transport-System in volks- und staatswirthschaftlicher Beziehung. Seine Kernaussage verdient es schon hinsichtlich des zu jener Zeit virulent werdenden »Eisenbahnfiebers«, noch einmal ins Bewusstsein gerufen zu werden:

»Der wohlfeile, schnelle, sichere und regelmäßige Transport von Personen und Gütern ist einer der mächtigsten Hebel des Nationalwohlstandes und der Civilisation nach allen ihren Verzweigungen. […] Was die Dampfschifffahrt für den See- und Flußverkehr, ist der Eisenbahn-Dampfwagentransport für den Landverkehr, ein Herkules in der Wiege, der die Völker erlösen wird von der Plage des Kriegs, der Theuerung und Hungersnoth, des Nationalhasses und der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit und des Schlendrians; der ihre Felder befruchten, ihre Werkstätten und Schachte beleben und auch den Niedrigsten unter ihnen Kraft verleihen wird, sich durch den Besuch fremder Länder zu bilden, in entfernten Gegenden Arbeit und an fernen Heilquellen und Seegestaden Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu suchen. […] Eine neue Erfindung ist umso wichtiger und segensreicher, je mehr sie auf das Wohlsein und die Bildung der arbeitenden Classen, also der großen Mehrzahl der Völker wirkt. Nach diesem Maßstabe betrachtet, sind die Eisenbahnen die größte Erfindung der alten und neuen Zeit; sie sind eigentliche Volkswohlfahrts- und Bildungsmaschinen. […]

Wie unendlich wird die Cultur der Völker gewinnen, wenn sie in Massen einander kennen lernen und ihre Ideen, Kenntnisse, Geschicklichkeiten, Erfahrungen und Verbesserungen sich wechselseitig mittheilen. Wie schnell werden bei den cultivirten Völkern Nationalvorurtheile, Nationalhaß und Nationalselbstsucht besseren Einsichten und Gefühlen Raum geben, wenn die Individuen verschiedener Nationen durch tausend Bande der Wissenschaft und Kunst, des Handels und der Industrie, der Freundschaft und Familienverwandtschaft mit einander verbunden sind. Wie wird es noch möglich sein, daß die cultivirten Nationen einander mit Krieg überziehen, wenn die große Mehrzahl der Gebildeten mit einander befreundet sind …«33

Lists Vision einer Eisenbahn, die »die Individuen verschiedener Nationen« durch »tausend Bande« eng und friedlich miteinander verbindet, erfüllte sich leider im späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht. Heftig verspätet, also erst seit dem Bestehen der heute als EU firmierenden europäischen Gemeinschaft, tut sie es nun aber sehr wohl. Zumal mittels der 1972 vom Internationalen Eisenbahnverband (UIC) ins Leben gerufenen »größten Friedensbewegung Europas«, sprich den InterRail-Offerten, die jungen Rucksacktouristen das Bereisen europäischer Staaten durch eine günstige Fahrkarte erleichtern und das gegenseitige Kennenlernen fördern sollen.34 Der 2016 im EU-Parlament erörterte Vorschlag, allen jungen Leuten der Union zum achtzehnten Geburtstag ein kostenloses InterRail-Ticket in die Hand zu drücken, scheiterte allerdings an der EU-Kommission. Viel zu teuer, wehrte sie ab und fügte hinzu, sie könne unmöglich nur ein einziges Verkehrsmittel bezuschussen, sprich die Eisenbahn gegenüber dem Flugzeug und Kraftfahrzeug bevorzugen. Inzwischen verliert InterRail bezeichnenderweise an Attraktivität, weil die Fahrkartenpreise im Vergleich zu den Angeboten der Billigflieger und Fernbusse vergleichsweise hoch sind.35

In den 1830er Jahren tickten die Uhren noch ganz anders, verfehlten Vorschläge für die grundsätzliche Bevorzugung des freilich von anderen mechanischen Landverkehrsmitteln noch nicht bedrängten Eisenbahnsystems nach einigem Hin und Her ihre Wirkung nicht. Die damals in England zugleich in den Verkehr gebrachten Dampf-Straßenfahrzeuge blieben bezeichnenderweise gleichsam auf der Strecke, weil sie vom Gesetzgeber durch den »Red-Flag-Act« ausgebremst wurden.36 Wobei die mit tierischer Zugkraft operierende Personenpost, die einen hohen Stand der Organisation und Flächenabdeckung erreicht hatte, für die frühen Eisenbahner durchaus von Nutzen war. Sie griffen bei der Gestaltung der Betriebsabläufe und der Tarife nur zu gern auf die Erfahrungen der Post mit ihren Eil- und Schnellposten zurück.

Die Eisenbahn erschloss – im Zusammenspiel mit der Dampfschifffahrt – den Raum und damit die Weltmärkte, was wiederum eine Produktivkraftsteigerung befeuerte. Sie verband Städte und Industrieregionen und bahnte dem Tourismus den Weg in entlegene Bergwelten und Küstenstriche. Sie schuf neue Städtehierarchien, Bahnknotenpunkte und Industriezentren in Agglomerationen, die zuvor geografisch eher ungünstig gelegen hatten. Sie stützte das Fabriksystem und erzwang nicht zuletzt die Vereinheitlichung der Zeit: in England seit den 1840er Jahren, im deutschen Kaiserreich mit einiger Verspätung ab 1893 – ich komme darauf zurück.

Eine wirkungsvolle technische Ergänzung des bahnmaschinellen Ensembles gewährleistete der elektrische Telegraf. Er ermöglichte die signalgesteuerte Aufteilung der Strecken in sicherheitsförderliche Blockabschnitte. Die Telegrafie beflügelte nicht zuletzt die Unternehmer Siemens & Halske; sie gründeten 1847 in Berlin eine »Telegraphenbauanstalt«, die zu einem führenden Elektrokonzern gedieh.

Die neue Transporttechnologie und -organisation revolutionierte im Laufe des 19. Jahrhunderts den Verkehrssektor wie die Mobilität. Und zwar nicht nur auf der Schiene. Auf den Flüssen und Meeren sorgten Dampfboote und -schiffe für verkürzte Fahrtzeiten, höhere Transportleistungen und sinkende Preise (übrigens auch für die durch das Bevölkerungswachstum zur massenhaften Auswanderung gezwungenen Europäer). Die Dampfkraft multiplizierte die Transportgeschwindigkeit zu Wasser und zu Lande bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts um gut das Zehnfache. Die modernen Verkehrsmittel des 19. Jahrhunderts, so zeigte sich, fuhren immer schneller, immer weiter, immer öfter und regelmäßiger und tendenziell immer sicherer.

Bemerkenswerterweise avancierte das 19. Jahrhundert nicht nur zum goldenen Zeitalter der Eisenbahn, sondern auch zu dem der Pferdewirtschaft.37 Allein von 1845 bis 1900 verdoppelte sich der deutsche Pferdebestand, stieg der Gebrauch und Verbrauch von Pferden in der Landwirtschaft ebenso wie im Straßenverkehr nachhaltig an, wo sie Omnibusse, Droschken und Kutschen aller Art zogen. Mit jeder neuen Bahnlinie und mit jedem neu erbauten Bahnhof wuchs schließlich der Bedarf an lokalen Zubringer- und Verteildiensten. Pferde blieben auch auf all den von Eil- und Schnellposten bedienten Landverbindungen unersetzlich, die von der Eisenbahn noch nicht abgedeckt wurden.

Die im Zuge der industriellen Revolution ins Rollen gebrachte Eisenbahn revolutionierte das gesamte ökonomische Geschehen. Sie forcierte nachhaltig die produktivitätssteigernde Arbeitsteilung und Spezialisierung der Betriebe. Die auf eine Beschäftigung in der Industrie hoffenden Lohnarbeitskräfte zog es wie magisch in oder in die Nähe der neuen Industriezentren, wo sie massenhaft nach Unterkunft suchten. Die dadurch zu einem rasanten und für die Bauwirtschaft höchst profitablen Wachstum verurteilten Städte sprengten gleichsam ihre traditionellen Grenzen und machten das Umland zum Einzugsbereich. Eine Stadt nach der anderen verlor ihre fußgängerfreundliche mittelalterliche Prägung. Berlin etwa wuchs zwischen 1800 und 1900 von 172 000 auf 1,9 Millionen Einwohner an. Im Zuge der von Zügen beschleunigten Industrialisierung entstanden rasterförmig angelegte Mietskasernen und spezielle Eisenbahnerviertel, Slums, Geschäftsstraßen, Büroviertel. So kam es zur Auftrennung in proletarische und bürgerliche Stadtteile.

Die Eisenbahn hob das herkömmlich übliche Wohnen und Arbeiten am gleichen Ort oder in einem engen Umkreis auf und schuf den Ein- und Auspendler, der täglich oder wöchentlich für den Weg zur Arbeit seine Wohngemeinde verlassen muss. Die Transformation der Städte und Ballungszentren in Spielflächen des Massennahverkehrs ging einher mit dem Ausbau der Droschkendienste, der Straßenbahn- und Omnibusnetze sowie schließlich der Hoch- und Untergrundbahnen – Berlin entschied sich bereits 1874 für den Bau einer Hochbahn; 1902 wurde dort die erste deutsche U-Bahnlinie eröffnet. Was Wunder. Ende des 19. Jahrhunderts war der Stadtdurchmesser der Metropole bereits auf über fünfzehn Kilometer gesprungen. »Gleichzeitig nahm die Zahl der täglichen Einpendler stark zu«, verdeutlicht Hans Jürgen Teuteberg anhand der Pendlerstatistik, die für eine Reihe deutscher Städte zu dieser Zeit gut belegt ist: »1900 legten in Berlin täglich 29,8 Prozent 6–7 km, 19,7 Prozent 4–5 km, 16,7 Prozent 3–4 km und 14,5 Prozent mehr als 8 km täglich zurück. […] Die Zahlen zeigen, dass Berlin sich in drei Jahrzehnten aus einer ›Fußgängerstadt‹ in eine ›Fahrstadt‹ verwandelte. Bis 1891 kostete die billigste Fahrkarte 3. Klasse von Berlin-Mitte (Friedrichstraße) zum Vorort Steglitz auf der Stadteisenbahn noch 30 Pfg., eine Rückfahrkarte 50 Pfg. […], was für den einfachen Haushalt als regelmäßige Ausgabe nicht in Frage kam. Zudem fuhren die Züge im Abstand von 1 ½ Stunden ohne weitere Anschlussverbindungen. Erst die Einführung der verbilligten Vororttarife 1891 machte es wenigstens bürgerlichen Mittelschichtfamilien möglich, den ständig steigenden Mietpreisen im Citybereich den Rücken zu kehren und sich weiter draußen anzusiedeln.«38 Ermäßigte Vororttarife trieben ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert in vielen Großstädten das Wachstum und auf den Eisenbahnen das Fahrgastaufkommen an.

Die Eisenbahn machte im Verbund mit den Nahverkehrsmitteln die Menschen nachhaltig mobil – nicht zufällig war das Wachstum des Personentransports im Verlauf des 19. Jahrhunderts quantitativ höher als das des Gütertransports.39 Sie erzwang im Gleichklang mit der Industrialisierung eine Neustrukturierung des Alltagslebens und erzeugte eine neuartige Wahrnehmung und zugleich psychische Neujustierung. Für die herkömmlich den Zeitverbrauch (eines Fußmarsches oder Tagesrittes) messenden Menschen veränderte die Eisenbahn das Zeitgefühl, weil sie plötzlich die Geschwindigkeit zum entscheidenden Kriterium machte; sie vernichtete den Raum, weil sie einst riesig erscheinende Entfernungen in Abfahrts- und Zielorte zusammenzog, indem sie sich als maschinelles Ensemble zwischen den Reisenden und die Landschaft schob und damit kein bewusstes Durchstreifen des Raums mehr erlaubte, ihn nur mehr vorbeiziehen ließ.40

Und noch etwas löste die Eisenbahn aus: eine vielschichtige Erwartungshaltung der Reisenden, der sie bis heute keinesfalls immer gerecht wird.

Pünktlich wie die deutsche Bahn?

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