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Schloss Mespelbrunn, Spessart

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»Arkan, hierher!«, rief Julius Echter dem davonjagenden Hund nach.

Doch es nützte nichts. Die schwarzbraune Dachsbracke hetzte weiter und kümmerte sich nicht um die Befehle des Fünfjährigen. Arkan hatte vermutlich einen Hasen aufgespürt, jetzt gab es für ihn kein Halten mehr. Der Hund war erst sechs Monate alt und seine Ausbildung noch nicht weit fortgeschritten; eigentlich hätte Julius ihn gar nicht mit in den Wald nehmen dürfen. Aber der blonde dünne Fünfjährige hatte nicht widerstehen können. Schließlich war es sein Hund, denn er hatte den Welpen aus dem Wurf ausgesucht, oder umgekehrt.

Der damals acht Wochen alte Arkan war mit wedelnder Rute und auf tapsigen Pfoten geradewegs auf Julius zugekommen und hatte sich in dessen Schoß zusammengerollt. Die Ausbildung des Welpen oblag dem Förster Korbinian, der seit Jahren für die Echters arbeitete. Schließlich sollte der Hund einmal ein erfolgreicher Spürhund werden. Arkan hatte zwar schon einiges gelernt, doch er hörte nicht auf einen kleinen Jungen, sondern auf Korbinian.

Wieder und wieder brüllte Julius dem Hund hinterher, rannte so schnell er konnte und blieb irgendwann keuchend stehen. Arkan würde erst zurückkommen, sobald er entweder den Hasen – oder was auch immer ihm in die feine Nase gestiegen war – erlegt hatte oder seine Beute entkommen war. Was dagegen sicher war: Julius konnte sich auf eine Strafpredigt gefasst machen.

Rascheln und das laute, wütende Grunzen eines durch das Unterholz brechenden Wildschweins drangen an seine Ohren, gepaart mit Arkans aufgeregtem Gebell und plötzlichem schrillem Aufjaulen. Julius blieb vor Schreck beinahe die Luft weg. Angestrengt horchte er in das Gebüsch hinein, hörte, wie das Wildschwein sich entfernte, dann ein schwaches Winseln.

»Arkan?«

Das Herz des Jungen hämmerte vor Angst und Aufregung, als er den kläglichen Hundelauten folgte und Arkan schließlich am Fuße einer Fichte liegen sah. Blut rann aus einer tiefen, klaffenden Wunde am linken Hinterbein und tränkte den Waldboden. Julius fiel auf die Knie, schob beide Arme unter den Körper des Hundes und kam mit zitternden Beinen zum Stehen. So schnell er konnte, lief er durch den Wald, den schwer verletzten Hund an sich gedrückt.

»Julius! Julius, wo steckst du?« Michel Vetterer, der treue Hausknecht der Familie Echter, rief nach ihm.

»Hier! Michel, hilf mir!« Die Stimme des Jungen klang dünn und gequält. Julius weinte, ohne es zu bemerken. Tränen rannen seine Wangen hinab, tropften auf Arkans seidiges Fell. Dann stand er plötzlich am Waldrand vor dem Knecht, der scharf die Luft einsog, als er den verletzten Hund sah.

»Gib ihn mir«, sagte er und nahm das Tier sanft aus Julius’ Armen. »Geh, und lauf zu Korbinian, schnell! Er wird wissen, was zu tun ist«, drängte Michel. »Ich bringe Arkan zum Schloss.«

Julius stürmte los zum Forsthaus, das ganz in der Nähe des Schloss Mespelbrunn umgebenden Sees lag.

Wenig später kam er in Begleitung des Försters über die heruntergelassene Zugbrücke durchs Tor. Im Innenhof hatte Michel bereits den Hund auf eine alte Decke gelegt. Wortlos kniete sich Korbinian nieder, betastete vorsichtig die Wunde, die inzwischen zu bluten aufgehört hatte.

»Michel, besorg sauberes Leinen und verdünnten Wein, ich bin gleich wieder hier«, ordnete der Forstmeister an.

Julius blieb bei seinem Schützling, redete auf ihn ein und streichelte seinen Kopf.

Eiligen Schrittes kehrte Korbinian mit einem Beutel zurück. Er spülte die Wunde mehrfach mit Wein und entfernte das Fell um die Wundränder mit einem scharfen Messer, während Michel den Hund festhielt. Dann nahm er eine Salbe aus dem Beutel und trug sie auf die nun sichtbare rosafarbene Haut auf.

»Wofür ist das?« Julius schluckte, als er sah, wie Arkan zusammenzuckte und wieder zu winseln begann.

»Die Opiumsalbe nimmt Arkan die Schmerzen«, brummte Korbinian, ohne aufzusehen.

Nachdem er die Wunde mit einem Pferdehaar vernäht und eine kleine Öffnung gelassen hatte, damit später der Eiter abfließen konnte, bestrich er ein Leinentuch mit Honig, legte es auf die Wunde, nahm ein weiteres Tuch, faltete es geschickt und brachte einen Verband an.

»Ich nehme Arkan mit zu mir, damit ich ihn weiter versorgen kann. Er bekommt einen Lederkragen, so kann er sich den Verband nicht abreißen.«

»Wird er wieder gesund?«, fragte Julius mit trockenem Mund.

»Ich weiß es nicht, doch wenn er es schafft, ist er wahrscheinlich als Jagdhund nicht mehr zu gebrauchen«, erwiderte der Forstmeister missmutig.

Julius stand mit gesenktem Kopf vor seinem Vater im Jagdzimmer des Schlosses und weinte. Die ausgestopften Köpfe der erlegten Hirsche, Böcke und Keiler an den Wänden schienen anklagend auf ihn herunterzustarren.

»Hör auf zu weinen. Du enttäuschst mich, mein Sohn. Es war dir verboten, Arkan mit in den Wald zu nehmen, und trotzdem hast du es getan. Wenn er stirbt, ist es deine Schuld, nicht die des Keilers. Dem Herrn sei Dank, dass unser Forstmeister auch heilkundig ist und weiß, wie man verletzte Tiere behandelt. Doch trotz seiner Kunst liegt es allein in Gottes Hand, ob Arkan überlebt.«

Nachdem sein Vater ihn entlassen hatte, ging Julius zur Kapelle, die sich im kleineren der beiden Schlosstürme befand. Der Ballsaal im Erdgeschoss, durch den man zur Kapelle gelangte, war verlassen, worüber Julius froh war. Oft spielten er und seine Brüder dort Ball, wenn der Hauskaplan sie aus dem Unterricht entließ. Julius kniete sich in eine der Gebetbänke, auf deren hölzerner Front das Echterwappen prangte. Ein silberner Balken mit drei blauen Ringen, gekrönt von einem blausilbernen Helm, dessen Büffelhörner ebenso mit Ringen verziert waren. Das durch die Glasfenster fallende Sonnenlicht erleuchtete die winzige Kapelle und tauchte die farbigen Heiligenbilder an der Gewölbedecke in warmes Licht. Stumm betete der Junge zum Allmächtigen, er möge ihm vergeben und Arkan gesund werden lassen. Gelobte, sich fortan um Schwächere und weniger Begünstigte zu kümmern. Zeit seines Lebens.

Sein Vater hatte ihm mehr als deutlich gemacht, was er von ihm erwartete. Er, Julius, sei der Kirche versprochen und solle ein würdiger Diener Gottes werden. Ein Pfeiler des Glaubens auf dem Fundament der Nächstenliebe – das waren seine eindringlichen Worte gewesen. In eine ehrenhafte und reiche Familie hineingeboren worden zu sein, bedeute auch, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Irgendwann erhob sich Julius mit schmerzenden Knien und verließ die Kapelle. Traurig und mit hängenden Schultern schlich er durch die Gänge des Schlosses.

»Julius, was ist mit dir?«

Plötzlich stand er vor Christina Alberdinen. Die zwergenhafte Magd mit ihrer verwachsenen Schulter war nur wenig größer als er. Sie war die gute Seele auf Mespelbrunn und wurde von allen geliebt, besonders von den Kindern, Adolf, Julius und Sebastian. Meist hütete sie die kleine Schwester der Echterbrüder, Margarethe, und kümmerte sich um den wenige Monate alten Valentin, der im Mai zur Welt gekommen war.

Julius begann zu schluchzen und stürzte sich in Christinas Arme. Sie drückte ihn an ihren üppigen Busen, und nachdem er sich etwas beruhigt hatte, fasste sie nach seiner Hand und führte ihn in die Schlossküche mit ihrem Kreuzrippengewölbe. Warm und behaglich war es hier. Über dem Herd baumelten Kupfertöpfe und Pfannen unterschiedlicher Größe. Die Köchin bereitete das abendliche Mahl zu, und es duftete bereits köstlich.

»Setz dich, mein Junge«, sagte Christina.

Auf dem gemauerten Wandvorsprung neben dem großen Backofen stand ein frisch gebackenes, süßes Brot gefüllt mit Rosinen und Nüssen. Die kleinwüchsige Magd schnitt zwei dicke Scheiben ab, legte sie auf einen einfachen Teller und brachte ihn an den Tisch. Dann nahm sie Julius auf den Schoß und sah ihn aufmerksam an.

»Und nun erzählst du mir, was dich so bedrückt.«

Während Julius von seinem Ungehorsam, den Geschehnissen im Wald und von seiner Angst um Arkan berichtete, brach Christina immer wieder ein kleines Stückchen Brot ab und reichte es ihm, wenn er ins Stocken geriet und die Tränen zurückdrängte. Am Ende war das himmlisch schmeckende Brot aufgegessen. Julius fühlte sich erleichtert und so voller Zuversicht, Arkan werde wieder gesunden, dass sich sogar ein Lächeln auf sein Gesicht stahl.

Er schmiegte seinen Kopf an Christinas Halsgrube und murmelte schläfrig: »Wie nennt man dieses Brot?«

»Ich nenne es Seelenbrot«, antwortete sie und strich dem Jungen sanft über den blonden Schopf. »Es ist mit Liebe gebacken.«

Der Pfeiler der Gerechtigkeit

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