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1572 - 1578
Würzburg

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Im kalten Nieselregen stand der dreizehnjährige Simon am Grab seines Vaters und fror erbärmlich. Es war Anfang November, und neben ihm zitterte seine Mutter, Anna, die stumm weinte und die Hände vor dem Körper gefaltet hatte. Seine kleine Schwester Barbara hatte ihre rechte Hand in Simons Linke gelegt und schluchzte leise. Tränen rannen ihre blassen Wangen hinab und Rotz lief aus ihrer Nase. Simon spürte einen dicken Kloß im Hals, als der Priester die Grabstelle mit Weihwasser besprengte, das Kreuzzeichen schlug und den Sargträgern mit einem Kopfnicken bedeutete, die letzte Ruhestätte seines Vaters abzulassen.

Viele waren gekommen, um dem Bildhauermeister Gebhard Reber das letzte Geleit zu geben. Simons Vater war ein angesehener und beliebter Bürger der Stadt gewesen. Wahre Kunstwerke hatte er hervorgebracht, und wer es sich leisten konnte, der ließ sich Grabplatten und Skulpturen fertigen, aber auch Rosenkränze, die Gebhard aus den bei der Bildhauerei anfallenden Bruchstücken herstellte. Doch das vermochten nur die Adligen, Fürstbischof Friedrich von Wirsberg und die gut betuchten Bürger und Amtmänner. Gebhard hatte gute Geschäfte mit reichen Kaufleuten gemacht, die kleinere Statuen für ihn verkauften, und so ein hübsches Vermögen angehäuft. Schon als junger Mann war er bis nach Florenz gezogen, um seine Kunst bei den Meistern der Bildhauerei zu erlernen. Simon hatte nie genug von seines Vaters Geschichten bekommen und beschlossen, wenn er einmal alt genug war, auch in die fernen Lande jenseits der Alpen zu ziehen.

Die Trauergäste zogen vorbei, schüttelten der Mutter die Hand, manche strichen Barbara mitleidig über den Kopf, und der eine oder andere legte Simon die Hand auf die Schulter.

»Dein Vater war ein guter Mann, sei tapfer, Junge.«

Als der letzte Händedruck erfolgt war, blieb Gebhards Familie noch einen Augenblick stehen, um einen letzten Blick auf den Sarg zu werfen, bevor der Totengräber das Grab zuschaufelte. Anna Reber legte die Arme um die Schultern ihrer Kinder und drückte sie an sich.

»Nun kommt, ihr beiden, der Leichenschmaus im ›Stachel‹ wartet schon.«

Der ›Stachel‹ war mehr als zweihundertfünfzig Jahre alt, und das Weinhaus hatte einst für geheime Zusammenkünfte während des Bauernkrieges gedient. Der Bildhauer und Ratsherr Tilman Riemenschneider hatte sich dort mit den Reichsrittern Götz von Berlichingen und Florian Geyer getroffen, um sich gegen den damals regierenden Fürstbischof Konrad von Thüngen zu verbünden. Nur wenige Wochen hatte der Aufstand in Würzburg gedauert. Den Soldaten des Bischofs, unterstützt vom Schwäbischen Bund, hatte das Bauernheer nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Am Ende waren Tausende Bauern tot, die Anführer verhaftet und gefoltert und mehrere Bürger auf dem Fischmarkt enthauptet worden.

Drinnen war es warm und der Geräuschpegel hoch. Simon rieb sich die kalten Hände und legte sie um den Becher mit dem verdünnten heißen Würzwein. Der deftige Linseneintopf mit Speck, seines Vaters Lieblingsspeise, wärmte ihn von innen und erweckte seine blau gefrorenen Zehen wieder zum Leben. Auf dem Friedhof hatte er noch gedacht, er brächte vor Trauer keinen Bissen hinunter, doch wider Erwarten schmeckte es ihm. Auch Barbara löffelte den Teller leer und wischte ihn mit einem Stück Brot aus. Dann kuschelte sie sich an ihren Bruder, lehnte den Kopf an seine Schulter und gähnte herzhaft.

Gemeinsam mit ihnen am Tisch saßen der Schreinermeister Johann Stamitz, Bäckermeister Melchior Bernbeck, zwei Zimmerleute und drei Steinmetze. Sie priesen Simons Vater und leerten dabei einen Krug Wein nach dem anderen. Simon erging es kaum anders als seiner kleinen Schwester, die längst eingeschlummert war, auch er verspürte eine bleierne Müdigkeit. Doch dann horchte er auf.

»Anna, was hast du nun vor?«, fragte Stamitz.

»Ich werde das Haus verkaufen. Eigentlich sollte Simon einmal Gebhards Werkstatt übernehmen, aber daraus wird wohl nichts werden.« Ihre Stimme zitterte, die Trauer drohte sie zu überwältigen.

»Sag ihm, er soll bei den Steinmetzen anfragen. Zumindest lernt er dort, wie man welchen Stein bearbeiten muss und kann. Und wenn er die Begabung seines Vaters geerbt hat, dann wird er eines Tages ebenso kunstvolle Statuen erschaffen.«

Anna berührte Stamitz kurz an der Schulter. »Du bist ein guter Mensch, Johann. Aber die Steinmetze ziehen von Baustelle zu Baustelle, ich weiß nicht, ob das das Richtige für ihn ist. Er soll nicht auch noch von mir fortgehen.«

Einen Monat später wurde das Haus samt Werkstatt für zweihundert Gulden an einen Goldschmied veräußert, und Anna mietete ein kleineres Haus für sich und ihre Kinder. Das Geld aus dem Verkauf hütete sie wie einen Schatz und sparte, wo sie konnte, bis sie wusste, wie es mit ihr weitergehen sollte. Sie war erst achtundzwanzig Jahre alt und zu jung, um ewig Witwe zu bleiben. Niemals hatte sie damit gerechnet, dass Gebhard so früh von ihr gehen würde. Er war so stark und immer gesund und fröhlich gewesen. Und nun war er mit sechsunddreißig ins Grab gestiegen.

Nur eine kleine Wunde war es gewesen, die ihm den Tod gebracht hatte. Ein rostiger Nagel hatte Gebhards Schuhsohle durchbohrt und war in seiner Ferse stecken geblieben. Fünf Tage nachdem der Nagel herausgezogen worden war, hatten die Krämpfe begonnen. Anna hatte Gebhard zum Stadtarzt geschickt, doch dieser war hilflos gewesen. Gebhards Kiefer weigerten sich, sich vollständig zu öffnen, und es hatte ausgesehen, als lächle er. Ein geradezu teuflisches Grinsen war es gewesen. Sprechen war ihm unmöglich gemacht, und der nächste Krampf hatte seine Wirbelsäule bis aufs Äußerte durchgebogen. Schließlich war Gebhard jämmerlich erstickt.

Anna besaß nun genug Geld, um ihre Kinder durchzubringen. Gebhard hatte viele Gulden verdient und beiseitegelegt. In der Truhe auf dem Dachboden waren vierhundertfünfzig Gulden verstaut gewesen, und hinzu kam noch das erkleckliche Sümmchen aus dem Verkauf des Hauses. Aber all die Münzen würden nicht auf ewig reichen. Nahrung war teuer geworden, die Miete betrug zwanzig Gulden im Jahr, und eine Magd erhielt einen Jahreslohn von zwölf Gulden. Hinzu kamen noch Kosten für Brennholz, Kerzen, Kleidung und Schuhe. Simon schoss in die Höhe und brauchte allein zwei neue Paar Schuhe und Stiefel im Jahr, von den Hosen ganz zu schweigen. Sie würde arbeiten müssen. Oder neu heiraten.

Anna war das siebte und jüngste Kind ihrer Eltern, hatte vier Schwestern und zwei Brüder. Ihr Vater betrieb gemeinsam mit ihrer Mutter einen Gasthof in Passau. Dort war ihr einst Gebhard begegnet, der auf der Durchreise gewesen war. In den riesigen Wäldern der Gegend wurden verschiedenste Gesteine und Erze gewonnen, und Gebhard hatte sich selbst davon überzeugen wollen, ob diese gut genug für seine Bildhauerkünste waren.

Annas ältere Geschwister waren bereits ein paar Jahre aus dem Haus, nur sie – mit ihren fünfzehn Lenzen – wohnte noch in einer Kammer unter dem Dach und arbeitete als Schankmagd in der Wirtsstube. Der große Blonde mit den breiten Schultern war ihr gleich aufgefallen, als er den Schankraum betrat und mit einem Lächeln ein Bier und einen Teller Suppe orderte. Noch mehr als von seinen blitzenden blauen Augen war sie von den schmalen, langen Fingern beeindruckt gewesen. Hände, die zugleich zupacken konnten, aber auch zartfühlend aussahen. Gebhard war fast eine Woche geblieben, und Anna hatte jedem Abend entgegengefiebert, um dem Gast das Essen aufzutragen und sich, wenn Zeit blieb, kurz zu ihm zu setzen. Am letzten Tag hatte Gebhard, ohne lange zu überlegen, bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten und sie mit nach Würzburg genommen.

Seufzend flickte Anna das Kleid ihrer Tochter. Mehr schlecht als recht, befand sie, während sie das Ergebnis betrachtete. Als Schankmagd wollte sie nicht arbeiten, und zur Näherin taugte sie nicht. Also blieb ihr doch nur eine zweite Heirat.

Kurz vor Weihnachten starb die Frau des Bäckermeisters Melchior Bernbeck. Auf dem Weg zum Schneider war sie so unglücklich auf dem vereisten und schneebedeckten Kopfsteinpflaster ausgeglitten und mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, dass sie drei Tage später ihren letzten Atemzug tat.

Mitfühlend legte Anna Reber beim Leichenschmaus ihre Hand auf die groben, kräftigen Finger des Witwers.

»Gott sei ihrer armen Seele gnädig. Du musst jetzt stark sein für deine Kinder.«

Melchior legte seine andere Hand über die ihre und räusperte sich vernehmlich.

»Wiltrud war wieder guter Hoffnung, Anna. Das macht den Verlust umso schrecklicher. Die letzten beiden Schwangerschaften hatte sie verloren, und wir hatten schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, noch ein weiteres gesundes Kind zu bekommen.«

»Jesus Christus im Himmel, ich hatte ja keine Ahnung«, entfuhr es Anna und entzog ihm ihre Hand.

»Kaum jemand wusste davon, und unter dem dicken Wintermantel konnte man nichts erkennen.« Er schüttelte den Kopf, als könne er immer noch nicht begreifen, was geschehen war. »Wulf ist fünfzehn, alt genug, um ohne Mutter aufzuwachsen, aber Sibylla ist erst sieben, genauso alt wie deine Barbara.«

Anna nickte nur. Der Bäckermeister und seine Frau hatten viel verkraften müssen. Vor zwei Jahren waren drei ihrer fünf Kinder unter die Räder eines Fuhrwerks gekommen, als die Zugpferde durchgegangen waren und alles, was ihnen im Weg gewesen war, überrannt hatten. Wiltrud hatte diesen Schicksalsschlag nie verwunden. Aus der fröhlichen Bäckersfrau war ein zurückgezogenes, verhärmtes Weib geworden. Anna hatte alles versucht, um Wiltrud aufzumuntern, doch es war ihr nicht gelungen.

»Das Weihnachtsfest wird dieses Jahr kein Fest werden, dabei hat sich vor allem Sibylla so auf das Krippenspiel gefreut«, seufzte Melchior.

»Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam mit unseren Kindern die Feierlichkeiten begehen? Wir gehen in die Christmette und feiern dann das Ende der Fastenzeit«, schlug Anna vor. Melchior sah nicht so gut aus wie sein Bruder Gerfried, dafür besaß er ein Haus, auch wenn es nicht so groß wie das ihre war. Für die Dauer eines Lidschlags tauchte Gerfrieds Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Und mit ihm diese kurze und stürmische Begegnung in Gebhards Werkstatt vor langer Zeit. Einsam war sie gewesen, weil ihr Ehegatte sie, wie so oft, allein gelassen hatte, um sich nach Steinen umzusehen, die seinem Urteil standhielten, um neue Figuren daraus entstehen zu lassen.

Melchior schürzte die Lippen. »Warum nicht? Ja, das ist ein guter Einfall. Und für unsere Kinder wird es so bestimmt ein bisschen einfacher.«

Der Pfeiler der Gerechtigkeit

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