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Sehen

Wir sind ständig dabei, zu sehen: durch Linsen, Teleskope, Bildröhren … Unser Sehen wird jeden Tag weiter perfektioniert – und doch sehen wir immer weniger. Nie ist es dringlicher gewesen, über das Sehen zu sprechen … wir sind Betrachter, Zuschauer … wir sind „Subjekte“, die „Objekte“anschauen. Schnell kleben wir auf alles ein Etikett – ein Etikett, das dann ein für allemal kleben bleibt. Mithilfe dieser Etiketten erkennen wir alles wieder, aber wir sehen nichts mehr.

FREDERICK FRANCK,

Zen in der Kunst des Sehens

In der Nähe meines Hauses gibt es eine Wiese, die mein Auge, wenn ich einen bestimmten Blickwinkel einnehme, besonders erfreut. Ich gehe mehrmals am Tag am unteren Ende dieser Wiese entlang, und zu jeder Jahreszeit gehe ich dort mit dem Hund spazieren. Manchmal gehe ich allein, manchmal in Gesellschaft anderer Menschen, manchmal sogar ohne den Hund. Es spielt keine Rolle. Die Wiese bietet den Vorübergehenden ständig eine Palette von Licht und Schatten, Formen und Farben und fordert dazu heraus, alles, was den Augen, Ohren, der Nase, dem Gaumen und der Haut dort dargeboten wird, auf jede mögliche Weise zu spüren und aufzusaugen. Jeden Tag, jede Stunde, mit jeder vorüberziehenden Wolke, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit ist das, was es hier zu sehen gibt, anders; es verändert sich ständig, wandelt sich mit Licht und Wärme und Jahreszeit von einem Aspekt zum nächsten, wie eine Landschaft mit Bergen und Schluchten – oder wie die Felder mit den Heuhaufen, die Monet verlockten, am selben Ort mit mehreren Staffeleien zu malen, um das unfassbare Licht und seine geheimnisvolle Rolle beim Entstehen von Gestalt und Textur, von Farbe, Schatten und Form einzufangen, während der Tag fortschritt, während die Jahreszeiten sich wandelten. Die Herausforderung besteht darin, zu sehen, dass die Welt, die wir bewohnen, uns tatsächlich überall ein solches Schauspiel bietet. Doch diese spezielle Wiese am Hang eines sanft ansteigenden und unebenen Hügels, mit zwei Stellen, an denen aus dem Boden ragende Felsblöcke die Unregelmäßigkeit noch verstärken, hat eine ganz spezielle katalytische Wirkung auf mich, besonders, wenn ich sie von unten her sehe. Wenn ich meinen Blick darauf ruhen lasse, werde ich irgendwie verändert, sozusagen neu geeicht, feinfühliger auf die innere und die äußere Landschaft eingestimmt.

Sie schmiegt sich an den Hügel, steigt nach Osten hin sanft an, zwischen zwei anderen Wiesen, die unter Naturschutz stehen und deshalb mit Gras überwuchert sind. Die Rückwand einer blassrot verwitterten Scheune begrenzt sie nach Norden, und dahinter liegt die gepflasterte Zufahrt zu einem alten, aber gut erhaltenen weißen New-England-Bauernhaus, das mit seinen unterschiedlichen Gebäudeteilen darauf schließen lässt, dass es (ausgehend vom ältesten Teil direkt an der Straße) im Laufe der Jahre immer wieder planmäßig erweitert und ausgebaut wurde. Am selben Hang schließt sich Richtung Süden eine weitere Wiese unter Naturschutz an, die von dem eingezäunten nur durch eine Doppelreihe aus hohen Eichen und Traubenkirschbäumen getrennt ist, die zu beiden Seiten eine niedrige Steinmauer überwölben, die zweifellos noch aus der Kolonialzeit stammt, als das Land zum ersten Mal gerodet wurde und man die dabei ausgegrabenen schwarzen Granitbrocken einfach am Rand aufstapelte.

Die Wiese, die mich so fasziniert, ist von einem hölzernen Gatter umgrenzt; an dessen Innenseite läuft ein elektrischer Weidezaun um, von dem man vor allem die gelben Isolierknöpfe sieht. Der Elektrozaun soll die zwei jungen Kühe (seine „Babys“ nennt sie unser Nachbar, der Bauer, der sie Teile des Jahres dort grasen lässt) am Weglaufen hindern.

Das Gatter bildet ein unregelmäßiges Fünfeck, das ich lange Zeit für ein Rechteck hielt. Dann sah es auf einmal wie ein Trapez aus. Erst nach sehr eingehender Betrachtung entpuppte es sich schließlich als Fünfseiter. Die westliche, am tiefsten gelegene Seite des Gatters läuft parallel zur höher gelegenen Ostseite, und diese beiden sind so mit der Südseite verbunden, dass sie tatsächlich aussehen wie die zwei gegenüberliegenden langen Seiten eines Rechtecks – die kürzere sie verbindende Seite verläuft geradeaus den Hügel hinauf, parallel zu den zwei Baumreihen mit der Steinmauer dazwischen, die sich südlich anschließen. Nach ein paar Metern Richtung Norden, an einem kleinen Kuhstall vorbei, der unten auf der Westseite steht, läuft das Gatter ein ziemlich langes Stück diagonal nordöstlich den Hügel hinauf. Dann kommt ein Durchgangstor, bei dem diese abfallende Seite auf die kürzeste, die fünfte Seite stößt, die wiederum im rechten Winkel auf die oberste Ecke des Fünfecks trifft. Diese Konfiguration gibt der Wiese und dem Gatter ein zufälliges und unruhiges Aussehen, das sich in die Konturen des Hügels schmiegt und perfekt in den sanften Schwung dieser Landschaft passt. Vom rechten unteren Ende (Südwesten) aus – meinem Lieblings-Standort – ist bis auf das Innere des Kuhstalls und das, was er in meiner Sichtlinie verdeckt, die Wiese ganz zu sehen.

Ich mag diese Wiese. Aus irgendeinem rätselhaften Grund belebt es mein Sehen, wenn ich unten entlanggehe und meinen Blick darüber schweifen lasse. Plötzlich ist die ganze Welt lebendiger.

Ich sitze einen Moment im Schatten und schaue von der südwestlichen Ecke den Hang hinauf. Die Sonne steht an diesem 4. Juli schon ziemlich hoch am Vormittagshimmel und badet die Wiese intensiv in Licht und Wärme. Dank der Baumreihe an der südlichen Ecke wandert ein schmaler, sich ständig verbreiternder Schattenstreifen von rechts nach links über die Wiese. Sie ist verwildert, mit Gras überwuchert, das schon zu Braun- und Goldtönen verdorrt ist und Samen ausstreut. Hier und da sind weiße Farbtupfer zu sehen, Inseln aus zahllosen Gänseblümchen, die die Kühe noch nicht abgerupft haben. Weiße Schmetterlinge flattern umher und gelegentlich auch eine Libelle, eine von der großen Sorte, im schnellen Tiefflug in der trägen Luft über den Gräsern patrouillierend; unbegreifliches Wundergebilde aus prähistorischen Zeiten, mit seinen zwei fein gezeichneten, transparenten, hochgradig multifunktionalen Flügelpaaren. Direkt vor mir stehen am südwestlichen Rand der Wiese zwei hohe Sträucher, und ein Stück weiter überschatten einige höhere Bäume den Kuhstall. Der Tag hat schon jetzt eine dunstige Schwüle. Der Himmel hinter mir ist blau und fast wolkenlos, doch in meinem Gesichtsfeld, gesäumt von den höheren Bäumen jenseits der höher gelegenen Wiese, ist der Himmel ganz weiß.

Wenn ich dann ein Weilchen im Gras gesessen und die Wiese angeschaut habe, gehe ich den Weg unterhalb der Weide und des Bauernhauses wieder zurück, und die Fläche mit rotem Wiesenschwingel zu meiner Linken scheint plötzlich röter zu sein als auf dem Hinweg. Jetzt sehe ich hie und da große violette Flecken im Gras, wahrscheinlich blühende Wicken, die ich zuvor kaum wahrgenommen habe. Die zahllosen gelben Lilien in den säuberlich ausgezirkelten Rabatten am Rande der großen Rasenfläche sind noch gelber, ihre winzigen Bewegungen – fast wie ein Tanz in der leichten Brise – fallen mir plötzlich mehr auf. Ich sehe viel mehr Libellen in der Nähe als vorher und bemerke nun, wie die Schwalben, die mir vorher kaum aufgefallen sind, herumkurven und im Tiefflug über das hohe Gras flitzen, dann hin und her über den Rasen und die prächtigen Beete und Rabatten mit orangefarbenen, roten, rosafarbenen, blauen, violetten und goldenen Blumen (der Bauer liebt Blumen sehr!), das alles umgrenzt von der üppigen Fülle der leuchtend gelben Blüten der Fetthenne, deren saftige grüne Blätter über die weit ausgreifenden, horizontalen Konturen eines zweistufigen Steingartens fließen, der sich am anderen Ende der riesigen Rasenfläche unterhalb des Bauernhauses erhebt.

Wenn ich zur Straße komme, gehe ich nach rechts, bergauf (denn eigentlich ist es ein und derselbe Hügel) zu meinem Haus zurück. Ich weiß, dass die Wiese und der Spaziergang, den ich auf derselben Route heute Nachmittag noch machen werde, völlig anders sein werden, dass deshalb auch ich anders sein werde, anders sein muss, soll heißen: von Neuem präsent für das, was sich den Sinnen in dem Augenblick darbietet, wo ich ankomme. Und so ist es immer wieder, Sommer oder Winter, Frühjahr oder Herbst, gestern oder heute, bei Regen und trübem Wetter und Schnee, in der Nacht unter den Sternen … Ich komme immer wieder von Neuem an. Sie ist immer schon da, so wie sie ist, immer dieselbe Weide – und doch nie dieselbe.

Wenn ich diese Pfade entlanggehe und mich einfach dem Aufmerksam-Sein überlasse, wenn ich mir erlaube, zur „Be-sinnung“ zu kommen und in meinen Sinnen zu leben, gibt es immer weniger Trennung zwischen mir und dem Anblick der Landschaft. Subjekt (der Sehende) und Objekt (das Gesehene) vereinigen sich im Augenblick des Sehens. Sonst wäre es kein wirkliches Sehen. In einem Moment bin ich getrennt von einer konventionellen Szene, wie ich sie mir in meinem Kopf beschrieben habe. Im nächsten Moment ist keine Szene mehr da, keine Beschreibung, nur Hiersein, nur Sehen, nur Aufsaugen durch die Augen und die anderen Sinne, die so rein sind, dass sie das, was sich darbietet, ohne Anleitung, ohne eine Geschichte dazu, ohne einen Gedanken schon längst aufzusaugen wissen. In solchen Augenblicken gibt es nur Gehen, nur Stehen, nur Sitzen oder, was das betrifft, vielleicht auch nur Liegen dort auf dieser Wiese, nur ein Spüren der Luft.

Unter allen Sinnen ist es der Sehsinn, das Reich der Augen, das in der Sprache und in unseren Metaphern dominiert. Wir sprechen von einer „Weltanschauung“ und unseren „Ansichten“; davon, dass wir „Einsichten“ und „Perspektiven“ gewinnen. Wir ermahnen einander, „die Augen aufzumachen“ und zu „sehen“, was sich vom bloßen Hinschauen ebenso unterscheidet wie Zuhören von bloßem Hören oder Schnüffeln von bloßem Riechen. Sehen heißt wahrnehmen, auffassen, aufsaugen, Beziehungen erkennen (einschließlich ihrer emotionalen Beschaffenheit), wahrnehmen, was tatsächlich da ist. Carl Gustav Jung bemerkte einmal, „wir sollten nicht so tun, als verstünden wir die Welt nur durch den Intellekt; wir begreifen sie ebenso sehr durch das Fühlen“. Und Marcel Proust sagte es so:

„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin,

neue Landschaften zu entdecken, sondern darin,

mit frischen Augen zu sehen.“

Wir sehen, was wir sehen wollen, – nicht das, was wir wirklich vor Augen haben. Wir schauen, aber es kann sein, dass wir dabei nicht erfassen oder begreifen. Wir haben alle unsere blinden Flecke und Blindheiten. Und doch können wir, wenn wir entsprechend motiviert sind, unser Sehen justieren, so wie man ein Instrument stimmt, und dadurch seine Sensibilität, seine Reichweite, seine Klarheit und seine Empathie erweitern. Das Ziel wäre, die Dinge mehr so zu sehen, wie sie wirklich sind – statt so, wie wir sie gerne hätten oder wie wir sie fürchten oder wie wir gesellschaftlich konditioniert sind, sie zu sehen oder zu fühlen. Wenn C. G. Jung recht hat, dann begreifen wir auch mit unseren Gefühlen, sicher. Aber dann täten wir gut daran, zutiefst mit ihnen vertraut zu sein und sie richtig zu erkennen, sonst liefern sie uns für die Aufgabe echten Sehens und Erkennens nur eine verzerrte Optik.

Wie auch immer – unser Geist trübt oft (wie er es auch mit den anderen Sinnen tut) unsere Fähigkeit, klar zu sehen. Wenn wir das Leben also voll und ganz erfahren, es voll und ganz in die Hand nehmen wollen, dann müssen wir uns darin üben, durch oder hinter den bloßen Anschein der Dinge zu blicken. Wir werden eine intime Vertrautheit zum Strom des eigenen Denkens kultivieren müssen, der alle sensorischen Welten einfärbt, wenn wir die Landschaften des Inneren und des Äußeren, Ereignisse und Vorfälle, in dem Maße wahrnehmen wollen, wie sie erkannt werden können – in ihrer Tatsächlichkeit, wie sie wirklich und wahrhaftig sind.

*

Ausgehend von hier, woran möchtest Du Dich erinnern?

Wie Sonnenlicht über den glänzenden Boden kriecht?

Wie Duft von altem Holz im Raume schwebt, wie von draußen gedämpfter Laut die Luft erfüllt?

Wirst Du je ein besseres Geschenk für die Welt haben

als den atmenden Respekt, den Du

mit Dir trägst auf Schritt und Tritt? Wartest Du,

dass Dir die Zeit noch ein paar bessere Gedanken zeigt?

Wenn Du Dich wendest, von hier aus, hebe diesen neuen Augenblick, den Du gefunden hast; trag in den Abend alles, was Du Dir von heute wünschst. Diese Atempause, die Du dies lesend oder hörend zugebracht hast, bewahr sie für Dein ganzes Leben –

Was kann irgendjemand Dir geben, was größer wäre als jetzt, ausgehend von hier, hier in diesem Zimmer, wenn Du Dich umdrehst?

WILLIAM STAFFORD,

Der Du dies liest, sei bereit(You Reading This, Be Ready)

Wach werden und unser Leben wirklich leben

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