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Das Mysterium der Sinne und die Magie des Sinnlichen

Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut,

schließt ein neues Organ in uns auf.

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Was fähig ist, zu sehen, zu hören,

sich zu bewegen, zu handeln, das

muss dein ursprünglicher Geist sein.

CHINUL,

KOREANISCHER ZEN-MEISTER,

12. JAHRHUNDERT

Unsere Sinne (und das, was sie erschaffen) sind, wenn man darüber nachdenkt, in jeder Hinsicht völlig verblüffend. Leider betrachten wir sie als etwas Selbstverständliches und ignorieren ihre Tiefe und Tragweite – falls wir sie überhaupt beachten. Unsere Sinne untermauern unsere Fähigkeit, ein erstaunliches Arsenal intelligenter Verfahren zu rekrutieren und zu entwickeln, mit denen wir unser Erleben dekodieren und uns in der Welt der Phänomene positionieren. Mit den Sinnen im Kontakt zu sein – und es sind, wie die moderne Gehirnforschung zeigt, wesentlich mehr als nur fünf – und mit den Welten, die sie uns innen und außen eröffnen: Das ist die Essenz der Achtsamkeit und des meditativen Gewahrseins. Sich ihnen achtsam zu widmen, liefert zahllose Gelegenheiten, im alltäglichen Leben Wachheit, Weisheit und gegenseitige Verbundenheit zu erkennen.

Unter besonderen Bedingungen können sich unsere Sinne außerordentlich verfeinern. Es wird berichtet, dass Jäger der australischen Aborigines, die im Outback leben, mit dem bloßen Auge die größeren der Jupitermonde sehen konnten, so geschärft war ihr Jägerblick. Es scheint, dass wenn bei der Geburt oder vor Vollendung des zweiten Lebensjahres ein Sinn verloren geht, die anderen Sinne eine Schärfe gewinnen können, die das, was wir normalerweise für möglich halten, weit übertrifft. Dies ist durch mehrere Studien belegt, sogar für Sehende, die für kurze Zeiträume (Stunden oder Tage) des Augenlichts beraubt wurden. Sie zeigen dann, mit den Worten des Hirnforschers Oliver Sachs, „einen auffälligen Zuwachs an taktil-räumlicher Sensibilität“.

Helen Keller konnte, wenn sie mit anderen Menschen in einem Raum zusammen war, einfach durch ihren Geruchssinn herausfinden, „was sie arbeiteten. Die Gerüche von Holz, Eisen, Farbe oder Medikamenten hängen in den Kleidern der Leute, die damit arbeiten … Wenn ein Mensch schnell an mir vorbeigeht, bekomme ich einen Geruchseindruck, wo er oder sie gewesen ist – in der Küche, im Garten oder im Krankenzimmer.“

Die verschiedenen isolierten Sinne (wir betrachten sie ja meist als getrennte, sich nicht überlappende Funktionen) schneiden für uns verschiedene Segmente der Welt heraus und verwerten die Rohdaten sensorischer Eindrücke (und unserer Beziehung zu ihnen) zur Konstruktion und Erkenntnis der Welt. Jeder Sinn hat sein ganz eigenes Gefolge von Eigenschaften um sich, aus denen wir nicht nur unser „Bild“ von der „Außenwelt“ bauen, sondern auch Bedeutungen und – Moment für Moment – unsere Fähigkeit, uns in ihr zu verhalten.

Wenn wir die Berichte von Menschen lesen, denen – von Geburt an oder durch spätere Ereignisse – ein oder mehrere Sinneskanäle fehlen, die die meisten von uns besitzen, können wir eine Menge über uns selbst lernen und das, was wir so oft als selbstverständlich voraussetzen. Und wir können ausloten, wie sich für uns die Erfahrung eines so tiefgreifenden Verlustes (das scheint es uns jedenfalls zu sein) anfühlen würde, und von denjenigen lernen, die Wege gefunden haben, trotz solcher Einschränkungen ein reiches Leben zu führen. Und dadurch könnten wir das Geschenk, das uns die Sinne, die wir haben, genau jetzt in diesem Moment bereiten, und das Geschenk unseres praktisch grenzenlosen Potenzials, sie in den Dienst einer (wie zu hoffen ist) stetig wachsenden Bewusstheit für die inneren und äußeren Landschaften unseres Lebens zu stellen, besser schätzen lernen. Denn was wir wissen, wissen wir nur durch das volle Spektrum unserer Sinne, gekoppelt mit jener Fähigkeit des Geistes, die wir „Wissen an sich“ nennen könnten, seiner eigenen sensorischen und integrierenden Funktion.

Helen Keller schreibt:

„Ich bin genauso taub, wie ich blind bin. Die Probleme der Taubheit reichen tiefer und sind komplexer als die der Blindheit. Taubheit ist ein viel schlimmeres Unglück. Sie bedeutet nämlich den Verlust eines zentralen Stimulus – des Klanges einer Stimme, die Sprache transportiert, Gedanken anregt und uns in die Gemeinschaft des menschlichen Intellekts aufnimmt … Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich viel mehr für die Gehörlosen tun, als ich getan habe. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Taubheit ein viel größeres Handicap ist als Blindheit.“

Der Dichter David Wright erlebt seine Taubheit als etwas, in dem meistens die Ahnung eines Hörerlebnisses mitschwingt:

„Nehmen wir an, es ist ein ruhiger Tag, absolut still, es regt sich kein Zweig und kein Blatt. Mir erscheint er still wie ein Grab, obwohl in den Hecken zahllose unsichtbare Vögel lärmen. Dann kommt eine Brise, die ausreicht, ein Blatt zu bewegen; und diese Bewegung höre und sehe ich wie einen lauten Ruf. Die scheinbare Lautlosigkeit ist durchbrochen. Ich sehe, als ob ich hören würde, den Wind als visionäres Geräusch im bewegten Laub … Manchmal muss ich mich richtiggehend anstrengen und mir sagen, dass ich nichts ‚höre‘, denn es gibt ja nichts zu hören. Zu solchen ‚Nicht-Geräuschen‘ gehört zum Beispiel der Flug und die Bewegungen von Vögeln, es können aber auch Fische im klaren Wasser oder in einem Aquarium sein. Ich nehme an, dass der Flug von Vögeln, zumindest aus der Entfernung, lautlos sein muss … Und doch erscheint er mir hörbar, wobei jede Vogelart eine andere ‚Augen-Musik‘ erzeugt, von der gelassenen Melancholie der Möwen bis zum Stakkato herumflitzender Blaumeisen …“

John Hull, der in seinen späten Vierzigern komplett das Augenlicht verlor, erlebte den allmählichen Verlust aller visuellen Bilder und Erinnerungen und glitt in eine, wie er sagt, „tiefe Blindheit“. Laut Oliver Sachs’ Artikel im „New Yorker“ zum Thema Sinneswahrnehmung geschah bei dem „Ganzkörperseher“ (so charakterisierte Hull selbst seinen Zustand tiefer Blindheit) eine Verlagerung der Aufmerksamkeit, seines Schwerpunkts, hin zu den anderen Sinnen. Und Sachs berichtet: „Hull schreibt immer wieder davon, wie die anderen Sinne eine neue Fülle und Kraft gewinnen. So spricht er zum Beispiel davon, wie das Geräusch des Regens, dem er zuvor nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte, nun eine ganze Landschaft erstehen lässt, denn Regen auf dem Gartenweg klingt anders, als wenn er auf den Rasen trommelt oder auf die Büsche im Garten oder auf den Zaun, der den Garten von der Straße trennt.“

„Der Regen hat die Gabe, die Konturen aller Dinge hervortreten zu lassen; er breitet eine farbige Decke über zuvor unsichtbare Dinge; anstelle der intermittierenden und dadurch fragmentarischen Welt schafft der stetig fallende Regen die Kontinuität des akustischen Erlebens … präsentiert in einem einzigen Moment die Fülle der gesamten Situation … gibt dir ein Gefühl für die Perspektive und den tatsächlichen Zusammenhang der einzelnen Teile der Welt.“

Sachs’ Formulierung „dem er zuvor nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte“ ist aufschlussreich. In Menschen, denen ein oder mehrere Sinne fehlen, fördert und verstärkt die bloße Notwendigkeit solch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit. Aber wir müssen nicht erst den Verlust unseres Gehörs oder Augenlichtes (oder eines anderen Sinneskanals) erleben, um ihm Aufmerksamkeit zu widmen. Achtsamkeit lädt uns ein, unseren Sinneseindrücken am Punkt der Berührung zu begegnen (siehe dazu auch „Wie die Schuhe entstanden“ im ersten Band „Meditation ist nicht, was Sie denken“, S. 100), diese überreichen Welten zu erkennen und im Erkennen zu verweilen, statt sie durch Ignorieren oder gewohnheitsmäßiges Abstumpfen der Sinnestore wie auch des Geistes, der sie durchschreitet und ihnen und uns Sinn verleiht, einzuebnen.

Genauso, wie wir von denen lernen und von ihnen in Erstaunen versetzt werden können, die den Verlust eines oder mehrerer Sinne erlitten und sich körperlich und geistig auf erstaunliche Weise angepasst und umgestellt haben, um ein reiches Leben führen zu können – genauso können wir dazulernen, indem wir der Welt der Natur, die uns über alle Sinne gleichzeitig ruft und sich uns darbietet, absichtlich Aufmerksamkeit widmen; einer Welt, in der unsere Sinne ja geschaffen und geschärft wurden, und in die wir von Anfang an nahtlos eingebunden waren.

Obwohl wir dazu neigen, es nicht zu bemerken, nehmen wir in jedem Moment mit allen Sinnen gleichzeitig wahr. Sogar in Wrights und Hulls Beschreibungen gibt es Querverweise auf den verlorenen Sinneskanal. Wright muss sich selbst daran erinnern, dass er nicht hört, was er sieht, denn es „erscheint ihm hörbar“, manifestiert sich als „Augen-Musik“. Und Hull, der kein visuelles Erleben hat, spricht dennoch von einer „farbigen Decke“, die „über zuvor unsichtbare Dinge“ gebreitet wird, was den Schluss nahelegt, dass sie durch sein sorgfältiges Hören in der Tat „sichtbar“ gemacht werden.

Die Sinne überlappen sich, gehen ineinander über und befruchten sich gegenseitig. Dieses Phänomen wird Synästhesie genannt. Auf der Ebene unseres Seins sind wir nicht fragmentiert. Waren wir nie. Unsere Sinne, die ineinander übergehen, formen Moment um Moment unser Erkennen der Welt und unsere Teilhabe an ihr. Dass wir das nicht erkennen, ist lediglich Ausdruck unserer Entfremdung von unserem eigenen fühlenden Körper und der Welt der Natur.

David Abram, dessen Buch „Im Bann der sinnlichen Natur“3 gründlich die Überschneidungen untersucht zwischen der Phänomenologie und der Welt der Natur, wie sie von allen sie bewohnenden Lebewesen gefühlt und erkannt wird, darunter auch uns, wenn wir uns in der Wildnis befinden – Abram teilt mit uns die reichen Dimensionen der sensorischen Matrix, die uns hervorgebracht und über Hunderttausende von Jahren hinweg genährt hat:

„Das laute, gutturale Krächzen, mit dem der Rabe über mir kreist, bleibt nicht auf ein Feld des Hörbaren beschränkt – sein Ruf findet Widerhall im Sichtbaren, die gesamte sichtbare Landschaft belebt sich augenblicklich durch das kecke Wesen und Gehabe dieser nachtschwarzen Gestalt. Meine Sinne streben, ausgehend von einem kohärenten Körper, in verschiedene Richtungen, um im Wahrgenommenen als kohärente Einheit wieder zusammenzulaufen – ähnlich den separaten Blickwinkeln meiner beiden Augen, die im Raben zusammenlaufen und sich dort zu einem gemeinsamen Fokus vereinen. Meine Sinne verbinden sich in den Dingen, die ich wahrnehme, oder, besser gesagt, jedes wahrgenommene Ding führt meine Sinne zu einer kohärenten Einheit zusammen – das erst lässt mich das Wahrgenommene als ein Kräftezentrum erfahren, als ein anderes Erfahrungsgeflecht, als ein Anderes.

Wie wir die Wahrnehmung vorhin als dynamische Partizipation zwischen meinem Körper und den Dingen beschrieben haben, so erkennen wir nun, wiederum in einem Akt der Wahrnehmung, eine Teilhabe der verschiedenen Sinnessysteme des Körpers selbst. Diese Vorgänge sind tatsächlich nicht voneinander zu trennen, denn die Verflechtung meines Körpers mit den Dingen, die er wahrnimmt, wird erst durch die Verschränkung meiner Sinne herbeigeführt – und umgekehrt. Die Anordnung meiner Sinnesorgane zueinander – die Augen sind nach vorne, die Ohren eher nach hinten gerichtet usw. – und ihre seltsame Gabelung – wir haben nicht nur eines, sondern zwei Augen, eines auf jeder Seite, ebenso zwei Nasenlöcher, zwei Ohren usw. – weisen darauf hin, dass der Körper eine auf die Welt abgestimmte Form ist; sie lässt meinen Körper zu einem offenen Schwingkreis werden, der sich erst in Dingen, im Anderen, in der ihn umgebenden Erde schließt.“4

Eingebettet und versunken in die Welt der Natur, kennen wir sie nur durch unsere Sinne, und auch wir werden erkannt durch die Sinne anderer Wesen, darunter auch Wesen, die nicht-menschlich sind, uns aber auf ihre eigene Weise trotzdem spüren, sei es nun ein Moskito, der ein Mittagessen sucht, oder Vögel, die unsere Ankunft in einer Waldschlucht verkünden. Wir sind Teil dieser Landschaft, sind darin aufgewachsen, und wir sind immer noch im Besitz all dieser Gaben, auch wenn sie im Vergleich zu unseren Jäger-und-Sammler-Vorfahren vielleicht ein wenig verkümmert sein mögen. Der Bann der sinnlichen Natur in Abrams faszinierender Formulierung ist nicht weiter entfernt als das Geräusch des Regens, das wir aufnehmen, das Gefühl der Luft auf der Haut, die Wärme der Sonne auf dem Rücken oder der Blick Ihres Hundes, wenn Sie sich ihm nähern. Können wir es fühlen? Können wir es erkennen? Lassen wir uns davon umarmen? Und wenn ja, wann? Wann? Wann? Wann? Wann? Wann?

3 Abram, David, Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt. Mit einem Vorwort von Andreas Weber. Klein Jasedow: thinkOya, 2012.

4 Aus: David Abram: Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt, übersetzt von Matthias Fersterer und Jochen Schilk, Klein Jasedow: thinkOya 2012, S. 80–81.

Wach werden und unser Leben wirklich leben

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