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Landschaften des Hörens

Es ist 6.42 Uhr an einem Morgen Ende Juni. Bei offenem Fenster bade ich im Zwitschern von Vögeln, die ich nicht kenne –Zirpen und Pfeifen, Trillern und Schnalzen, Rufe und Antworten, kurz und lang, manche nach einigen Wiederholungen schnell wiedererkannt, andere nicht so leicht wieder herauszuhören, alle moduliert, in Synkopen, melodiös und chaotisch die Luft erfüllend, die Welt mit Lied über Lied unter Lied füllend, Lied im Lied, Lied nach Lied. In einem großen Chor geht es immer weiter, von Moment zu Moment, immer wieder neu, immer jubilierend, ein Füllhorn von Klängen, das sich überallhin ausgießt.

Gleichzeitig ist auch von einer relativ bedeutenden, ziemlich nahe gelegenen Hauptverkehrsader das deutlich zunehmende Rauschen des Verkehrs zu hören, der von der nordwestlichen Peripherie her zielbewusst in den Körper, ins Herz der Stadt fließt und unter ähnlichem Druck in Gegenrichtung hinaus. Manchmal hört man das Röhren eines mühsam beschleunigenden Sattelschleppers heraus, doch insgesamt verschmelzen das ungeduldige Quietschen von Reifen und das durchdringende Brummen der Motoren zu einem Klangstrom, der ankündigt, dass mit den Vögeln auch die Welt menschlicher Tatkraft und menschlichen Fleißes aus dem Schlaf erwacht ist.

Eine köstliche Klanglandschaft, von Zeit zu Zeit akzentuiert vom Rauschen des riesigen norwegischen Ahorns hinter mir, nah am Haus, und vom Seufzen in den Zweigen der Hemlocktannen vor mir, die gelegentlich von sanften Windstößen gestreichelt werden, wozu die Stimmen der Hundebesitzer kommen, die in diesem Moment, beim Gassigehen auf dem ungepflasterten Fußweg unter den Tannen, ein paar Worte wechseln. Jetzt kommt auch das Heulen einer Sirene dazu, klar und deutlich, kurz, nicht wiederholt, und ab und zu das Plumpsen von etwas Schwerem, das offenbar auf dem Bauernhof unterhalb des Hügels von einem Lastwagen abgeladen wird. Von irgendwo hört man auch das Warnpiepsen eines zurücksetzenden Lasters. Diese Klanglandschaft ist immer präsent. Sie ist immer gleich und doch immer anders, während die Minuten und Stunden verstreichen. Und immer, in jedem Moment, ist da der Gesang – und das gelegentliche Schreien – der Vögel.

Ich höre auf, über die Quelle der Geräusche nachzudenken, und gebe mich dem Hören hin. Es ist fast ein Baden im Klang, ein sinnliches Schwelgen in reinem Klang und den Zwischenräumen dazwischen, in diesen vielen Klangschichten. Nun sind sie einfach, was sie sind, werden nicht mehr identifiziert, nicht mehr auf eine angestrengte, bemühte Weise aufgenommen. Ich sitze einfach hier, Moment um Moment, empfange, was in der Klanglandschaft aufsteigt, es nicht einmal mehr ausdrücklich willkommen heißend, da es sowieso zu mir kommt (auch wenn es vielleicht gar nicht richtig gehört wird, weil der Geist woanders ist, abgelenkt von irgendetwas, das auch immer das Nachdenken über die Quelle der Geräusche sein kann, die ich höre, oder das Bewerten, welches ich lieber mag und welches nicht so, eben eine Meinung darüber statt des schlichten Hörens).

In dieser Hingabe an das reine, schlichte Hören gibt es in diesen Momenten nur dieses Hören. Die Geräuschlandschaft ist alles. Sie ist nicht mehr in der Welt, sie ist die Welt. Oder, genauer gesagt, es gibt keine Welt mehr. Es gibt kein „Ich“ mehr, das lauscht, und keine Geräusche „da draußen“. Es gibt keine Vögel, keine Bäume, keine Lastwagen und keine Sirenen mehr. Es gibt nur Klang und den Raum zwischen den Klängen. Es gibt nur das Hören in diesem ganz plötzlich zeitlosen Augenblick des Jetzt, auch während er fließend in den nächsten zeitlosen Augenblick des Jetzt übergeht. Und im Hören ist auch das unmittelbare Wissen um den Klang, wie er in seinem Entstehen, seinem kürzeren oder längeren Bestehen und in seinem Vergehen gehört wird. Es ist nicht die Art von Wissen, die auf Denken beruht, sondern ein tieferes Wissen, ein eher intuitives Wissen, ein Wissen, das irgendwie den Wörtern und Begriffen vorgelagert ist, die unser Wissen umkleiden: etwas, was hinter dem Denken liegt, fundamentaler ist … das gemeinsame Entstehen des Klanges mit dem Wissen um den Klang als Klang, als einfach nur das, was ist, bevor es vom denkenden Geist ausgeschmückt und vom Benennen bewertet wird, von unserem Mögen und Nichtmögen der Dinge, von unserem urteilenden Geist. Dies Wissen ist eine Art Spiegel für den Klang, der einfach reflektiert, was davor auftaucht, ohne Meinung oder Einstellung, offen, leer und deshalb fähig, alles aufzunehmen, was sich zeigt.

In diesem Moment ist das Eintauchen so vollständig, dass es kein Eintauchen mehr gibt. Klang ist überall, das Wissen ist überall, innerhalb der Hülle des Körpers und außerhalb, denn es gibt hier keinerlei Grenzen mehr. Da ist nur Klang, nur Hören, nur stilles Wissen innerhalb einer unendlichen Geräuschlandschaft, nur das, einfach nur das …

Das soll nicht heißen, dass keine Gedanken auftauchen. Sie tauchen auf. Es heißt vielmehr, dass das Vorhandensein von Gedanken nicht mehr auf das Hören abfärbt oder ihm in die Quere kommt. Es ist beinahe so, als seien die Gedanken selbst zu Klängen geworden und würden zusammen mit allem anderen in ihrem Entstehen und Vergehen gehört. Sie sind nicht mehr ablenkend oder störend, denn da sie erkannt werden, neigen sie dazu, zu zerschmelzen, statt endlos weiterzuwuchern. Das Wissen ist wie der Himmel, wie die Luft. Wie der Raum ist es überall, grenzenlos. Es ist nichts anderes als Gewahrsein selbst. Rein. Schlicht und einfach. Es ist auch absolut rätselhaft, denn es ist nicht etwas, was ich erzeuge, sondern eher so etwas wie eine Qualität des Lebendig-Seins, die manchmal ans Licht kommt wie ein scheues Tier, das aus dem Wald auf eine Lichtung tritt, um sich auf einem Baumstamm zu sonnen. Es verweilt, wenn ich still bin und in meinem geistigen Raum keine abrupten Bewegungen mache.

Das Zifferblatt zeigt jetzt 8: 33 Uhr. In diesen Stunden ist eine unendliche Zahl von Momenten vorbeigezogen – und doch ist keine Zeit vergangen. Ich fühle mich gesalbt, gesegnet von diesem Bade, von diesem Eintauchen in eine Geräuschlandschaft, die keinen Anfang und kein Ende kennt, von diesem Wunder des Hörens, das Wachheit ist, das Wissen ist. Ich frage mich, ob es überhaupt Momente gibt, in denen mir dieses „einfach das“ nicht zur Verfügung stünde. Was brauchen wir, damit wir hören, was immer schon da ist, akzentuiert und getragen von einer großen, fundamentalen Stille?

Im Laufe des Tages merke ich: Wenn ich achtlos bin, also nicht im Gewahr-Sein geerdet, während der Tag sich entfaltet, kann es sein, dass ich, ehe ich mich’s versehe, stundenlang nichts mehr höre außer dem Dröhnen des Gedankenstroms in meinem Kopf – egal, was an mein Ohr dringt.

*

Beim Meditieren mit einer Gruppe von Umweltaktivisten, auf einem felsigen Strand auf Windfall Island an der Mündung der Tebenkof-Bucht in der Tongass-Wildnis in Südost-Alaska, direkt an der Chatham-Straße und gegenüber den schneebedeckten Gipfeln der Baranov-Insel, kann keiner von uns umhin zu bemerken, wie viel die Buckelwale zu der Geräuschkulisse in der taufrischen Luft dieser Wildnis beitragen, während sie Tag und Nacht mit den Gezeiten zwischen Bucht und offenem Meer hin- und herschwimmen. Wir hören das Tosen ihres Ausatmens, lang, tief, volltönend, und so elementar, so uralt, dass es scheint, als würden wir überflutet von Atemgeräuschen, die an diesem Ort schon seit Millionen Jahren auf dieselbe Weise geschehen (was natürlich in der Tat so ist). Wenn wir sensibel genug sind, hören wir manchmal auch ihren Einatem, kurz bevor sie wieder abtauchen. Wenn wir die Augen offen haben, hören wir das Ausatmen nicht nur, wir sehen es auch, sogar aus ziemlicher Entfernung, als Geysir aus weißem Dampf, der bei jedem Auftauchen hoch in die Luft schießt. Wir haben das Gefühl, dass sie irgendwie wissen, dass wir hier auf diesem Strand sitzen, die Augen meistens geschlossen. Eine Zeit lang tauchen wir ein in eine Welt, die wahrscheinlich ein bisschen anders ist als vor fünf- oder fünfzehntausend Jahren (oder noch mehr): eine weite und uranfängliche Stille, in der Klänge anfluten und verebben. Weißkopf-Seeadler lassen ihre Schreie hören, Raben krächzen, kleinere Vögel auf dem Wasser und in der Luft mischen sich mit ihren verschiedenen Rufen und Schreien darunter, die Wellen laufen an Land, der Wind weht durch einen uralten gemäßigten Regenwald aus Sitkafichten und Hemlocktannen, der die Gewalt strenger Winter kennt, aber nicht die scharfen Schnitte der Kettensäge. Wir sitzen hier, öffnen uns dieser Welt, dieser Klanglandschaft, ihren uralten Erinnerungen. Oder sind es Gewissheiten?

*

Unser Hund weiß sehr gut, dass das Nichtgehörte genauso zur Geräuschlandschaft gehört wie das Gehörte. Wenn er hört, dass sich die Fliegentür an unserem Hintereingang öffnet und schließt, ohne dass das Schloss hörbar einschnappt, dann weiß er, dass er aus dem Haus entwischen kann. Er weiß es einfach. Dies ist ein simples Beispiel dafür, dass auch das Nichthören in der Geräuschlandschaft signifikante Informationen enthalten kann, wenn wir genug darauf eingestimmt sind, die Abwesenheit von Geräuschen sowie Veränderungen im Muster von Klang und Stille zu entdecken. Musik kitzelt vielleicht unsere Gehörnerven, wie Taj Mahal einst gesungen hat,5 aber die Geräuschlandschaft ist nicht nur Ton und Geräusch, sie besteht aus dem gesamten Universum aus Tönen und Stille, an dem wir durch unser Hören teilhaben, wenn wir bereit sind, uns völlig dem bloßen Sein zu überlassen, nichts weiter, nur beim Hören zu SEIN.

Während ich hier sitze, höre ich von draußen ein Geräusch wie von einem Müllwagen. Heute ist aber nicht Müllabfuhr. Vielleicht ist es eine Kehrmaschine, sagt mein Kopf, der das Geräusch irgendwie identifizieren möchte. Aber es hört nicht auf. Vielleicht ein Erdbohrer? Es hört sich an, als fahre ein Lastwagen ewig eine steile Steigung hinauf, ohne von der Stelle zu kommen. Vielleicht bessern sie irgendwo die Straße aus. Ich kann jetzt hier sitzen und endlos darüber nachdenken, wo das Geräusch herkommt; wie sehr ich mir wünsche, dass es aufhört; warum da am frühen Morgen so ein Krach ist. Vielleicht sollte ich aufstehen und nachsehen, woher das Geräusch kommt, wer da so viel Krach macht?

Aber wozu? Im Moment sitze ich hier. Ich habe die Wahl, ob ich mich gestört fühle oder nicht. Doch der Gedanke, dass ich diese Wahl habe, scheint irgendwie weit hergeholt, eine Übung in Willenskraft, ein Versuch, mich dem zu widersetzen, was bereits existiert, was bereits da ist, nämlich dieses Geräusch. Ich beobachte, wie ich zwischen Gestört-Fühlen und Nicht-Gestört-Fühlen hin und her schwanke.

Hinter diesem Spiel meines Geistes ist reiner Klang. Das Geräusch hören und nicht zu wissen, „was“ es ist, ist beides Wissen. Kann ich in diesem Moment einfach in diesem Wissen verweilen? Dem Wissen, das nicht weiß und nicht wissen muss, und das sich damit zufriedengibt, dass diese Geräusche in diesem Augenblick eben da sind? Die Dinge sind in diesem Moment genau so, wie sie sind. Können sie akzeptiert werden, wie sie sind, weil alles andere nur zu Aversion, Frustration, Störung und noch größerer Ablenkung führen würde?

Der Geist sondert einen Gedanken ab: Vielleicht könnte ich das Geräusch leichter annehmen, wenn ich wüsste, was es ist, wer es produziert und wie lange es wahrscheinlich noch dauert.

Gewahrsein erkennt auch diesen Gedanken als einen Gedanken, während er entsteht. Gewahrsein nimmt wahr, wie der denkende Geist herumfuchtelt und verzweifelt nach einer Erklärung greift, nach etwas tastet, das ihm Sicherheit geben würde, nach einem Koordinatensystem, das ihm das Annehmen erleichtern würde, nachdem er durch einen völlig unnötigen alchemistischen Prozess aus dem, was bloße Geräusche waren, „Krach“ gemacht hat. Bewusstheit sieht auch, dass diese Gedanken, die Irritation, der innere Kampf, das Herumfuchteln etwas Zusätzliches sind, das ebenso unnötig ist. Es sind Hindernisse für das friedliche Verweilen, und ironischerweise viel größere Hindernisse als das Geräusch selbst. Im Hören und im Wissen hinter dem Geräusch ist friedliches Verweilen. Ich lasse mich darauf ein. Für einen Augenblick hört das Geräusch auf und fängt dann wieder an. Kein Hindernis entsteht.

Plötzlich erlebt der Geist ein krampfhaftes Unbehagen. Er möchte unbedingt herausfinden, woher das Geräusch kommt. Irgendwie schwinden Gewahrsein und das höhergesteckte Ziel dahin. Der krampfhafte Drang, die Quelle des Geräuschs zu identifizieren, bringt meinen Körper dazu, aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen.

Ein großer Laster fährt vorbei. Das ist ein Geräusch, aber nicht das Geräusch. Was hat das Aufstehen und Nachsehen mir gebracht? Gar nichts.

Ich nehme das Sitzen wieder auf und richte mich im Hören ein. Der Drang, herauszufinden, woher das Geräusch kommt, wird immer stärker, je länger es anhält. Ich sitze weiter und gehe in diesem Drang auf. Nach einer Weile entfernt sich das Geräusch und verschwindet, und das Vogelzwitschern tritt wieder hervor. Das Denken lässt sich etwas Neues einfallen, selbst jetzt, als es ruhiger ist. Das wird wahrgenommen. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Der Atmen strömt ein und aus. Hier sitzen, nur sitzen und hier sitzen … eine Weite, die nicht mehr befleckt ist von Gedanken über Geräusche und Stille. Gewahrsein. Keine Unterbrechungen mehr. Der Geist unterbricht sich selbst nicht mehr. Im Augenblick ist da nur noch „einfach das“. Einfach das.

Das Geräusch kommt zurück. Das Lächeln wird breiter, verweilt, löst sich auf.

5 Eine Anspielung auf das Album „Satisfied ’n Tickled Too“ des US-Bluesmusikers Henry Saint Clair Fredericks, der unter dem Künstlernamen „Taj Mahal“ auftrat (Anm. d. Übers.)

Wach werden und unser Leben wirklich leben

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