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Kapitel 2

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„Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken…“

Dieses Lied geht Toni nicht mehr aus dem Kopf.

Keiner der vielen Gäste, die zu der Beerdigung gekom-men waren, konnte ahnen, wie sehr gerade dieser Text auf Toni zutrifft.

Die acht Männer der Chorgruppe am wenigsten. Nein.

Das Lied wurde wirklich gekonnt und mit sehr viel Gefühl vorgetragen.

Es kommt selten vor, dass ein Text wie dieser so exakt zu einem einsamen Menschen passt! Man spürte förm-lich, wie die Worte des Textes und die kalte Luft in der Aussegnungs-Kapelle in die Menschen krochen und das Frösteln verstärkten.

Toni ging es auf jeden Fall so, es schnürte ihm regelrecht die Kehle zu. So sehr hatte er nicht mal in Sibirien ge-froren.

Er hatte aber auch nichts mehr an sich, das ihm Wärme geben konnte.

Abgemagert, ausgebrannt - in ihm war nur noch Leere. Er war leer!

Toni versucht, sich zu orientieren. Wo steht denn sein Auto?

Es muss doch irgendwo in der Nähe des Friedhofs stehen. Er will nur noch weg. Die, die er finden wollte, seine Eltern, liegen jetzt beide vereint auf dem Friedhof. Und jetzt ist er nur noch ein unerwünschter Eindringling, der eigentlich wieder verschwinden könnte. Wieder dahin geht „wo der Pfeffer wächst“. Na ja, seiner Tante will er nicht Unrecht tun, sie hatte sich wirklich von Herzen ge-freut.

Von hier oben kann er den Friedhof zwischen den Bäumen erkennen. Mechanisch bewegen sich seine Beine auf dem Weg zwischen den kahlen Weinreben hinunter zum Städtchen. Unterwegs, am Ortsrand, kommt er an einer Gaststätte vorbei, vor der viele Autos in Reih und Glied stehen. Gerade gehen zwei schwarz gekleidete Männer ins Lokal hinein. Angeregte Unter-haltung dringt zur Straße hin, dazwischen eine helle lachende Frauenstimme. Familienfest? Geburtstagsfeier? – wahrscheinlich sogar eine Hochzeit. Als Toni schon fast vorbei ist, tritt eine Gruppe Menschen auf die Straße. Unwillkürlich nimmt sein Unterbewusstsein wahr: das ist bestimmt keine Hochzeit, die Männer mit schwarzen Krawatten, die Frauen auch ganz in Schwarz. Es muss wohl eine Beerdigungsgesellschaft sein – die seiner Mutter! Beim Leichenschmaus - in lebhafter Unter-haltung!

Dass eine Frau seinen Namen hinter ihm herruft, nimmt er nicht wahr, oder besser noch, er will es gar nicht hören – nichts will er mehr hören!

Sein Schritt verlangsamt sich aber unbewusst, als er beim Vorbeigehen ein paar Sprachfetzen von einer größeren Gruppe von Männern aufschnappt, die offensichtlich gerade dabei sind, in ihre Autos einzu-steigen und sich noch dabei miteinander unterhalten.

„Wo kommt ihr denn her?“

„Schön habt ihr gesungen…“

„Wir sind das Lassallia-Doppelquartett aus Neckarsulm.“

„Ich hab’ mal mit dem Mann von Theresia zusammen gearbeitet.“

„Fred, kann ich mit dir fahren?“

Fröhlich verabschieden sie sich voneinander.

„Also bis Freitag“, sie steigen in ihre Autos und fahren ab.

Für all diese Menschen wird der Alltag weiter gehen. Natürlich, für manche mit der Trauer um die Dahin-gegangene, mehr oder weniger stark, je nachdem, wie eng ihre Beziehungen mit der Verstorbenen waren. Aber sie werden sich wieder ihrem Alltag und dem ihrer Mitmenschen widmen. Die Trauer wird mit der Zeit überdeckt von der Konzentration auf die täglich neuen Aufgaben, dann folgen auch wieder unbekümmerte Tage.

Das nächste Mal, wenn sich die Leute wieder treffen, vielleicht sogar auch hier in dem Lokal, wird der Anlass ein Geburtstag oder gar eine Hochzeit sein.

Er wird jedoch nicht dazu gehören.

Nur fort!

Er möchte sich am liebsten in ein Mausloch verkriechen, sich in Luft auflösen - wer würde es schon merken?

* * *

1989

Eine Entwicklung bahnte sich an, die die Welt verändern sollte.

Der Topf in der DDR kochte über. Die Kraft von 17 Millionen Menschen sprengte wortwörtlich alle Grenzen!

Wie eine Woge, die alles mitreißt.

Diejenigen, die das Volk entmündigt, ihm ihren Willen aufgedrängt hatten, wurden regelrecht überrollt, gingen unter, ihrer Macht beraubt, lösten sich auf, egalisierten sich, wurden mitgespült und letztlich gar nicht mehr als Unterdrücker erkannt, beziehungsweise wollten nicht mehr erkannt werden.

Nach der „Explosion“ war scheinbar keiner der hunderttausend Peiniger mehr da.

Aber nicht nur die Widersacher wurden überrannt, auch die Mauern wurden niedergewalzt – die Mauer!

„Wir sind das Volk!“

So begann nach 1945 das zweite Mal die Stunde null.

Rosa Lebt

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