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Kapitel 4

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„Kik mal, die Olle ist besoffen.“ Eine Schar Jugendlicher zieht über die Schillingbrücke. Munter gehen die Gespräche hin und her.

„Det hätt ick och nich jeglaubt, det man nu so mir nischt dir nischt von Ost nach West jehn kann.“

Eine ältere Frau hinterher, wahrscheinlich die Lehrerin:

„Auf Kinder, beeilt euch, wir müssen um drei Uhr beim Bus sein.“ Ein paar Jungs wollen lieber nochmals in die Spree spucken. Da ging das Leben an ihr vorbei. Die Zukunft wartet auf die Jugend – jetzt auch für die aus dem Osten – mit allen Freiheiten.

Rosa hängt am Brückengeländer, die Beine so schwer wie Blei. Verschwommen sieht sie den Jugendlichen nach. War sie auch mal so jung, so übermütig gewesen? Doch, ja! Auch sie hatte Träume gehabt.

Man glaubte an eine heile Welt der Gerechtigkeit, des Fortschritts und der Brüderlichkeit. Gemeinsam wollte man die Welt zum Guten verändern. Fahnenschwin-gende Jugendliche mit frohen Liedern bei Massenveran-staltungen vor Parteisekretären, Minister auf den Ehrentribünen, die ihnen, mit erhobenen Händen grüßend, ihren Dank aussprachen. Das Allergrößte war, wenn jemand, der sich besonders hervorgetan hatte, nach vorne gerufen wurde, um von einem hohen Funktionär höchstpersönlich einen Orden überreicht zu bekommen. Wie hatte man sich da angestrengt. Rosas künstlerisches Talent, mit Singen und Tanzen auf der Bühne zu stehen, war ihr großes Ziel gewesen. Ja, und diesen einen Tag, den 1. Mai 1958, wird sie nie vergessen. Sie wurde zur Bühne gerufen, Tausende hinter ihr. Fünf Stufen musste sie hoch, um den größten Lohn zu erhalten, den man sich vorstellen konnte: Eine Medaille um den Hals gehängt, einen Händedruck und einen, ziemlich feuchten, Kuss auf ihre Wange von Walter Ulbricht höchstpersönlich!

Als sie sich umgedreht hatte, war sie im Gesicht so rot gewesen wie ihre Haare. Ihre Knie hatten gezittert, sodass sie sich am Geländer festhalten musste, um nicht zu stolpern.

Dann zurück zu ihrem Platz durch die Reihen unzähliger Schüler. Ihre Hand wollte sie ein paar Tage nicht mehr waschen. Heimlich fuhr sie jedoch mit einem Taschentuch über ihre Wange, der nasse Kuss war ihr doch nicht so angenehm. In ihrer Klasse und in der ganzen Schule war sie jetzt der Stern. Die Jungs himmelten sie an. Ach, die Kinderzeit war schon schön.

Alle Wege standen ihr später offen: Studium, Ausbildung in Musik, Tanz, Theater. Damit verbunden Engagements, auch in fernen Städten wie Prag, Budapest, Moskau - und dann zum Schluss wieder Ostberlin, es mangelte ihr an nichts. Sie war ihrem Staat dafür dankbar gewesen und sah die ganze Welt – ihre Welt – durch eine rosarote Brille, zumindest anfangs.

Erst als sie wieder mit Toni von Moskau zurückkam, hier lebte und dann auch mit Hartmut die Probleme erkannte, gingen ihr die Augen auf. Ihre Welt stürzte ein.

Dass es sich um ein menschenverachtendes System handelte, hatte sie in den letzten sechs Jahren bitter erfahren. Übrig geblieben ist ein zerbrochener Mensch. Die scheinbar heile Welt gab es nur in ihrem verblendeten Kopf, darüber ist sie gründlich hinweg.

Jetzt ist sie befreit – wortwörtlich: Der Umsturz im vergangenen November hat sie in die Freiheit gespült.

Sie wussten erst gar nicht recht was los war. Von außerhalb drangen Sprechchöre in die Zuchthaus-mauern, die wiederholten: „Nieder mit dem Sklavenstaat“.

Rebellion im Gefängnis, die richtigen Kriminellen gingen ganz schön zur Sache. Ja, und das Wunder geschah: Viele, hauptsächlich die „Politischen“, wurden entlassen. Man „spuckte“ sie aus, schnell weg mit ihnen und hoffentlich alles vergessen.

Die Anstaltsleitung sowie ihre Peiniger sind geblieben, zumindest etliche davon. Man brauchte jetzt nicht mehr so viele „Wachteln“. Von den zeitweilig über eintausend Insassen blieb nur noch ein geringer Teil übrig. Die restlichen Aufpasser hatten schnell ihr „Mäntelchen“ gewechselt, um dann anschließend in höheren Dienst-graden wesentlich mehr Geld beziehen zu können. Sie hatten vorher natürlich „nur ihre Pflicht nach Befehl ausgeführt“.

Aber Rosa konnte nicht Fuß fassen. Seitdem irrte sie ruhelos umher.

Sie muss die zerrissenen Fäden wieder aufnehmen: Was ist mit ihren Eltern? Vor allen Dingen aber, was ist mit ihrem Kind? Dann will sie auch erfahren, was aus Toni geworden ist.

* * *

Schweren Schrittes geht sie wieder zurück. Nein, sie ist mit ihren knapp vierundvierzig Jahren keine alte Frau, was die Lebensjahre anbelangt. Aber die letzten Jahre haben ihre tiefen Wunden hinterlassen. Ihr Magen ist nicht mehr in Ordnung, zu lange wurde ihm total minderwertige Nahrung zugemutet. Ständiges Frieren, das Waschen und Duschen mit kaltem Wasser trugen zu allerhand körperlichen Beeinträchtigungen wie Gelenk-schmerzen und Blasenentzündungen bei. Die mangel-hafte Körperpflege tat ein Übriges.

Sie kann jetzt nur hoffen, dass sich ihr Körper irgendwann erholen wird.

Wieder weiter in die Heckert-Straße. Hier ist der Dreh- und Angelpunkt. Sie weiß aber nicht, wonach sie suchen soll. Na ja, was soll es schon zu finden geben? Es hatte sich hier unten abgespielt. Am Hang liegt ein großer Stein. Müde setzt sie sich darauf. Unter ihr sieht sie die Köpenicker-Straße. Die schon tief stehende Sonne spendet keine Wärme mehr, sie wirft nur noch lange Schatten, erzeugt aber auch da und dort glitzernde Reflexionen auf den vereinzelten Schneeresten. Sie möchte ihre Augen zufallen lassen, die Zeit anhalten, nein, zurückdrehen. Ihre Gedanken möchten sich auflösen, hochfliegen, fortfliegen – loslösen von dieser Welt.

Zwei Meter entfernt unter ihr ragt ein altes, verrottetes Brettchen zwischen Schneeresten und niedrigem Gestrüpp hervor. Magisch angezogen erhebt sie sich, um sich zu nähern, und rutscht dabei aus. Beinahe tritt sie noch auf einen abstehenden, verrosteten Nagel. Sie will das Brettchen schon mit dem Fuß wegkicken, greift dann aber unwillkürlich danach, denn es fällt ihr auf, dass da noch quer darauf ein anderes Brettchen genagelt ist. Wohl schon ziemlich verwittert, aber es stellt eindeutig ein Kreuz dar. Neugierig wischt sie mit den Fingern darüber. Ein Beobachter würde sie jetzt ganz für übergeschnappt halten. Sie lässt sich auf die Knie fallen und beugt sich zu dem Fund hinunter, reibt wiederholt mit den Händen darüber, sie ist ganz außer sich. Mühsam entziffert sie die eingeritzten Buchstaben:

„OSA m… Sonn. Lebs. .. mir“, murmelt sie dabei und beugt dann schließlich ihren Kopf nach unten, so als wenn sie das Kreuz küssen wollte. Tatsächlich führt sie die überkreuzten Bretter mit beiden Händen an die Lippen und küsst sie. Nimmt das Kreuz liebevoll in die Arme, umschlingt es wie einen Liebhaber, küsst es wieder und immer wieder. Dieser Fund ist für Rosa ein eindeutiger Beweis, denn dies kann doch nur von Toni hinterlassen worden sein. Eine ungeahnte Verwandlung geschieht mit ihr. Laut ruft sie immer und immer wieder:

„Er lebt! Er lebt!!“

Ja, jetzt ist die „Alte“ da unten wirklich übergeschnappt. Passanten auf der Brücke könnten sie dafür halten.

Die Tränen laufen ihr ungehemmt über die Wangen. Er hat tatsächlich überlebt – irgendwie. Er war hier gewesen und hat an dieser Stelle, wo er vermutete, dass sie da unten gestorben war, dieses Kreuz angebracht. Sie ist sich jetzt sicher, es steht drauf: „ROSA meine Sonne, du lebst in mir.“

„Meine Sonne“ hatte er sie immer genannt – IHR TONI!

Sie gehört wohl keiner christlichen Religion an und kennt eigentlich auch kein richtiges Gebet mehr, aber jetzt kniet sie am Hang, das Brettchen liebevoll in den Händen:

„Lieber Herrgott, jetzt glaube ich doch, dass es dich gibt. Mein Toni lebt, ich denke, das geschah nur mit deiner Hilfe. Ich bitte dich, sei bei ihm, lass ihn gesund sein und sein Glück finden. Alles andere wäre wohl zu viel verlangt, dass wir irgendwann auch noch zueinander finden, er weiß ja nicht, dass ich noch lebe. Hilf ihm, dass er seine Eltern findet. Mir geht es jetzt schon viel besser.“ Nach einer kurzen Pause des Überlegens:

„Eins bitte ich noch für mich: Helfe mir, mein Kind zu finden – unser Kind!“

Rosa ist sich unschlüssig, was sie mit dem Kreuzchen machen soll. Gerne würde sie es natürlich zur Erinnerung mitnehmen. Aber wie? Da beschließt sie, es lieber an Ort und Stelle zu belassen. Sie wird es etwas herrichten, und wenn sie in der Gegend ist, kann sie nach ihm schauen. Hier an diesem Schicksalsplatz werden ihre Gedanken sehr nahe bei Toni sein, und Tonis Gedanken werden sich auch auf diese Stelle konzentrieren. Da treffen sich ihre Gedanken. So werden sie wenigstens in Gedanken vereint sein. Wenn Toni doch noch lebt, dann sucht er bestimmt auch irgendwann diesen Platz auf. Sie wird deshalb auf jeden Fall noch einmal herkommen und an dem Kreuz einen Hinweis anbringen, dass sie auch lebt.

Sie fühlt sich von einer riesengroßen Sorge befreit. Toni hatte überlebt! Und sie auch. Es waren schwere Jahre der Hoffnungslosigkeit. Jetzt weiß sie aber wenigstens, dass sie nicht gewesen waren. Und die Hoffnung, Toni eines Tages doch noch wiederzufinden, hat sich ja jetzt verstärkt. Sie weiß im Moment nicht wie, aber über eines ist sie sich sicher: Sie wird sich immer nach ihm sehnen und wird ihn immer suchen. Je mehr sie darüber nachdenkt, umso mehr steigt ihre Zuversicht. Dies erzeugt in ihr eine wachsende euphorische Stimmung, und sie bemerkt überrascht, wie sich in ihr eine wiederkehrende lebensbejahende Stimmung breit macht.

Innerlich verwandelt geht sie an der Mauer entlang weiter. Ihre Gedanken wandern zu der damaligen Zeit zurück. Die Mauer ist überall bemalt. Hassparolen, Graffitikunst und eben Geschmier. Aber da fällt ihr doch eine Stelle auf. Sie stutzt und bückt sich an der Mauerwand hinunter. Mit den Fingern reibt sie an einer Stelle. Sie nimmt eine Handvoll Schnee und wischt sie sauber. Schwach wird ein Buchstabe deutlicher: „M“, dann ein „U“, weiter nach rechts „T“. Nach links wiederholt sie ihre Bemühung, ein „R“, ein „T“, dann noch ein „A“ und zuletzt ein „H“.

Mit zittriger Stimme murmelt sie: „Hartmut“.

Beide Hände legt sie sanft auf das Wort, als möchte sie es umarmen.

HARTMUT. Ihre Hände fühlen das Wort ab und ihre Gedanken befassen sich dabei mit dem Geschehen, das sechs Jahre zurückliegt. Ihr kommt es vor wie fünfzig Jahre, gemessen an dem, was sie mitgemacht hatte.

Das Zucken ihres Körpers verrät ihr Schluchzen.

Sie kniet vor der Mauer, so dass sie ihren Kopf an „HARTMUT“ lehnen kann. Mühsam erhebt sie sich nach ein paar Minuten. Wieder ein untrügliches Zeichen. Das konnte ja auch nur von Toni stammen, zum Gedenken an ihren Freund und Helfer. An diesem Ort, gegenüber der Mauer, müsste die Stelle sein, wo Hartmut erschossen wurde. So hatte sich Toni das bestimmt vorgestellt.

In Rosa vollzieht sich tatsächlich eine große Wandlung:

Die vergangenen Wochen in Freiheit konnte sie nicht richtig genießen. Das Geschehen der letzten Jahre, ihre leidvolle Zeit, alles war so sinnlos. Jetzt hat sie erneut den Beweis, dass Toni lebt und ein Mahnmal errichtet hat, das an den sinnlosen Tod von Hartmut erinnert.

So kann sie hier mit ihren Gedanken auch bei Hartmut sein und sich doch noch von ihm verabschieden.

Kapitel 5

Hin- und her gerissen, welches ihre ersten und nächsten Schritte in Freiheit sein werden, entschließt sich Rosa, sich zunächst an das Zuchthaus in Hoheneck zu wenden. Hier hofft sie, erste Hinweise auf den Verbleib ihres Kindes zu erhalten.

Sie bringt aber nicht die Kraft auf, sich direkt zu dem verhassten Zuchthaus zu begeben.

Der Chefarzt hatte ihr ja seine Privatadresse genannt. Sie konnte damals nicht ahnen, wie wichtig diese Information einmal sein würde. Sie weiß nur noch, dass er in Zschopau wohnt. So entschließt sie sich, erstmals dorthin zu fahren.

Der Empfang am Privathaus des Arztes verläuft sehr kühl. An der Haustüre wird sie von dessen Frau sehr zurückhaltend begrüßt, kaum, dass diese die Haustüre einen Spalt öffnet.

„Ja, bitte?“

„Wohnt hier ein Dr. P.?“

„Ja. Und was wollen Sie? Wer sind Sie denn?“

Rosa hatte sich schon vorher auf die Situation vorbereitet, um die richtigen Worte parat zu haben. Die abweisende, fast feindselige Art, wie die Frau sie aber ansieht, verunsicherte Rosa total. Schon fühlt sie wieder die Angstperlen auf der Stirn und ein Zittern. Die Jahre der Knechtschaft haben ihr Selbstwertgefühl zerstört. Egal, welchen Schritt sie sich vornimmt, sofort stellen sich Angstgefühle ein. Man hatte ihr beigebracht, dass sie ein Nichts war, und so fühlt sie sich jetzt auch.

Sie muss sich regelrecht zwingen, vor der Türe stehen zu bleiben, dem vernichtenden Blick ihres Gegenübers standzuhalten und auch noch zu sprechen.

Mit schwerer Zunge sagt sie:

„Ich bin eine alte Bekannte ihres Mannes.“

Sofort könnte sie sich ohrfeigen – so ein dummes Gerede.

„Mein Mann hat keine Bekannte.“ Schon wurde die Türe zugeschlagen.

Rosa steht da wie ein begossener Pudel. Noch Mal Einlass zu begehren, traut sie sich nicht. Wie in Trance verlässt sie das Grundstück. Im Unterbewusstsein denkt sie noch: ‚Schönes großes Grundstück, prächtiges Haus. So was hätte sich unsereiner auch mal gewünscht.’

Von der höher gelegenen Straße aus kann sie hinunter auf die Stadt blicken. Der „Dicke Heinrich“ und das „Schloss Wildeck“ überragen alle sonstigen Gebäude. Sie spürt jetzt oft einen richtigen Hass auf die übrige Bevölkerung. Alle gehen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Aber nicht nur das, für sie bieten sich jetzt mit dem Umbruch viele neue Freiheiten, neue Ziele mit vorher nie geahnten Möglichkeiten. Aufwärts geht’s! Neu motiviert!

Und sie?

Der Boden wurde ihr unter den Füßen weggerissen.

Mit ihren ganzen Talenten und künstlerischen Fähig-keiten hatte ihr ein Teil der Welt, wenigstens der östlichen Welt, offen gestanden. Dort wieder anknüpfen und weiter-machen? Das kann sie nicht, zumindest jetzt noch nicht.

Sie kann doch nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre.

Und dann noch die Frage, was ist mit meinem Kind?

Sie kommt an einer Art Garage vorbei. Die Türe steht offen. Dahinter sitzen etliche Leute in lockerer Unter-haltung. Eine Bierflasche wird gerade mit dem bekannten „Klack“ geöffnet. Da fällt ihr ein, dass sie seit heute früh nichts mehr getrunken und gegessen hat. Ein nahe der Türe sitzender Mann bemerkt, dass sie interessiert hineinschaut.

„Na, komm doch rein, meine Guteste!“

Rosa bleibt an der Türe stehen. Der Duft von kochenden Würstchen zieht ihr in die Nase und der Hunger meldet sich verstärkt. Das kommt ihr gelegen. Da ist es bestimmt auch nicht so teuer wie in einer richtigen Gaststätte.

Rosa überwindet sich und betritt den dämmrigen Schup-pen. Aus den Augenwinkeln stellt sie fest, dass hier der Treffpunkt für allerhand Leute ist, die viel Zeit haben. Nebenan befindet sich ein Getränkevertrieb und bietet somit eine Anlaufstelle mit garantierter Kurzweiligkeit. Und damit die Leute ja lange genug sitzen bleiben, gibt es noch heiße Würstchen für den kleinen Hunger, außerdem verschiedene Kekse, Schokolade und aus einer Kühltheke ist Eis am Stiel zu haben.

Eine kleinbürgerliche Idylle. Kleine Leute mit bestimmt kleinem Geldbeutel. Hier sind sie daheim, tauschen Neuigkeiten aus und auch manchen Tratsch. Wohl mit wenig Weitsicht, aber offensichtlich zufrieden mit ihrer Welt. Die Unterhaltung dreht sich, wie überall, um Sport und die „Wende“.

Alle sind sich einig: Sie waren natürlich schon immer gegen diesen Stasi-Staat gewesen.

Auch hier ist Rosa ein Fremdkörper. Sie gehört nicht dazu!

Die Wurst lässt sie sich schmecken und auch ein Glas Bier. Da merkt sie sofort, dass sie keinen Alkohol mehr gewohnt ist.

Automatisch wird sie aber in den Kreis der Unterhaltung mit einbezogen. Man ist doch neugierig, was die Fremde hier will.

Vorerst einmal ausweichend gesteht Rosa, dass sie einen alten Bekannten besuchen will, eben einen gewissen Dr. P.

Sofort spürt sie eine Veränderung der Stimmung. Lauernde Blicke. Ein Mutiger, wahrscheinlich fühlt er sich auch unwiderstehlich, setzt sich neben sie und gibt sich vertraulich.

Da melden sich bei Rosa gleich die Schutzmechanismen.

Auf der anderen Seite hat sie vielleicht aber die Möglichkeit, etwas Näheres zu erfahren. So wie es aussieht, wissen die Leute hier über alles Bescheid. Ihre Tage scheinen für sie lang zu sein, und so drehen sich ihre Gesprächsthemen um alles und jeden im Städtchen.

Auf jeden Fall erfährt sie, dass besagter Arzt eine gute Stelle im Zuchthaus einnimmt und dafür bestimmt nur ein ganz Linientreuer in Frage kam. Schon lange bewohnt er hier eines der schönsten Häuser, fährt einen großen Wartburg, den sich ein Normalsterblicher nicht leisten konnte. Was sie aber am meisten erzürnt, ist, dass er jetzt nach der Wende noch genauso fest im Sattel sitzt wie vorher. Viele Amtsträger, die vorher mit der Stasi ganz dick waren, haben ihren Posten behalten, manche sind sogar befördert worden und verdienen jetzt noch mehr. Diese Leute hier um sie herum zählen nicht zu diesen Privilegierten, auch schon vorher nicht, und so haben sie keine gute Meinung von den Wende-Gewinnern.

Als Rosa durchblicken lässt, dass sie keine freund-schaftliche Beziehung zu besagtem Arzt hegt, lockert sich die Stimmung wieder.

Mittlerweile ist es Spätnachmittag geworden. Der Doktor kommt in der Regel erst gegen 20 Uhr nach Hause. Dies kann aber variieren, je nach Dienstschluss. Sie vermuten sogar, dass der irgendwo eine Freundin hat.

Wie soll sie es am besten anstellen, dass sie ihn außerhalb seines Hauses antrifft?

In der Zwischenzeit hat Rosa erkannt, dass sie vielleicht hier bei den Dauergästen des Trinkschuppens Hilfe erhalten könnte. Gegenüber ihren Sitznachbarn lässt sie durchblicken, dass sie viele Jahre in Hoheneck einge-sperrt war. Aus dieser Zeit kennt sie den gesuchten Arzt und erhofft sich jetzt von ihm Informationen. Weswegen, verrät sie vorerst noch nicht. Sowohl Heiner und Hanni, die offensichtlich ein Paar waren, als auch Frieder und Peter zeigen ihr gegenüber ehrliches Interesse und Mitgefühl.

Zuerst schlägt man vor, das Haus im Auge zu behalten. Wenn dann der Doktor heimkommt – ja, was dann?

Hanni hat eine Idee:

„Wir wohnen ganz in der Nähe und haben von unserem Haus aus Einblick auf die Hofeinfahrt und den Haus-eingang des Gebäudes. Wenn wir sehen, dass der Arzt nach Hause kommt, benachrichtigen wir dich, aber was dann?“

Rosa hat jetzt ein Problem. Sie dachte, sie kommt hierher gefahren, spricht mit dem Arzt und fährt wieder nach Berlin. So schnell geht es anscheinend aber nicht.

„Ich muss ja wenigstens so lange hier bleiben, bis ich meine Informationen habe. Wo kann ich denn hier über-nachten, wenn es geht, möglichst preiswert?“

„Hier um die Ecke bei Hofmanns kann man eine Ferien-wohnung mieten.“

„Ich brauche aber doch keine ganze Ferienwohnung nur für einen Tag“, wendet Rosa ein.

Heiner ereifert sich gleich:

„Hanni, wir ham doch das Zimmer von unserer Anne leerstehn, das könnt se doch ham.“ Offensichtlich ist ihm Rosa sehr sympathisch.

„Da is aber doch ken WC un keene Waschgelegenheit dabei“, bremst Hanni etwas.

Heiner lässt sich nicht beirren:

„Rosa, wenn es dir nichts ausmacht, müsstest de ebn unser Bad mitbenutzen. Für de bor Dache wär’s doch keen Problem, oder?“

Rosa, unter Berücksichtigung ihrer knappen finanziellen Möglichkeiten, sieht darin kein Problem. Hanni schließt sich nach kurzem Überlegen dem Vorschlag ihres Mannes an. Sie kennt ihn nur zu gut. Er sieht gern nette Frauen, und Rosa gefällt ihm offensichtlich. Aber sie weiß ihn schon zu nehmen. Das bisschen Freude gönnt sie ihm, sie muss ihm nur hin und wieder klarmachen, wo er hingehört. Aus den Augenwinkeln stellt sie schmunzelnd fest: Er ist schon ein attraktiver Mann, und der gehört mir – und so soll es auch bleiben.

Hanni ist jetzt ganz bei der Sache:

„Ich hab’ noch eene Idee. Wenn der Arzt daheme is, rufe ich ihn an und geb vor, dass es mer net gut geht. Unter Nachbarn kann ma so was scho Mal mache. Dann kannst du die Gelegenheit wohrnehmn und mit ihm alleen reden, ohne seine Frau. Ja, ja, die is en bisschen giftig, aber de Nase trug se immer hoch. Wir ham ge-dacht, dass de jetzt nach der Wende vielleicht auch eene Quittung bekommn, aber man sieht, die schwimmen immer noch oben.“

Das ist geklärt. In der Garage geht es zu wie in einem Bienenhaus. Feierabendzeit. Im Eck spielen drei Männer Karten. Die Aufforderung an Heiner, auch mitzuspielen, lehnt der heute ab:

„Ich muss mich um meenen neuen Gast kümmern.“

„Hanni, heit’ Nacht musst de uffn uffpassn!“

Prompt fliegt ein Bierdeckel in ihre Richtung. Es herrscht ein Kommen und Gehen. Kinder holen sich ein Eis. Irene, offensichtlich die Frau von Peter, will ihren Mann ab-holen. „Komm setz dich her, ich spendier dir noch was zu trinken.“

Entspannte lockere Atmosphäre. Kleinstadtidylle, fröhlich, die Sorgen sind vergessen. Witze werden schon zum Besten gegeben. Da tut sich Heiner ganz schön hervor. Er versteht, die Leute zu unterhalten. Lachen. Jetzt ist Hanni sogar stolz auf ihren Heiner.

Mit Rosa hat die Runde ein willkommenes Opfer für ihre Witze und Anekdoten gefunden, die alle anderen natürlich schon hunderte Male gehört haben. Heiner erzählt:

„Ein junger Mann hält beim Vater seiner Angebeteten um ihre Hand an. Der Vater fragt den Heiratswilligen: ‚Kannst de auch Schkat spieln?’, was der junge Mann aber verneint. Darauf der Vater: ‚A nu, wie willst de denn später meine Dochter ernährn?’ “ Alle lachen, obwohl das für sie ein alter Kalauer ist.

Rosa betrachtet dies Idyll wehmütig. Fast wird sie neidisch auf die Menschen, die vorher nicht mit dem Staat angeeckt waren. Sie konnten ihr Leben in Be-scheidenheit führen, sehnten sich nicht nach Höherem, lebten wahrscheinlich relativ zufrieden und sehen die Zukunft jetzt nach der Wende noch positiver. Was wollen sie mehr?

Es dämmert schon, und gerne hätte man noch länger in der gemütlichen Laubengesellschaft verweilt.

„Jetzt müssn mer aber gehen, damit mer mitbekommn, wenn der gute Herr Doktor heimkommt.“ Allgemeines Verabschieden. Rosa gehört schon zu ihnen. Die an-deren sind sowieso schon längst mit ihr per Du. Ein, zwei Männer, offensichtlich Alleinstehende, wollen Rosa ebenfalls eine Unterkunft anbieten. Aber Heiner sagt stolz:

„Die gehört jetzt uns.“

Ein paar Sticheleien begleiten sie noch:

„Hanni pass auf, dass der Heiner die Betten nicht verwechselt.“

* * *

Die Straße, in der Rosas Gastgeber wohnen, ist eine Sackgasse. Das Häuschen liegt tatsächlich günstig, nur etwa einhundert Meter vor dem des Arztes. Somit kann man von hier alle an- und abfahrenden Autos sehen. Hanni meint zu ihrem bescheidenen Häuschen:

„Klein aber mein.“

Von außen könnte es wohl etwas Farbe gebrauchen. Der Garten ist aber mit viel Liebe angelegt. Innen ist es sehr gemütlich eingerichtet. Hanni lässt es sich nicht nehmen, Rosa erst mal ein richtiges Abendbrot zuzubereiten. Vom Essplatz aus behalten sie permanent die Straße im Auge. Der Arzt taucht aber nicht auf, vielleicht kommt er gerade heute spät in der Nacht heim.

Es bleibt nicht aus, dass Rosa dann doch noch mehr aus ihrer Vergangenheit erzählt. Von Toni, aber vor allem über ihren „Aufenthalt“ in Hoheneck. Von der Geburt und der sofortigen Wegnahme ihres Kindes, von dem sie nie etwas erfahren hat.

Ihre Gastgeber sind erschüttert und empört. Heiner muss sich Luft machen:

„Da sieht man es wieder. Die lebn hier mitten unter uns, tun scheißfreundlich und sind doch aktiv für den Henkerstaat tätig. Die haben alle das Volk ausgebeutet, von Gleichheit geredet, sich aber selbst die Taschen gefüllt. Die größte Sauerei ist aber, dass die jetzt genauso wieder oben mitmischen und ihre Arbeit weiter-machen. Jetzt gibt es wohl andere Gesetze und man schaut ihnen auf die Finger. Aber ich möchte nicht wis-sen, was da noch heimlich weiter läuft. Die Seilschaften sind noch intakt. Darum musst de auch aufpassn, wenn de dich mitm Doktor anlegst.“ An Rosa gewandt: „Die habn noch überall ihre Verbindungen und bestimmt noch Möglichkeiten, dir nen Strick zu drehn. Dann sperren se dich wiedder ein.“

Um die aufgekommenen trüben Gedanken wieder auf-zuhellen, erzählt Heiner vor dem Schlafengehen noch einen Witz, und so können sie sich doch noch in lockerer Stimmung eine gute Nacht wünschen.

„Morgen werden mer weiter sehn.“

Am nächsten Tag, früh um sieben Uhr bemerkt Rosa, die schon früh aufgestanden ist, dass der Arzt die Straße hinunterfährt. Sie hat natürlich in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Ein fremdes Bett und dann wieder die quälenden Gedanken.

Offensichtlich ist der Arzt gestern noch spät in der Nacht heim gekommen. Jetzt heißt es, den ganzen Tag zu warten, um ihn an diesem Abend abzufangen.

Den Vormittag nutzt Rosa, um das Städtchen anzu-sehen. Rathausplatz, Schloss und vieles mehr. Am Mit-tag geht sie wieder über die Zschopaubrücke zum Wohn-gebiet Finkenburg hoch, am Friedhof vorbei, und landet letztendlich wieder bei dem Getränkehandel. Da sitzen doch tatsächlich schon wieder etliche bei angeregter Unterhaltung. Wenn sie sich nicht irrt, sind auch ein paar Gesichter von gestern dabei. Der Vorteil ist, dass man hier nicht unbedingt etwas trinken oder gar verzehren muss. Es ist eben ein guter Treffpunkt für Leute, die Zeit haben. Und hier trifft man bestimmt immer jemand. Für Kurzweil ist also gesorgt und nebenher kann man alle Neuigkeiten austauschen.

Tatsächlich wird sie von einem der Anwesenden freudig begrüßt.

„Hallo Rosa, komm setz dich her zu mir.“

Als Fremde ist sie ja interessant, von Berlin kommt sie auch noch, da könnte man doch allerhand erfahren. Speziell auch natürlich vom ganzen Umbruch. Hier, abseits auf dem Land, bekam man nicht viel mit.

Rosa lehnt aber dankend ab, sie will sich lieber ganz vorne an der Türe hinsetzen.

Von hier kann sie die Brücke und die Zufahrtsstraße zum Haus des Arztes sehen.

Mehr als eine heiße Wurst kann sie sich nicht leisten, sie möchte aber Hanni nicht zu sehr auf der Tasche liegen.

Die Einladung Hannis zum Mittagessen hat sie heute früh abgelehnt.

Rosa erkennt immer wieder ihr Problem, sich zu öffnen. Das Vertrauen zu anderen Menschen ist verschwunden. Natürlich sagt ihr der Verstand, dass sie das schnell ändern muss, wo hätte sie denn bei ihren bescheidenen Möglichkeiten sonst die Nacht verbringen sollen? Es war wirklich ein Glück, dass die Gäste in der Trinkgarage ihr gegenüber so offen waren, natürlich in erster Linie Heiner und Hanni. Die beiden kann sie sich als gute Freunde vorstellen.

Die Hoffnung, dass der Arzt heute vielleicht früher kommen könnte, zerschlägt sich. Es ist mittlerweile schon früher Nachmittag. Rosa macht sich unschlüssig auf den Weg zu Hanni. Auf einen Kaffee bei ihr freut sie sich. Kalt ist es ihr geworden. Ihre Kleidung ist nicht die beste und auf ihren Rippen sitzt auch kein Gramm Fett zu viel. Was soll sie da warm halten?

Beim Öffnen des Gartentürchens fährt hinter ihr ein Wartburg vorbei. Sie hat das Auto zuerst gar nicht kom-men hören, trotz des Geknatters. Stimmt etwas mit ihren Ohren nicht? Der Fahrer rast wie verrückt hinter ihr vor-bei. ‚Idiot’, denkt sie noch. Aber wie elektrisiert verfolgen ihre Blicke dann das Auto. Es fährt tatsächlich in den Hof des Arztes. Er muss es also sein.

Schon vom Gartenweg aus kündet sie sich rufend an:

„Hanni, mach schnell auf!“

„Es ist offen“, hört sie von drinnen Hannis Antwort. Ganz außer Atem und aufgeregt betritt Rosa das Zimmer. Hanni deckt gerade den Kaffeetisch.

Sie hat schon begriffen, dass da etwas vorgefallen ist.

„Nu setz dich amol.“

„Hanni, er ist eben gekommen!“

Wer, das braucht Rosa gar nicht zu sagen.

Was tun?

„Heiner ist gerade im Städtchen, um bei Göhler Wurst zu kaufen. Wir warten, bis er kommt.“

Hanni meint, dass es nur abends glaubwürdig ist, wegen eines Notfalls den Doktor zu rufen, denn tagsüber könnte sie ja eine normale Arztpraxis aufsuchen. Rosa sieht das ein. Das heißt also warten, bis die anderen Ärzte Feier-abend haben.

Das Warten fällt schwer, aber der heiße Kaffee weckt ihre Lebensgeister. Schön gemütlich ist’s bei Hanni. Der Kaffee schmeckt herrlich.

Endlich kommt dann Heiner mit seinen Einkäufen nach Hause.

Zum Abendbrot lassen sie sich die Wurst gut schmecken. Anschließend bietet Heiner noch seinen Leib- und Ma-gentrunk an, einen „Lauterbacher Tropfen“, kurz „Grüner“ genannt. Ist wohl ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber das zweite Glas schmeckt schon besser. Für den Magen ist er auf jeden Fall Medizin.

Heiner fährt auf einmal vom Stuhl hoch:

„Da soll mich doch der Deufel holn. Ist doch gerade der Doktor mit einem neuen Westauto hochgefahrn.“ Schon stehen alle drei am Fenster und starren perplex die Straße hoch. Sie sehen, wie das Auto vor dem Arzthaus stehen bleibt und hupt.

„Ich glaub, ich spinne. Ich hab ihn doch hundertprozentig gesehen, als er um 14 Uhr 30 heimkam.“ Sie verstehen das nicht. Er muss doch tatsächlich wieder weggefahren sein, ohne dass sie es bemerkt haben.

„Na, ihr seid so Aufpasser. Bei der Stasi hätt mer euch nich gebrauchn könn“, frotzelt Heiner. Nun beobachten sie, wie die Frau des Arztes aus dem Haus kommt. Beide gehen um das Auto herum und betrachten es, dann steigen sie ein und fahren wieder los.

„Wie ne gesengte Sau“, bei ihnen vorbei und fort sind sie.

Jetzt waren sie baff.

„Ich krieg me net. Die ham sich e neies Auto gekoft, ich glaub, das istn Opel, - un nu?“

Rosa Lebt

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