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4 Nicht die Gefährdungen verhindern, sondern die Verwundbarkeit vermindern

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In einer anderen Einrichtung, die der Regierung nahesteht, der Stiftung Wissenschaft und Politik, wird das Thema Resilienz bereits 2015 aufgegriffen[Fußnote 10]. Im Tenor und in der Wortwahl ist der später erschienene Artikel »Vorwärts Resilienz!– ...« ähnlich. Man scheint sich zu kennen. In dem Artikel aus dem Jahre 2015 von Oliver Tamminga, Oberstleutnant i.G., ist herausgearbeitet, dass wir allseits wehrhaft sein müssen, denn Angriffe kommen nicht unbedingt in militärischem Gewand daher. Die Zivilgesellschaft gehört eingebunden, bekannt vom Begriff der »Gesamtverteidigung«. Mit dem universal ausgeweiteten Resilienzbegriff (in Pädagogik, Soziale Hilfen, Führungskräfteausbildung etc) sind allen seine Prinzipien in Fleisch und Blut übergegangen, Körper geworden. Überall lauern Gefahren und Gefährdungen. Deshalb

»ist es nicht mehr sinnvoll, das sicherheitspolitische Handeln primär darauf auszurichten, die Vielzahl hybrider Bedrohungen zu verhindern. Ziel muss es stattdessen sein, auf eine Verminderung der eigenen Verwundbarkeit hinzuarbeiten.«

So haben denn Entdemokratisierung, Abbau von Ebenbürtigkeit und Partizipation ein Maß an Zerfall und Aggression bewirkt, dass es nicht mehr „lohnt“ oder erfolgversprechend scheint, nach besseren Strukturen mit anderen Handlungen und Entscheidungen zu suchen. Man setzt einfach bei den Opfern oder potenziellen Opfern an. Eine andere Politik für die Welt, für Bildung und Soziales ist dem Anschein nach nicht denkbar und Aufgabe. Das befreit „uns“ davon, in den Re-Aktionen (wie Terrorismus, Vandalismus, Resignation, Depression) nach unserer Mitverantwortung zu suchen. Stattdessen sollen wir uns mit einem hermetischen Schutz ummanteln, der uns gegen Leid immunisiert.

Im globalen Maßstab brauchen wir demnach keine Friedenspolitik mehr. Im lokalen, nationalen oder europäischen Maßstab brauchen wir uns nicht mit den Folgen gezielter Entstaatlichungs- und Begünstigungs- (Angebots-) Politik (wir haben den besten Niedriglohnsektor, so oder so ähnlich Ex-Kanzler Schröder) auseinanderzusetzen, geschweige denn eine andere Sozialpolitik (als Friedenspolitik nach innen) zu machen.

Mit diesen folgenreichen Umformungen des Denkens über Ursachen und Lösungsansätze gehen tendenziell – auch in pädagogischen und psychosozialen Institutionen – Fähigkeit und Bereitschaft zu Einfühlungsvermögen, Identifizierung, Rollenübernahme und -distanz verloren. Einfühlung etc. dienen dann weniger der Ermöglichung von Selbstklärung in einem haltenden Kontext als der Möglichkeit, Daten für eine Diagnose zwecks Einordnung in Problemgruppen zu sammeln.

Emanzipation des Individuums oder seine Funktionalisierung

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