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I.

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Ich ließ meine Fingerspitzen noch einmal über das knallrot lackierte Blech gleiten. Die weichen, runden Formen regten meine Nerven in den Fingerkuppen an und eine Gänsehaut rieselte mir den Rücken herunter. Mein Blick fiel auf das gelbe Schild mit dem schwarzen Pferd und entlockte mir ein Seufzen. Ferrari. Ich ließ das Wort langsam auf meiner Zunge zergehen ‚F e r r a r i‘. Der Wagen war ein Zweisitzer, doch auch das würde mir genügen. „Ferrari Portofino“, flüsterte ich leise und meine Hand fuhr am Rahmen der Windschutzscheibe entlang. Ein Cabriolet der besonderen Art.

Der Kauf eines neuen Fahrzeuges war notwendig geworden, nachdem mein grüner Ford Fiesta von Neunzehnhundertneunundachtzig das Zeitliche gesegnet hatte. Es passierte vor nicht ganz einer Woche auf der Straße von Mönchengladbach Wickrath nach Rheindahlen. Plötzlich begann der Motor zu stottern. Kurz vor Mennrath fiel er dann nach einem letzten Seufzer ganz aus und ich schaffte es gerade noch, von der Straße auf den Gehweg zu lenken. Ein älterer Mann mit Hund sprang aufgeregt zur Seite und zeigte mir anschließend fluchend seinen Mittelfinger. Ich hatte sogar den Eindruck, er würde den Köter auf mich hetzen, doch der fette Pudel, kaum größer als eine Hauskatze, zerrte sein Herrchen ein Stück weiter, hockte sich mitten auf den Gehweg und verrichtete dort sein großes Geschäft.

Ich fluchte leise. Das hatte mir gerade noch gefehlt! Ich sollte schnellstens ins Büro zurückkehren und nun stand ich hier mit einem Motorschaden. Bernd Heisters, mein Freund und Chef, wäre sicherlich nicht erfreut. Oft genug hatte er mir geraten, endlich einen neuen Wagen zu kaufen; doch so lange ich mich - zumindest für Dienstfahrten - aus seinem Fahrzeugpool bedienen durfte, konnte ich mir das Geld auch sparen. Bernd betreibt bundesweit Trainingsstudios für Krav Maga und Kampfsport, doch hier in Mönchengladbach, im Gewerbegebiet Güdderath, befindet sich die Zentrale. Außerdem leitet er von hier aus den Personenschutz, der ein weiterer Teil seines Unternehmens ist. Und noch eine weitere Abteilung war vor Jahren hinzugekommen: Die Detektei ‚Argus‘, die aber einzig dazu dient, Aufträge, die uns der Oberstaatsanwalt Herrmann Eberson zuteilt, in einen halbwegs legalen Rahmen zu bringen. Denn oft handelte es sich um Aufgaben, die die Polizei oder Staatsmacht, die sich an Recht und Gesetzen orientieren muss, nicht so effektiv, wie wir, lösen kann.

Wir, das ist eine illustre Truppe von - ich liebe diesen Ausdruck - ‚Abenteurern‘, die sich dem Kampf gegen das Böse verschrieben haben. So wie Supermann oder Batman oder Paulchen Panther. Na ja, der vielleicht eher weniger.

Vor einer gefühlten Ewigkeit versuchte ich - gezwungenermaßen durch meinen Vater - mir eine eigene Detektei aufzubauen. Doch leider scheiterte ich grandios, da mir eine chinesische Triade ans Leder wollte. Bernd rettete mich und meine Sekretärin, Christine Weru, und half uns damals den Fall zu lösen. Leider fackelten die Gangster mein Büro ab und ich stand mit leeren Händen und einem Haufen Schulden da. Bernd bot Chrissi und mir an, für ihn tätig zu werden und nun bin ich, Privatdetektiv und Personenschützer Jonathan Lärpers, ein Teil der ‚Heisters-Gruppe‘, die aus hochqualifizierten Männern und Frauen besteht. So ist Samuel L. Terbarrus, den alle ‚Sam‘ nennen und der seinen Doktor der Naturwissenschaften an der Universität zu Köln machte, eine wichtige Stütze unserer Gruppe. Er ist Bernds engster Vertrauter und mir ein sehr guter Freund geworden. Ebenso wie all die anderen. Monika Salders zum Beispiel. Sie arbeitet nicht fest für Bernd, sondern unterstützt uns in ihrer freien Zeit. Monika arbeitet freiberuflich als Übersetzerin und reist mit ihrem Mann, einem Neurochirurg, durch alle Herrenländer dieser Welt.

Birgit Zickler ist unser ‚Küken‘, doch sie hat schon mehrere Abenteuer mit mir zusammen überstanden. Einst als Sekretärin für die Detektei eingestellt, wurde sie alsbald fester Bestandteil der Truppe. Birgit und ich hassten uns anfänglich wie die Pest, doch mittlerweile sind wir gute Freunde geworden. Wenn das Mädchen doch bloß nicht immer ihre Haare so bunt färben und nicht so flippige Klamotten tragen würde!

Ich wischte die Gedanken an meine Freunde und Kollegen fort und beschäftigte mich wieder mit der Realität. Was war zu tun? Ich müsste Bernd informieren, dass ich mit dem Wagen liegengeblieben war. Dann könnte ich den ADAC um Hilfe bitten. Schließlich war ich ja schon länger Mitglied und auf solche Fälle waren die Leute doch spezialisiert. Ich zog mein Handy aus der Jacke.

Dann kam mir der Gedanke, dass ich ja vielleicht zunächst selbst einen Blick in den Motorraum werfen könnte. Zwar hielten sich meine Kenntnisse in Bezug auf Technik und Autos eher in Grenzen, doch ein Blick konnte nicht schaden. Ich legte das Handy auf den Beifahrersitz, entriegelte die Motorhaube und stieg aus.

Ein Gewirr aus Kabeln und Schläuchen blickte mir entgegen und es stank fürchterlich nach Benzin. Aber das musste bei einem Motor vermutlich so sein. Ich identifizierte die Autobatterie, ein großer, rechteckiger Klotz und wackelte an den Kabeln. Alles fest, daher konnte das Problem wohl nicht kommen. Der Benzingeruch machte mich schwindelig und ich versuchte, flach durch die Nase zu atmen. Als ich probeweise an ein paar weiteren Kabeln rüttelte, hatte ich plötzlich ein Ende mit einer metallenen Kappe in der Hand. Ratlos blickte ich auf das schwarze Kabel mit dem silbernen Ende, dann legte ich es vorsichtig auf den Motor. Vielleicht hatte dieses Teil den Fehler verursacht.

Seufzend ließ ich mich wieder hinter dem Lenkrad nieder. Egal wie, ich würde zu spät ins Büro kommen. Aber vielleicht sprang der Wagen ja jetzt wieder an. Ich drehte den Zündschlüssel und das unwillige Geräusch des Anlassers sagte mir, dass ich mit meiner Vermutung vielleicht doch recht gehabt hatte. Plötzlich drang Qualm aus der offenen Motorhaube. Ich stellte meine Bemühungen ein und verließ den Wagen fluchtartig.

Der Motor brannte! Eine grelle Flamme fraß sich durch die Schläuche und Kabel und es knisterte verdächtig. Rasch trat ich einige Schritte zurück. Jetzt galt es zu handeln: Die Feuerwehr musste her, bevor der Wagen weiter in Brand geriet. Ich erinnerte mich daran, dass mein Handy auf dem Beifahrersitz lag und lief rasch auf die Fahrertür zu. Dann wich ich wieder zurück, denn der Fahrgastraum stand schon in hellen Flammen.

Vereinzelt stoppten Fahrzeuge und die Fahrer fotografierten das brennende Auto. Dann fuhren sie zufrieden weiter. Als ich einmal auf einen Wagen zu rannte und um Hilfe bitten wollte, gab der Mann hinter dem Steuer verängstigt Gas und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Ich fragte mich, ob er Angst davor hatte, dass ich ihm seinen Wagen vielleicht auch noch anzünden würde ...

Als die Flammen zurückgingen, da offensichtlich alles verbrannt war, was verbrennen konnte, hörte ich in der Ferne die Sirene eines Feuerwehrwagens. Ich wunderte mich, dass mein Fahrzeug nicht explodiert war, so wie es in den Filmen immer gezeigt wurde und als sich das Auto mit dem Blaulicht näherte, kam ich hinter meiner Deckung hervor. Jetzt züngelte nur noch eine kleine Flamme im Motorraum herum.

Der Feuerwehrwagen hielt quietschend in sicherer Entfernung, Türen sprangen auf und barsche Befehle wurden geschrien. Mehrere Männer rollten einen dicken Schlauch vom hinteren Teil des Fahrzeuges aus und rückten vorsichtig auf meinem Wagen zu. Der Mann, dem wohl die Leitung des Einsatzes oblag, näherte sich ständig sichernd und rief dann einem seiner Kollegen, der den Schlauch hielt, einen Befehl zu, den ich nicht verstehen konnte. Der Mann ließ den Schlauch fallen und rannte im Laufschritt zurück zu dem Feuerwehrwagen, der die gesamte Straße blockierte. Mehrere Fahrzeuge standen auf beiden Fahrspuren und die Insassen filmten den Einsatz mit ihren Handys.

Der Mann kehrte jetzt mit einem kleinen Feuerlöscher zurück, den er seinem Einsatzleiter reichte. Der Feuerwehrchef warf einen Blick auf die auf dem Gerät aufgedruckte Bedienungsanleitung, nickte befriedigt und löschte schließlich den Brand im Motorraum, bevor der von selbst verlöschen konnte. Dann reichte er seinem Gehilfen den Feuerlöscher wieder zurück.

„Wie konnte das passieren?“, fragte er mich.

„Keine Ahnung. Der Motor ging aus und dann brannte er plötzlich.“ Ich bevorzugte die Kurzfassung, der Mann hatte bestimmt noch andere Dinge zu tun.

„Eine Schande“, meinte er, ließ aber offen, was er damit meinte. In Gedanken schloss ich mich seinen Worten an. „Das Wrack kann aber nicht hier stehenbleiben. Hier“, er hielt mir eine Visitenkarte hin, „rufen sie das Abschleppunternehmen an. Sagen sie, Manfred hätte ihnen die Nummer gegeben. Das Wrack muss jedenfalls schnellstens weg, sie blockieren ja den ganzen Fußgängerweg. Eine Schande ist das!“

Ich sah ihn hilflos an.

„Na, nun machen sie schon“, drängte mich der Einsatzleiter.

„Mein Handy.“ Ich zeigte auf die verkohlten Überreste, die einmal ein grüner Ford gewesen waren. „Es lag im Wagen.“

„Eine Schande.“ Er reichte mir sein Telefon. „Die Nummer ist schon vorgewählt, sie brauchen lediglich die grüne Taste zu drücken.“

„Eine Schande“, wisperte ich und dachte an mein Handy. Dann meldete sich der Abschleppdienst.

„Und vergessen sie nicht, zu erwähnen, dass es Manfred war, der ihnen die Nummer gab“, erinnerte mich der Feuerwehrmann und ich nannte brav den Namen.

Alsbald rückte die Feuerwehr wieder ab und ich stand verloren vor dem verbrannten Wagen. Jetzt hielt niemand mehr, um Fotos zu machen, das verkohlte Wrack war einfach zu uninteressant.

Der Abschleppdienst ließ sich Zeit und ich hoffte, Bernd würde mich inzwischen nicht bei der Polizei als vermisst melden. Doch endlich hielt ein Wagen, mit knallroten Aufschriften an den Türen, am Straßenrand. Der Fahrer, in einen gelben Overall mit Reflektoren gehüllt, quälte seine geschätzten hundertfünfzig Kilogramm aus dem Fahrerhaus und trat neben mich. Langsam zog er eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich eine an.

„Abgebrannt?“, fragte er und betrachtete die verkohlten Reste sachkundig. „Eine Schande!“

Ich nickte: „Er ist einfach so stehengeblieben. Der Motor ist ausgegangen. Und dann fing er auch noch an zu brennen!“

„Ja, das passiert schon mal. Haben sie noch persönliche Gegenstände, die sie aus dem Wagen holen wollen, bevor ich ihn huckepack nehme?“

Ich schüttelte den Kopf. „Mein Handy, doch ich befürchte es ist alles verbrannt. Es ging so schnell, dass ich nichts mehr retten konnte.“

„Haben sie denn keinen Feuerlöscher im Wagen? Jeder hat einen Feuerlöscher im Wagen. Für den Fall, dass der einmal brennt. Mit einem Feuerlöscher lässt sich das Schlimmste verhindern. Ich wette, sie hatten auch keinen Talisman an Bord.“

„Talisman?“ Ich wusste nicht, was er meinte.

„Na, etwas, das sie beschützt. Eine Hasenpfote oder eine kleine Stoffpuppe, die man an den Rückspiegel hängen kann. Schauen sie“, er zeigte auf das Führerhaus des Abschleppwagens, an dessen Spiegel hinter der Windschutzscheibe ein kleines weißes Äffchen hing. „Der Affe beschützt Fahrer und Fahrzeug.“

„Ich glaube nicht an so etwas“, erklärte ich. Schließlich war ich Realist.

Er nickte seelenruhig und schnippte die Zigarettenkippe gegen das Blech meines verkohlten Wagens. „Sie müssen noch den Auftrag ausfüllen. Wo soll der Schrott denn hin? Ich kann ihn vor ihre Haustür stellen oder zu einer Werkstatt fahren.“

Ich blickte zweifelnd auf die Überreste und die zerplatzen Reifen. „Werkstatt?“, fragte ich dann. „Glauben sie, man kann da noch etwas reparieren?“

„Reparieren kann man alles, obwohl ...“ Er überlegte einen Moment. „Wenn sie meinen fachlichen Rat hören wollen: Oft lohnt sich das ja nicht mehr. Sie bräuchten neue Reifen, eine neue Lackierung, neue Sitze und einen neuen Motor. Da is...“

„Und eine neue Autobatterie“, unterbrach ich ihn. An den grauen Kasten erinnerte ich mich ganz genau.

„Richtig, die auch. Also, ich würde den Wagen ja verschrotten lassen und mir einen neuen kaufen. Eine Schande ist das!“

Wir einigten uns darauf, dass er das Wrack - gegen einen Aufpreis natürlich - zu einem Schrotthändler fahren würde. Ich musste nur die notwendigen Papiere unterschreiben.

Kurze Zeit später blickte ich dem davonfahrenden Abschleppwagen, mit meinem treuen Ford auf der Ladefläche, hinterher. Leider konnte der Mann mich nicht mitnehmen, das war streng verboten. Ich müsste mir halt ein Taxi rufen.

Eine Schande war das!

Jetzt strich ich über das glatte Blech des Ferraris. In meiner Jackentasche befand sich ein kleines weißes Äffchen, das ich an den Rückspiegel hängen wollte. Für alle Fälle.

„Herr Lärpers?“, hörte ich den Verkäufer neben mir sagen. „Ihr Wagen ist dann soweit. Würden sie bitte mit mir kommen?“

Ich nickte. Schweren Herzens trennte ich mich von dem Ferrari, der - wie ein großes Schild aussagte - die Leihgabe eines anderen Autohauses war und nur zu Ausstellungszwecken hier abgestellt wurde. Wir verließen den Ausstellungsraum und traten auf einen kleinen Parkplatz.

„Ich wünsche ihnen viel Spaß mit ihrem neuen Fahrzeug“, säuselte der Verkäufer und hielt mir den Schlüssel hin. Mein neuer Wagen, ein postgelber Kia Venga, den der Vorbesitzer aus irgendwelchen nostalgischen Gründen so hatte lackieren lassen, erwartete mich.

Jennifer, unsere blonde Fee für alles, begrüßte mich lächelnd. Sie stand hinter dem Tresen des Krav Maga Studios, in dem sich auch Bernds Büro, sowie im Erdgeschoss der Trainingsraum, das sogenannte Dojo, die Umkleideräume, Duschen und ein Gemeinschaftsraum, den wir Bibliothek nannten, befanden. Ein Atrium lud zum Ausruhen und Verweilen ein und neben zahlreichen Bänken gab es dort viele bunte Blumen, einen kleinen Springbrunnen und sogar einen Platz zum Grillen. Das Atrium war nach oben hin offen und damit natürlich wetterabhängig. Im Kellergeschoss lagen das Schwimmbecken, der Schießstand, ein Labor, das so sicher gebaut war, dass eine kleine Bombe, die in ihm explodieren würde, keinen Schaden anrichten konnte, sowie ein Raum, in dem sich diverse Gäste unterbringen ließen.

Und noch eine Etage tiefer befand sich eine große Garage mit einer geheimen Zufahrt, in der Bernds Firmenfahrzeuge standen. Die Auswahl der Wagen war breit gestreut und wir durften sie während unserer Einsätze nutzen.

„Hallo Jenny“, lächelte ich zurück. Jennifer blickte auf mehrere Monitore, die hinter dem Tresen standen und konnte so den Parkplatz, den Eingangsbereich und wichtige Gebäudeteile überwachen. Sie zeigte jetzt auf einem Monitor, den ich aber nicht sehen konnte.

„Dein neuer Wagen?“

Ich nickte stolz. „Neu, na ja. Gebraucht neu, hat aber nur wenige Kilometer auf dem Buckel.“

„Nette Farbe. Du solltest allerdings nie die Fenster auch nur einen Spalt offenstehen lassen.“

Jennys Fürsorge trieb mir fast die Tränen in die Augen. Sie hatte ja Recht, wie leicht konnte in den Wagen eingebrochen werden, insbesondere, wenn ich vergaß, die Fenster zu schließen. „Ja, da hast du vollkommen Recht“, bemerkte ich.

Jennifer lachte: „Denn ansonsten könnte es passieren, dass jemand seine Briefe dort einwirft!“

Ich hörte ihr Lachen noch, als ich an Bernds Bürotür klopfte und nach einem kurzen ‚Herein‘ eintrat.

„Na, den neuen Wagen abgeholt?“ Bernd hatte mir extra den Vormittag freigegeben, damit ich zum Autohaus gehen konnte.

„Ja, der steht draußen auf dem Parkplatz. Jetzt bin ich wenigstens wieder mobil. Willst du dir den Wagen einmal anschauen? Wir können auch eine Probefahrt machen.“

Bernd lachte: „Später vielleicht, Jonathan. Im Moment habe ich andere Sorgen. Dozer fällt ein paar Tage aus und ich brauche Ersatz für ihn.“

Dozer, mit richtigem Namen Thomas Friedlich, war ein Muskelmann von gut und gerne hundertfünfzig Kilo Lebendgewicht bei einem Meter achtzig Körpergröße. Bernd hatte ihn vor ein paar Jahren einer Personenschutzschule, in der Dozer Kampfsport unterrichtete, abgeworben. Dozer war definitiv der beste Kampfsportlehrer innerhalb Deutschlands und er unterrichtete hier sämtliche Kampfsportarten, die das Krav Maga Studio anbot.

„Ist er krank?“, fragte ich verwundert, denn der Mann war noch nie krank gewesen. So etwas konnte man sich bei ihm einfach nicht vorstellen.

„Nein, nein“, lachte Bernd. „Dozer ist zu einer Kampfsporttagung nach Israel eingeladen worden. Sein Ruf reicht bis in den hintersten Winkel der Welt. Ich hoffe nur, man wird nicht versuchen, ihn uns abspenstig zu machen.“

Da machte ich mir eigentlich keine Sorgen, denn Dozer und meine Kollegin Christine verband seit einem Lehrgang in Rendsburg eine innige Freundschaft. Vermutlich war sie auch der Hauptgrund gewesen, dass Dozer überhaupt zu uns nach Mönchengladbach gekommen war.

Bernd sah mich an und ich wusste, was jetzt kam. „Ich dachte daran, dass du einen Teil seiner Jobs übernimmst. Ein paar Lehrgänge wird Christine abhalten, insbesondere die mit den Kindern. Dir bleiben Erwachsenenkurse an den Abenden und vormittags die Polizisten.“

Wir unterrichteten auch Polizisten und Polizistinnen im Kampfsport, doch die schwierigsten Lehrgänge waren immer noch die mit erwachsenen Privatpersonen. Die eine Hälfte meinte zur Kampfmaschine mutieren zu müssen und die andere Hälfte war aus Büchern und Videos so vorgebildet, dass es eine Qual war, ihnen den ganzen Quatsch, den sie da lasen und sahen, wieder auszureden. Dozer war der ideale Mann dafür, die Leute in die richtige Spur zu bringen. Mancher kampfwütige Möchtegern Bruce Lee hatte den Lehrgang schon geschmissen, als er merkte, dass ihm hier eher Demut, Selbstverteidigung und aggressionsloses Verhalten gelehrt wurden, als der Angriffskampf, den sie sich wünschten. Dozer machte den Leuten rasch klar, dass sie in unserem Krav Maga Studio an der falschen Adresse waren.

„Okay, kein Problem“, nickte ich. Die Auftragslage war momentan eher schwach und ich wollte ohnehin wieder etwas mehr trainieren. „Vielleicht kann Birgit mir ja assistieren.“ Der Kleinen täte ein wenig Training auch ganz gut.

„Das wollte ich gerade vorschlagen“, nickte Bernd. „Auch wenn ich das Wort ‚assistieren‘ nicht gebraucht hätte. Aber da ist noch etwas: Ich habe heute Vormittag einen neuen Auftrag für euch beide hereinbekommen. Es geht um den Personenschutz eines Balletttänzers. Wir treffen uns heute um vierzehn Uhr drüben im Planungsraum der Detektei. Bis dahin habe ich alle Unterlagen zusammen und kann euch mehr erzählen. Sei also bitte pünktlich, Jonathan!“

Ich wusste, wie ich die Zeit bis zum Meeting nutzen konnte. „Jennifer“, sprach ich die blonde Maus hinter dem Tresen an. „Wie wär’s mit einer Rundfahrt in meinem neuen Wagen und einem Essen bei Curry-Erwin? Wir haben doch gleich Mittagspause.“

Jennifer schüttelte den Kopf: „Sorry, Jonathan. Aber ich kann hier nicht weg. Und eine Vertretung habe ich auch nicht.“

„Birgit könnte dich doch vertreten“, schlug ich vor. So einfach würde sie mich nicht abwimmeln können.

„Birgit ist nicht da. Die ist mit Christine unterwegs. Außerdem habe ich dir doch schon des Öfteren gesagt, dass du mich nicht in Curry-Erwins Schmuddelbude hineinbekommst. Aber selbst, wenn du mich in dein Steakhaus ‚Chez Duedo‘ einladen würdest: Ich kann nicht. Tut mir leid.“

Wenn weder Christine noch Birgit zur Verfügung standen, musste ich also alleine zu meinem Freund. Und ich wusste ja, dass keine von beiden sich von mir zu Curry-Erwin einladen lassen würde. Was blieb mir somit übrig, als alleine zu meinem Freund zu gehen?

Ich parkte meinen neuen Wagen genau vor der kleinen Frittenbude in Rheydt im Halteverbot. Da ich nicht lange hier stehenbleiben wollte, dürfte es kaum Probleme geben. So schnell arbeiteten die Politessen in Mönchengladbach ja doch nicht. Schon gar nicht zur Mittagszeit. Da saßen die selbst in einem Imbiss, einem Restaurant oder einem Café und ließen den lieben Gott einen lieben Gott sein.

„Jonathan Lärpers“, begrüßte mich Curry-Erwin. „Mein Lieblingsdetektiv, Lieblingspersonenschützer und Lieblingsbodyguard. Schön dich wieder einmal in meinem bescheidenen Lokal zu sehen“

„Einen schönen guten Tag, Erwin. Aber Personenschützer und Bodyguard ist ein und dasselbe. Dafür gibt’s einen Punkt Abzug.“

Erwin füllte gerade Mayonnaise aus einem großen Eimer in einen silbernen Soßenspender um. Er wischte sich die Hände an der Schürze ab und ich erkannte an den roten Flecken darauf, dass er zuvor Ketchup nachgefüllt hatte. In Kürze würden die Mittagsgäste den Laden füllen und Erwin sorgte dafür, dass sich in den Gefäßen genügend frische Soßen befanden.

Lächelnd trat er um die Theke herum, nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich, so wie er es immer tat. Dann wieselte er wieder an seinen Arbeitsplatz zurück und schaufelte weiter Mayonnaise in den Behälter.

„Ich habe mir einen neuen Wagen gekauft“, berichtete ich nicht ohne Stolz. Erwin, der gerade mit beiden Händen in dem Eimer nach dem Löffel suchte, der ihm entglitten war, blickte mich staunend an.

„Einen neuen Wagen? War dein alter nicht mehr gut genug?“

„Der Motor war kaputt und dann ist er auch noch abgebrannt“, erzählte ich ihm mein Abenteuer. „Erst ging er aus und ich schaffte es gerade noch, den Wagen auf den Gehweg zu lenken. Das war vielleicht knapp! Der ganze Motor stank furchtbar nach Benzin und ein Kabel löste sich, als ich daran zog. Ein merkwürdiges Kabel mit einer silbernen Metallkappe. Da ich nicht wusste, wo es hingehörte, habe ich es auf den Motor gelegt. Und als ich den Wagen dann anlassen wollte, fing er plötzlich an zu brennen.“

Erwin hatte den Löffel inzwischen gefunden. Er betrachtete seine Hände und Unterarme, die voller Mayonnaise waren. Dann wischte er, so gut es ging, die Mayo von Hand und Arm zurück in den Eimer. „Das war bestimmt das Zündkabel“, meinte er sachkundig. „War da am Kabelende so ein länglicher Stecker, der nach vorne hin breiter wurde?“

„Ja, das kann sein, jetzt da du es sagst ...“

Erwin nickte und wischte mit der Hand einen großen Mayoklecks von der Anrichte. „Das war der Zündstecker, der gehört auf die Zündkerze. Und wenn alles nach Benzin stank, war vielleicht die Pumpe defekt. Die Benzinpumpe. Und du hast das Kabel einfach so auf den Motor gelegt und dann versucht den Wagen anzulassen?“

„Genau, irgendetwas musste ich ja tun.“ Erwin wurde mir langsam unheimlich. Was der für ein Wissen besaß!

„Dann hast du vermutlich durch den Stromstoß im Zündstecker deinen Wagen angezündet“, resümierte er und sah mich ernst an. „Was kann ich dir zu essen machen, Jonathan? Du bist doch nicht nur zum Quatschen hier.“

Da sich noch keine Gäste in seinem Lokal befanden, war die Gelegenheit günstig und ich bot ihm an: „Willst du mal meinen neuen Wagen sehen? Ich habe ihn extra vor der Tür geparkt.“

„Der gelbe da draußen?“ Erwin wischte sich die Finger erneut an der Schürze ab, doch die war mittlerweile dermaßen voll von der weißen Pampe, dass er alles nur noch verrieb. Er kam erneut um die Theke herum. „Jonathan Lärpers, natürlich möchte ich deinen neuen Wagen sehen. Wie kannst du nur fragen?“ Erwin öffnete die Tür und Spuren von Mayo blieben an dem Griff zurück. Ich folgte ihm schnell und beobachtete, wie mein Freund mit Kennerblick um das Fahrzeug herumging. „Ist das ein Kia Venga? Schön. Wirklich schön. Auch die Farbe. Ich liebe kräftige Farben und dieses Gelb, das ist so ... so ...“ Er suchte das richtige Wort und ich war gespannt, wie mein fachkundiger Freund die Farbe bezeichnen würde. „So postalisch“, stieß er schließlich triumphierend aus. „Du weißt aber wohl, dass du hier im Halteverbot stehst?“

„Klar“, winkte ich grinsend ab. Aber um diese Zeit machen die Ordnungshüter alle Mittagspause. Wir haben nichts zu befürchten.“

„Kann ich mich mal reinsetzen?“

„Selbstverständlich mein Freund. Ich entriegelte die Fahrertür und hielt sie ihm auf. Erwin ließ sich seufzend hinter das Steuer fallen.

„Es ist lange her, dass ich in solch einem Wagen gesessen habe“, grinste er dann und umfasste das Lenkrad mit beiden Händen. Gelbliche Mayonnaise verteilte sich darauf, doch die ließ sich später mit einem Lappen leicht wieder abwischen. „Schade, dass wir keine Probefahrt machen können“, gab Erwin traurig von sich. „Aber gleich kommen die Gäste und ich kann mein Geschäft ja nicht alleine lassen.“

„Vielleicht ein andermal, Erwin. Ich habe ja selbst nicht so viel Zeit, ich muss gleich wieder ins Büro zurück.“ Geheimnisvoll fügte ich hinzu: „Ein neuer Auftrag.“

„Und essen musst du ja auch noch etwas“, merkte mein Freund richtig an und quälte sich mühsam zurück auf die Straße. Seine Schürze blieb an der Innenseite der Tür hängen und ein lustiges Muster aus Mayonnaise verteilte sich darauf. Aber auch das ließ sich abwischen. Erwins fachliche Meinung war mir - ehrlich gesagt - wichtiger.

„Weißt du, Jonathan. So ein Wagen“, er tätschelte den Kotflügel und auch hier blieben Mayoflecken zurück, „hat noch etwas archaisches. Schlicht und einfach, wenn du weißt, was ich meine. Nicht so hochgezüchtet und voller Technik wie mein R 190.“

„Du fährst einen Renault?“, staunte ich.

Erwin lachte: „Nein, nein. Mercedes AMG Roadster R 190. Aber du glaubst nicht, was da an verwirrender Technik drinsteckt. Da kannste nicht mal selbst mehr die Lampen wechseln ...“

Ich wusste gar nicht, dass Erwin solch einen Wagen fuhr, doch mir blieb jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Mein Freund schob mich zurück in den Imbiss.

„Also, was darf ich dir zaubern? Weißt du was?“

„Nein, was?“

„Zur Feier des Tages geht die Mayonnaise auf mich. Warte, ich mache dir ein Spezialmenü, das der Situation angemessen ist. Geh schon mal an den Tisch dort hinten, ich werde dich bedienen. Ein Bier dazu?“

„Lieber eine Cola, ich muss ja noch fahren.“ Hochzufrieden stellte ich mich mit der kleinen Flasche an den Stehtisch. Erwin wusste seine Gäste zu verwöhnen und ich war gespannt, was er mir diesmal auftischen würde.

Mehrere Männer in orangefarbenen Overalls betraten den Imbiss und berieten sich lautstark, was sie bestellen sollten, als Erwin eine hochgefüllte Pappschale vor mich hinstellte. Ich konnte nicht erkennen, was sich darin befand, denn ein riesiger Berg an Mayonnaise verhüllte alles. Erwin grinste: „Mein neuestes Rezept: Curryhähnchenflügel. So etwas Leckeres hast du bestimmt noch nie gegessen! Guten Appetit, lieber Jonathan.“

„Die Gabel, Erwin. Da fehlt noch die Gabel.“ Er hatte mir lediglich eine Serviette hingelegt und wollte sich schon seinen anderen Gästen zuwenden.

Erwin wandte sich lächelnd um und schüttelte den Kopf: „Jonathan! Wo bleibt der Gourmet in dir? Hähnchen isst man mit den Fingern, auch in der Öffentlichkeit. Ich dachte, du weißt das.“

Vorsichtig schob ich die Mayonnaise zur Seite, wobei ein Teil auf den Tisch schwappte, und fand darunter eine Schicht matschiger Pommes Frites, die in roter Soße schwammen. Als ich weiter suchte, entdeckte ich schließlich am Boden der Schale zwei Hähnchenflügel. Ich musste Erwin recht geben: Das war einmal etwas anderes, als die profane Currywurst.

Ich knabberte gerade an dem zweiten Flügel, als einer der Arbeiter seinen Kumpel anstieß und grinste: „Schau mal, Hannes, da wird gerade wieder einer abgeschleppt.“ Die Männer lachten böse und mir rutschte das Herz in die Hose. Rasch wischte ich meine Hände an der Serviette ab und eilte zur Tür.

„Jonathan, du musst noch bezahlen!“, rief Erwin hinter mir her, doch ich hatte jetzt anderes im Sinn. Fluchend blickte ich dem Abschleppwagen mit dem postgelben Auto auf der Ladefläche hinterher.

Das Taxi hielt genau vor der Eingangstür zu dem Gebäude im Gewerbegebiet Güdderath, in dem sich Bernd Heisters Detektei ‚Argus‘ befand. Das Gebäude befand sich zwei Straßen von dem Krav Maga Studio entfernt und Bernd hatte es vor einigen Jahren günstig kaufen können, als eine Firma, die irgendwelche Dokumente digitalisierte, Konkurs anmelden musste. Jetzt befanden sich hier die Büros von Christine, Birgit und mir. Eine gute Lösung, denn zum Krav Maga Studio war es nicht weit, so dass man auch zu Fuß gehen konnte. Außerdem gab es hier einen Schulungsraum, den wir mittlerweile unseren ‚Planungsraum‘ nannten und in dem wir alle wichtigen Meetings abhielten.

Bernd kam mir schon an der Türe entgegen und sah mich fragend an: „Mit dem Taxi, Jonathan? Ist dein neuer Wagen schon kaputt?“

„Nein“, entgegnete ich zerknirscht. „Der wurde leider abgeschleppt, ich kümmere mich heute Nachmittag darum. Ich war nur kurz bei Curr...“

„Gut, gut“, unterbrach er mich und sah auf seine Uhr. „In zehn Minuten im Planungsraum. Und“, er sah mich von oben bis unten an, „du solltest dich vielleicht ein wenig säubern. Die Flecken dort, ist das Mayonnaise? Ich bin gleich wieder da, muss nur noch kurz in mein Büro drüben.“

„Irgendeine Ahnung, um was für einen Auftrag es sich handeln könnte?“, fragte ich Birgit, die mir gegenüber am Tisch im Planungsraum saß. Sie schüttelte nur den Kopf und las weiter in irgendeinem Bericht. Ich nickte und dachte an meinen Wagen. Ob mir die Polizei sagen könnte, wo ich ihn finden würde? Wer konnte aber auch ahnen, dass er so schnell abgeschleppt würde? Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, den kleinen Affen am Spiegel zu befestigen. Vielleicht wäre der Wagen nicht abgeschleppt worden, hätte der Talisman dort gehangen.

Bernd kam zehn Minuten zu spät und er winkte nur ab, als ich auf meine Uhr am Handgelenk deutete. „Ja, Jonathan, ich weiß. Aber das Gespräch mit Eberson ging vor.“ Er zog aus seinem Aktenkoffer zwei Mappen hervor und reichte eine davon Birgit und die andere mir. „Darin findet ihr alle Informationen über euren nächsten Auftrag. Ich gebe euch kurz eine Zusammenfassung, so dass ihr euch ein Bild machen und eventuell Fragen stellen könnt.“

Er begab sich zum Kopfende des Tisches und nickte uns zu: „Auf der ersten Seite findet ihr einen kurzen Lebenslauf des Mannes, um den es hier geht: Sein Name ist Sergio Palyska. Wie auf den Bildern auf den folgenden Seiten unschwer zu erkennen ist, verdient der Mann seinen Lebensunterhalt als Balletttänzer. Sein letztes Engagement fand in Düsseldorf statt, wo er an der Deutschen Oper getanzt hat. Palyskas Vertrag ist letzten Monat ausgelaufen, wurde auch nicht verlängert und der Mann plant nun eine eigenständige Tournee mit dem Titel ‚Tanz des Flamingos‘. Das klingt nicht sonderlich originell, ist es auch nicht.“

„Wozu braucht ein Tänzer unsere Hilfe?“, fragte ich. „Bedroht man sein Leben?“

„Dazu komme ich gleich, Jonathan. Lass mich einfach ausreden, dann erfährst du alles. Also: Palyska plant diese Ein-Mann-Show mit den Stationen Düsseldorf, Paris, London, Sydney in Australien und New York. Das ist alles noch nicht sonderlich aufregend, hätte der Mann sich nicht vor drei Wochen extrem hoch versichern lassen. Und das extra für seine Auslandsaufenthalte.“

„Das klingt merkwürdig“, warf ich ein und erntete einen harschen Blick meines Freundes. Ich wusste ja, dass ich ihn ausreden lassen sollte, doch die Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen. „Machen denn die Versicherungen so etwas überhaupt?“

Bernd seufzte und nickte angestrengt: „Ja, Jonathan, sonst hätten sie ja wohl kaum einen Vertrag mit Palyska geschlossen. Immerhin geht es um 5 Millionen Euro bei einem Unfall und fünfzig Millionen, falls Palyska zu Tode kommt.“

„Na, da wird er aber nicht viel von haben, wenn er tot ist“, lächelte ich und sah Beifall heischend zu Birgit. Die ignorierte mich aber.

„Er sicher nicht, Jonathan. Aber seine Frau. Sergio Palyska ist seit einem halben Jahr mit Jekaterina Krynow, genannt ‚Jeka‘, verheiratet. Sie ist ebenfalls Tänzerin, beziehungsweise war es bis vor Kurzem noch und arbeitete unter ihrem Mädchennamen. Momentan unterstützt und managt sie ihren Mann.“ Bernd holte tief Luft und sah uns an.

„Wie gesagt: Der Versicherungsvertrag gilt lediglich im Ausland und auch nur für die Dauer dieser Tournee. Unser Auftraggeber bei dieser Sache ist die Versicherung, die ihren Vertragspartner sicher und geschützt wissen will. Die Summe ist einfach zu hoch, als dass dem Tänzer irgendetwas passieren darf.“

Ich unterbrach meinen Freund erneut, es waren zu viele Ungereimtheiten, die mir auffielen: „Warum schließt die Versicherung denn überhaupt so einen bescheuerten Vertrag ab? Das klingt für mich alles ein wenig konfus.“

Bernd nickte ernst: „Ja, aber welchen Grund könnte es wohl für eine Versicherung geben, solch einen Vertrag abzuschließen?“

„Keine Ahnung“, gab ich ehrlich zu. „Keinen.“

„Doch“, erklärte mein Chef, „es gibt einen: Geld. Die Prämie, die Palyska zahlen muss, ist dermaßen hoch, dass die Typen von der Versicherung einfach nicht ‚nein‘ sagen konnten. Irgendjemand bei dieser Versicherung hat dann aber wohl kalte Füße bekommen und mich heute Vormittag gefragt, ob ich kurzfristig zwei Leute als Bodyguards abstellen kann. Und da ihr beiden momentan keinen aktuellen Auftrag habt, übernehmt ihr das.“

„Und Dozers Lehrgänge? Die sollte ich doch übernehmen?“

„Ja, wirst du auch. Du und Chrissi, ihr übernehmt die Ausbildung. Du bis einschließlich Donnerstag, denn Freitagnachmittag geht euer Flieger nach Paris. Und Mitte nächster Woche ist Dozer wieder zurück, bis dahin macht Chrissi alleine weiter. Die Details findet ihr in den Mappen. Jennifer besorgt noch die Flugtickets, ihr fliegt zusammen mit Palyska in einer Linienmaschine. Von Paris geht es nach dem Wochenende weiter ins schöne London. Sobald wir die genauen Termine haben - wir müssen uns ja nach dem Künstler richten - werden eure Tickets am Flughafen hinterlegt.“

„Für wie lange ist die Tournee denn geplant?“

„Die Tournee soll fünf Wochen dauern, von denen vier im Ausland verbracht werden. Die fünfte Woche, also eigentlich die erste Woche, findet hier in Deutschland statt. Sergio Palyska beginnt seine Auftritte nämlich am kommenden Mittwoch im Savoy Theater in Düsseldorf. In der Plastiktasche hinten in der Akte findet ihr eine Eintrittskarte für die Auftaktveranstaltung. So lernt ihr den Mann kennen und könnt euch ein Bild von seinem ‚Tanz des Flamingos‘ machen. Die Karten hat übrigens die Versicherung spendiert, wenn ihr euch bedanken wollt, dann bei denen.“

Ich räusperte mich: „Es ist aber keine Pflicht, sich die Show anzusehen, oder? Ich bin nämlich nicht unbedingt ein Freund dieses ... dieses ... Herumgehopses.“ Fast hätte ich ‚schwulen Herumgehopses‘ gesagt, doch zum Glück hielt ich mich rechtzeitig zurück. Schließlich war Bernd selbst homosexuell und einmal mit mir im Bett gelandet, woran ich mich aber eigentlich nicht erinnerte. Damals begann meine Karriere als Privatdetektiv und ich hatte meinen Geburtstag mit viel zu viel Tequila gefeiert. Bernd fing mich damals auf, als ich vom Tisch fiel und brachte mich dann nach Hause. Morgens erwachte ich neben ihm, doch an das, was in der Nacht geschehen war, konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern ...

Bernd lächelte: „Doch, das ist es. Ihr macht euch schick und genießt einen kulturellen Abend quasi auf Firmenkosten. Die Fahrtkosten jedenfalls übernehme ich. Außerdem möchte ich, dass Palyska sieht, dass ihr an seinen Darbietungen Interesse zeigt. Also, sei kein solcher Banause, Jonathan. Ballett kann wunderschön sein, denke doch einmal an ‚Schwanensee‘ zum Beispiel.“

Ich dachte an Curry-Erwins Chicken Wings, die unter der dicken Schicht Mayonnaise in der Currysoße geschwommen hatten und ich musste unwillkürlich lächeln. Bernd deutete das falsch und meinte: „Na siehst du, jetzt freust du dich sogar auf den Abend. Ich wusste doch, dass wir dich gesellschaftsfähig bekommen!“

Der Mittwoch kam schneller als erwartet und damit auch die uns von Bernd auferlegte Veranstaltung.

Meinen Wagen hatte ich mit einiger Mühe und nach Zahlung der Strafe, sowie aller weiteren Kosten, wiederbekommen. Natürlich dachte ich nicht mehr an die von Erwin angerichtete Mayonnaise-Sauerei und meine Kleidung war schließlich mit Flecken übersät. Ich brauchte ganze dreißig Minuten, um das fettige Zeug von Lenkrad und Innentür zu wischen.

Und die Lehrgangsstunden im Studio teilte ich mir mit Christine und es tat ganz gut, einmal wieder so intensiv Kampfsport zu betreiben. Birgit nutzte jede freie Minute und machte sehr gute Fortschritte.

Doch jetzt stand ich vor dem mannshohen Spiegel in der Diele meiner Wohnung und betrachtete mich im Anzug. Ich war einigermaßen zufrieden. Christine, die eine Etage unter mir wohnte - sie war es auch damals gewesen, die mir diese Wohnung hier vermittelt hatte - würde Birgit und mich zum Bahnhof in Rheydt bringen. Ich wäre ja gerne mit meinem neuen Wagen nach Düsseldorf gefahren, doch mit dem Zug war es bequemer. Außerdem brauchte ich mir dann keine Sorgen um einen Parkplatz machen. Vom Hauptbahnhof aus würden wir bequem zu Fuß zu dem Theater gehen können, in dem der Auftritt dieses Balletttänzers stattfand.

Es schellte an meiner Wohnungstür und ich öffnete überrascht. Christine lächelte mich an: „Was ist, Jonathan? Noch immer nicht fertig? Es wird Zeit, sonst verpasst ihr noch euren Zug.“

„Der fährt doch alle halbe Stunde“, knurrte ich.

Chrissi schüttelte den Kopf: „Dann kommt ihr am Ende noch zu spät zu der Vorführung. ‚Tanz des Flamingos‘, das hört sich doch recht nett an.“

Birgit wohnte in der Nähe des Tierparks in Odenkirchen und die Kleine mit den bunten Haaren stand schon vor dem Haus. Sie trug einen bunten Rock und eine grellrote Bluse.

„Meinst du, dass deine Kleidung angemessen ist?“, fragte ich mit einem schiefen Blick auf die grellen Farben. „Schließlich ist das eine Ballettaufführung und keine Zirkusveranstaltung.“

„Ich find’s schön“, meine sie pikiert. „Heutzutage geht kaum noch jemand im Abendkleid ins Theater. Höchstens mal die alten Leute. Außerdem reicht es ja, wenn du so schick bist, obwohl - dein Anzug ist ja auch schon ein wenig in die Jahre gekommen. Und dann die Farbe ...“

Leider musste ich ihr Recht geben, die Kleidung hatte ich ganz hinten aus meinem Schrank gekramt. Ich trug lieber legere Sachen und diesen schwarzen Anzug zog ich eigentlich nur bei Beerdigungen an.

Christine setzte uns am Bahnhof ab und verabschiedete sich mit einem süffisanten ‚Na dann viel Spaß‘.

Ein Zug musste gerade eingefahren sein, denn eine Gruppe von sechs Jugendlichen, alle mit einer Flasche Bier in der Hand, kam uns grölend entgegen. Ein paar Meter vor uns blieben sie stehen und einer von ihnen, ein korpulenter Kerl mit rasiertem Schädel, kam auf Birgit und mich zu. „Hallo Süße“, lallte er und hielt ihr die Flasche hin. „Trink einen Schluck mit mir. Keine Lust mit uns zu kommen, wo willste denn mit dem Opa hin?“ Er sprach absichtlich laut und die anderen lachten.

„Entschuldigen sie“, wandte ich mich an den Mann und blickte auf meine Uhr. Es blieb uns zwar noch etwas Zeit bis unser Zug abfahren würde, doch ich wollte mich jetzt von diesen Jugendlichen nicht aufhalten lassen. „Wir müssen auf den Bahnsteig, sonst verpassen wir unseren Zug.“ Ich wollte an ihm vorbeigehen, doch er stellte sich mir in den Weg. Eine Woge aus Alkoholdunst und Schweiß wehte mir entgegen.

„Nix da. Erst muss deine Tochter einen mit mir heben.“

„Sie ist nicht meine Tochter“, erklärte ich und trat einen Schritt zur Seite. „Komm“, meinte ich dann zu Birgit. „Es wird Zeit!“

„Hey, ich habe gesagt, die Kleine soll einen trinken. Und wenn ich sage, sie soll einen trinken, dann soll sie einen trinken.“

„Entschuldigung“, meldete sich jetzt Birgit zu Wort, die bisher mit einem Lächeln um den Mund alles beobachtet hatte. „Ich möchte jetzt lieber kein Bier trinken. Das können sie doch verstehen, oder? Lassen sie uns einfach nur vorbei.“

Jetzt traten die anderen aus der Gruppe etwas näher zu ihrem Kumpel heran. „Sie muss mit dir trinken“, stachelte einer den Glatzköpfigen an und der nickte.

Er hielt Birgit das Bier hin und befahl: „Los, trink!“ Birgit nahm die Flasche und beförderte sie mit einem gezielten Wurf in den nächsten Mülleimer. Mit einem Klirren verschwand sie. Dann lächelte sie den Mann zuckersüß an.

„Verdammte Schlampe!“, rief der und hob die Hand.

„Bitte“, ging ich dazwischen. „Das muss doch nicht sein. Wir sind zwei gegen sechs und das ist nicht fair. Ihr könntet verletzt werden!“

Der Kerl hielt die Hand immer noch in der Luft und sah mich grinsend an. „Laber nicht so’n Scheiß, Opa. Wir machen euch fertig!“

„Warum überlässt du die Sache nicht mir?“, fragte mich Birgit. „Dann ist das Verhältnis nicht ganz so unfair. Eine gegen sechs, das geht doch.“

„Ja“, murrte ich. „Du willst den ganzen Spaß für dich alleine.“ Ich blickte wieder auf meine Uhr, dann sah ich dem Glatzkopf ins Gesicht. „Okay, ich halte mich zurück. Doch wenn sie uns jetzt nicht den Weg freigeben, dann kann ich für nichts garantieren. Wir wollen keinen Ärger und bitten sie, uns in Ruhe zu lassen.“

„Laber nicht so’n Scheiß!“

„Das sagten sie schon, sie wiederholen sich.“ Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten sie lieber nicht so früh mit dem Biertrinken anfangen.“

Der Korpulente sah mich nur blöde an, dann wandte er sich Birgit zu und ließ die Hand auf sie herabsausen. Doch da, wo das Mädchen eben noch gestanden hatte, war niemand mehr. Die Hand sauste ins Leere und der Dicke fluchte. Einer der Jungen trat von der Seite auf Birgit zu und wollte sie festhalten. „Warte, ich halte sie für dich fest“, konnte er gerade eben noch nuscheln, dann zog Birgit ihm in einer eleganten Drehung die Beine weg. Sie trat geschickt von vorne zu, so dass der Mann mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlug. Das Brechen der Nase war deutlich zu hören und Blut schoss aus Nase und Mund.

Anstatt, dass dem Dicken das Schicksal seines Kumpels eine Lehre gewesen wäre, ging der jetzt schnaufend auf Birgit los. Im selben Moment zückte ein weiterer Jugendlicher ein Messer und ich musste grinsen. Das gab mir eindeutig das Recht, jetzt einzugreifen!

Während Birgit sich unter dem Arm des Glatzköpfigen wegdrehte, seine Hand ergriff und sie aus dem Schwung heraus so verdrehte, dass das Handgelenk brach, stoppte ich den Angreifer mit dem Messer durch einen gezielten Ellbogenstoß ins Gesicht. Dann fixierte ich seinen Arm mit der Waffe und entwand sie seinen Fingern. Dass dabei zwei davon knackend brachen, störte mich weniger, als die Schmerzensschreie, die die Verletzten ausstießen. Als Birgit schließlich auf die drei verbleibenden Gestalten zuging und ‚buh‘ machte, rannten die planlos davon.

„Wie siehst du denn aus?“, fragte die Bunthaarige und zeigte auf mein Jackett, als wir uns im Zug auf einen Platz setzten. Ich blickte an mir herunter und bemerkte, dass ein langer Riss durch den Stoff ging. Der Anzug war einfach zu alt und das Gewebe morsch. Ich zuckte mit den Schultern. Ändern konnte ich jetzt ja ohnehin nichts mehr.

„Vielleicht sollten wir doch nicht zu der Aufführung gehen“, versuchte ich einen Rückzieher zu machen, aber Birgit schüttelte nur den Kopf.

„Das geht nicht. Wir wollen doch Sergio Palyska kennenlernen. Zieh später einfach die Jacke aus und trag sie über der Schulter. Dann fällt keinem auf, dass sie einen Riss hat.“

Das Theater fanden wir neben einer Geschäftszeile in der Düsseldorfer Innenstadt. Es machte auf mich den Eindruck, als handele es sich um ein ehemaliges Kino und Birgit bestätigte meine Vermutung. „Das Kino wurde Neunzehnhundertachtundfünfzig eröffnet und erst im Jahr Zweitausend geschlossen. Noch im gleichen Jahr funktionierte man es dann in eine Kleinkunstbühne um.“

Ich sah meine Kollegin fragend an, während wir das Foyer betraten. „Kleinkunstbühne?“

„Ja, Comedy und so etwas. Kennst du nichts davon?“

„Interessiert mich einfach nicht. Kleinkunst. Ich gebe mich doch nicht mit Kleinkram ab. Wieso tut sich das eigentlich dieser Sergio Palyska an, wenn er doch schon an der Deutschen Oper getanzt hat?“

Birgit überlegte: „Das kannst du ihn ja nach der Vorstellung selber fragen. Vielleicht war es sein großer Traum mit einem eigenen Programm auf Tournee zu gehen. Ein Traum, den er sich jetzt erfüllt, da sein Vertrag ausgelaufen ist.“

Ich bestellte etwas zu trinken für uns und sah mich um. In dem Raum befanden sich mehrere Gruppen von Menschen, die sich leise miteinander unterhielten. Niemand von denen trug ein Abendkleid oder einen Anzug. Vorwiegend sah ich Jeans, legere Hemden und luftige Kleider oder Röcke. „Ich komme mir overdressed vor“, raunte ich Birgit zu. „Kein Mensch läuft im Anzug herum.“

„Das habe ich doch gesagt, Jonathan. Die Zeiten ändern sich. Es geht nicht mehr so förmlich zu, wie zu der Zeit, als du deine Tanzschule absolviert hast.“ Birgit nahm einen Schluck Cola.

„Ich war nie in der Tanzschule“, gab ich zu. „Damals waren für uns Jungs andere Dinge wichtiger. Mopeds zum Beispiel.“

„Oder Mädchen“, ergänzte Birgit und lächelte schelmisch.

„Das kam erst viel später.“ Ich erinnerte mich an meine Abenteuer im Schwimmbad. „Na ja, nicht wirklich viel später.“

Plötzlich wurde ich angerempelt und reflexartig wollte ich in Kampfstellung gehen, als eine tiefe Männerstimme hinter mir ertönte: „Oh, sorry Mann. War keine Absicht.“

Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht eines Negers. Der Mann lächelte mich an und mir fielen sofort die weißen Zähne in dem dunklen Gesicht auf. Er trug ein knallbuntes Hemd mit Blumenmuster und blickte an mir herunter: „Oh man, what ... Das ist cool, Junge.“ Er zeigte auf den Riss in meiner Jacke. Das wird garantiert der Trend des Sommers. Einfach cool, supercool! Warte Mann, nicht weglaufen.“ Er ging langsam rückwärts und beobachtete mich dabei, dann drehte er sich um und lief zu einer Gruppe, die weiter hinten in der Ecke standen. Birgit und ich sahen uns fragend an.

Zwei Minuten später wurden wir von den Leuten umringt. „Na, People, ist das nicht megacool? Habe ich zu viel versprochen?“ - „Hammer.“ - „Uppercool.“ - „Super“, hörte ich die Leute murmeln. Eine Frau kramte in ihrer Handtasche herum und zauberte eine kleine Nagelschere hervor. Der Schwarze jubelte und klatschte in die Hände. „Außerordentlich!“, rief er.

Dann schnitt er sein Hemd ein, bis ein Riss, ähnlich dem in meiner Jacke, entstand. Die Leute jubelten. Einer nach dem anderen tat es ihm nach und alsbald stand mir eine Gruppe von Männern gegenüber, deren Hemden so kaputt waren, wie mein Jackett. Ich hörte Birgit hinter mir leise lachen.

„Cool, wir müssen ein Foto machen, einverstanden?“ Der Neger sah mich fragend an und ich nickte. Die Männer in ihren zerrissenen Hemden stellten sich um mich herum und der Dunkelhäutige legte einen Arm um meine Schultern. Die Frau mit der Nagelschere schoss mehrere Bilder mit ihrem Handy.

In diesem Moment ertönte ein Gong, der den Beginn der Aufführung ankündigte. Die Leute stoben auseinander und plötzlich standen Birgit und ich wieder alleine da. „Die Düsseldorfer Yuppies“, lachte sie und die Tränen liefen ihr über die Wangen. „Die Schickeria. Und du gehörst ganz offensichtlich dazu! Jonathan Lärpers, du bist aber auch sooo cool, sooo supercool.“

Als wir unsere Plätze in dem Saal aufsuchten, lachte sie immer noch.

Verwundert sah ich mich um. Auf den Sitzen saßen gut verteilt vielleicht dreißig Leute. Die Typen in der Gruppe mit dem Schwarzen fotografierten sich jetzt gegenseitig und standen dazu immer wieder von ihren Plätzen auf. Ein zweiter Gong ertönte, doch keine weiteren Zuschauer strömten in den Saal. Dann wurde es langsam dunkler, bis nur noch eine Minimalbeleuchtung herrschte. Plötzlich wurde die Bühne durch einen einzelnen Scheinwerfer in grelles Licht getaucht.

Eine Frau trat in den Scheinwerferkegel und Applaus brandete auf. Ich schätzte sie auf vielleicht einen Meter fünfundsechzig. Vom Aussehen her tippte ich darauf, dass es sich um die Ehefrau von Sergio Palyska handeln musste, was mir Birgit auch direkt flüsternd bestätigte: „Jeka Krynow, die Ehefrau. Sie managt die Tournee.“

„Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren“, begann sie ihre Ansprache, die über eine Lautsprecheranlage übertragen wurde. „Ich freue mich, sie zu unserer Auftaktveranstaltung ‚Tanz des Flamingos‘ so zahlreich begrüßen zu dürfen. Ich kann ihnen versprechen, dass sie einer außergewöhnlichen Darbietung beiwohnen werden. Der große Künstler Sergio Palyska hat für dieses besondere Ereignis auf die Verlängerung seines Vertrages an der Deutschen Oper am Rhein verzichtet, um sich einen Jugendtraum erfüllen zu können.“

„Ich dachte, die haben seinen Vertrag nicht verlängert?“, raunte ich Birgit zu. Ich konnte mich genau daran erinnern, dass Bernd solche Worte gebraucht hatte.

„Stimmt“, gab sie ebenso leise zurück. „Aber das können sie ja hier schlecht sagen, oder? Tatsache ist aber, dass Palyska Leistungen wohl zu wünschen übrigließen. Er kommt in ein Alter, in dem man jüngere Tänzer bevorzugt.“

Ich nickte und lauschte wieder den Worten der Frau auf der Bühne.

„Sergio Palyska wurde als Sohn georgischer Auswanderer am zweiundzwanzigsten Februar Neunzehnhundertvierundachtzig in Münster geboren. Schon als Kind begeisterte er sich für den Tanz und damit verbundene Ausdrucksformen. Dank einem Freund der Familie, der sein Talent erkannte und ihn förderte, erhielt Sergio schon mit drei Jahren Tanzunterricht und wechselte mit sechs Jahren an die Ballettschule der Deutschen Oper am Rhein. Sergio erlernte den Tanz unter dem berühmten Ballettdirektor Neyusa Restabrunya.“

Erneut applaudierten die Zuschauer. Vermutlich handelte es sich um Leute, die sich in der Ballettszene auskannten. Oder die einfach nur klatschten, wenn ein neuer Name fiel.

„Und jetzt ist er hier bei ihnen: Sergio Palyska“, fuhr sie fort. „Der König der Körperbeherrschung, der Meister des Tanzes, der Star der Deutschen Oper am Rhein. Sergio Palyska.“

Ich nutzte den anhaltenden Applaus und beugte mich zu Birgit hinüber: „Ich bin auch Meister der Körperbeherrschung“, flüsterte ich ihr zu und rülpste laut und anhaltend. „Jeder andere hätte jetzt gekotzt!“

„Jonathan Lärpers, du bist widerlich“, flüsterte sie zurück, doch mir schien, dass sie ein Grinsen unterdrückte.

Eine Flöte erklang und es erinnerte mich stark an persische oder arabische Musik. Die Folge der Töne wiederholte sich ständig und ging mir schon mächtig auf die Nerven, bevor der Tänzer überhaupt auf der Bühne erschienen war. Dann endlich zeigte er sich. Ein Mann, gekleidet in Weiß, wobei sein unterer Teil von einer Art Strumpfhose bedeckt wurde, tanzte mit langen Schritten von links nach rechts, drehte sich einmal und hüpfte in der Gegenrichtung wieder in die andere Ecke. Die Zuschauer applaudierten erneut lang und anhaltend, während der Mann jetzt im Kreis herumtanzte. Die ewig gleichen drei Töne der Flötenmusik intensivierten sich, wurden mal schneller und mal langsamer. Sergio Palyska wiegte seinen Körper im Rhythmus der Musik, sprang, stakste und rannte von links nach rechts, dann wieder von rechts nach links und ich hoffte, dass ihm bald die Puste ausgehen würde. Die jungen Leute mit den Schnitten in ihren Hemden nickten im Takt und der Neger zeigte unentwegt sein reinweißes Gebiss.

Genau eine Stunde musste ich das Gedudel und Gehopse ertragen, dann endete die Musik abrupt und der Künstler stand schweißnass und am ganzen Körper zitternd vor seinem Publikum. Schließlich verbeugte er sich, während die Zuschauer unentwegt klatschten und ‚Bravo‘ riefen.

„Das war aber schön“, gab ich sarkastisch von mir. Irgendwie wollte ich meine Freude darüber ausdrücken, dass der Auftritt endlich zu Ende war.

„Da hast du Recht“, stimmte mir Birgit zu und ich fragte mich, ob sie das ernst meinte oder meinen Sarkasmus bemerkt hatte. „Gehen wir zum großen Künstler und machen wir uns mit ihm bekannt.“

Den Tänzer fanden wir in einem kleinen Raum hinter der Bühne, der zum Umkleiden diente. Da die Tür offenstand, sparte ich mir das Klopfen und trat direkt ein. Birgit folgte mir auf dem Fuße. Sergio Palyska unterhielt sich gerade mit seiner Frau und ich bemerkte, dass die beiden miteinander stritten.

„Und ich sage dir, Sergio, deine Drehung in der zweiundzwanzigsten Minute war ein wenig zu dynamisch.“

„War sie nicht“, widersprach er seiner Frau. „Ich brauchte den Schwung für den nachfolgenden Entrechat, das weißt du ganz genau.“

„Du wärst fast gestolpert. Sieh das doch ein.“ Jeka Krynow deutete ein Stolpern an und lachte.

„Ach, du bist ja so gemein zu mir, so ... so ...“

Ich räusperte mich und beendete damit den Disput. Die beiden drehten sich überrascht zu uns um.

„Huch, was wollt ihr denn hier? Hinaus, hinaus“, rief der Künstler entsetzt. „Autogramme gebe ich doch gleich in der Lobby. Ach, was seid ihr Fans aber auch aufdringlich. Hinaus, hinaus!“

„Jonathan Lärpers“, stellte ich mich vor und hielt meinen Detektivausweis hoch. Das gab der ganzen Angelegenheit einen offiziellen Charakter, wie ich hoffte.

„Wer seid denn ihr?“, fragte Sergio und sah dabei seine Frau an. „Gewerkschaft? Polizei? Nein, wie aufdringlich.“

„Wir sind ihre Bodyguards“, fiel jetzt Birgit ein und ging lächelnd auf den Mann zu. Der wich ängstlich zurück.

„Nein, weg, bah. Was für Bodyguards? Jeka, sag doch auch etwas!“

Die Frau nickte und räusperte sich: „Ich habe dir doch erzählt, dass die Versicherung darauf besteht, Leute für deinen Schutz abzustellen.“

„Ja, ja. Aber doch nicht hier. Im Ausland, nur im Ausland. Ach, ich brauche jetzt meine Ruhe, gehen sie, gehen sie.“

Sie wandte sich an uns und meinte beschwörend: „Geben sie meinem Mann ein paar Minuten, bitte. Wir kommen dann gleich ins Foyer, dort wird Sergio auch Autogramme geben. Bitte warten sie dort auf uns.“

Ich nickte und wir zogen uns zurück. „Stockschwul“, lächelte ich. „Der Mann ist ja stockschwul.“

Birgit sah mich von der Seite an und in ihrem Blick schwang etwas Missbilligung mit: „Homosexuell, Jonathan. Du vergisst allerdings, dass Sergio verheiratet ist. Vielleicht spricht er aber auch nur so, weil er ja gerade eine anstrengende Performance hinter sich hat.“ Sie überlegte einen Moment: „Ach ja, wie betitelst du Bernd eigentlich?“

„Bernd benimmt sich aber nicht wie ein Schwul - wie ein Homosexueller. Und er spricht auch nicht so!“

Mittlerweile waren wir im Foyer angelangt und ich bestellte uns an der Bar etwas zu trinken. Die Gruppe mit den zerrissenen Hemden bemerkte mich und begann zu klatschen. „Bravo, bravo“, riefen sie und ich sah mich um, ob der Meister eingetroffen sei. Doch die Leute meinten offensichtlich mich.

„Das gilt dir“, bemerkte Birgit irritiert. „Weswegen machen die jetzt so ein Theater?“ Als die Männer auf ihre zerschnittenen Hemden zeigten, lächelte sie verstehend. „Ach so, wegen der neuen Kleiderkreation. Jonathan Lärpers, der Trendsetter! Du bist jetzt auch so etwas, wie ein Star. Jedenfalls in der Szene hier.“

Erneut brandete Applaus auf und diesmal klatschten auch die anderen Personen. Ich verbeugte mich gerührt und wollte gerade dankend die Hände heben, als Sergio Palyska mit seiner Frau an uns vorbeirauschte. Sofort bildete sich eine dichte Traube um ihn herum.

„Hach Kinder, wie lieb ihr doch seid“, hörte ich ihn säuseln. Er trug jetzt ein weißes Rüschenhemd und dazu eine Kniebundhose mit Schnürung. Das sah bescheuert aus, aber nicht ganz so dämlich wie die Strumpfhose, die er beim Tanzen getragen hatte.

Ich lächelte Birgit an. „So eine Hose würde mir bestimmt auch stehen“, scherzte ich und sie nickte ernsthaft.

„Ja, Jonathan. Das würde bestimmt zu dir passen.“ Wollte die Kleine meinen Sarkasmus übertreffen oder meinte sie es ernst?

Die Männer führten dem Tänzer jetzt stolz ihre kaputten Hemden vor und wenige Minuten später kam der mit seiner Frau im Gefolge auf uns zu. Lächelnd streckte er mir die Hand entgegen. „Herrjechen, wenn ich das gewusst hätte ... Du bist ja auch ein großer Künstler. So eine gewagte Kreation und solch ein großartiger Erfolg. Ich verneige mich vor dir, Herr Läjers. Du musst unbedingt auch für mich etwas Schönes entwerfen. In Paris, der Stadt der Mode, das ist genau der richtige Ort. Ach, wie ist das aber herrlich, herrlich.“

„Wir sind hier, damit sie uns schon einmal kennenlernen“, erklärte ich. Auf seine Modewünsche ging ich lieber nicht ein. Außerdem irritierte mich Birgits Dauergrinsen. „Das hier ist meine Kollegin Birgit Zickler und mein Name ist Jonathan Lärpers.“

„Herrjechen, das sagtest du doch schon. Johni, das klingt so ... so ... romantisch. Ich bin der Sergio. Mit scharfen ‚Ser‘ und weichem ‚gio‘.“ Plötzlich hatte er zwei Gläser mit Sekt in den Händen und hielt mir eines davon hin. „Stößchen, lieber Johni. Auf eine gute und produktive Zusammenarbeit.“

Ich prostete ihm mit meiner Limonade zu und bevor die Situation peinlich werden konnte, nahm seine Frau ein Sektglas aus seiner Hand. „Willkommen in der Familie. Ich bin Jekaterina Krynow, ihr könnt mich ‚Jeka‘ nennen. Wie hat euch die wundervolle Vorführung gefallen? War es nicht einfach umwerfend?“

„Einfach grandios“, fiel Sergio ein und ich nickte.

„Super spitzenmäßig“, lobte ich. „Besonders der Entrechat. Diese Eleganz, diese Anmut. Ich hätte noch stundenlang zusehen können. Bravo Meister, mein besonderes Bravo.“

In diesem Moment erhielt ich von Birgit einen Stoß in die Seite. Ich nahm an, sie wollte mir damit mitteilen, dass ich es nicht übertreiben sollte.

„Ach Herrjechen, du verstehst aber etwas von echter Kunst. Am Ende warst du selbst einmal aktiv im Ballett? Wie herrlich, wie herrlich. Ein Künstler und wahrhaft talentierter coupeur.“

Ich musste ein wenig ratlos dreingeschaut haben, was Birgit veranlasste mir zuzuflüstern: „Coupeur ist Französisch und bedeutet so viel wie ‚Schneider“

Ich war heilfroh, als Sergio sich wieder seinen anderen Gästen zuwandte.

Final - Tanz

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