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II.

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Die Tage vergingen schnell, das Training hielt mich in Atem. Bernd ließ mich am Freitagvormittag noch einen Krav Maga Lehrgang für Polizisten abhalten, dann konnten Birgit und ich uns auf den Flug nach Paris vorbereiten. Die Kleine mit den bunten Haaren hatte immer fleißig teilgenommen und jetzt, auf dem Weg zur Dusche fragte ich sie: „Wie wär’s, Birgit, soll ich dich noch zum Mittagessen bei Curry-Erwin einladen, bevor es nach Frankreich geht? Du hast auch immer noch eine Probefahrt in meinem neuen Wagen ausstehen. Vielleicht kommt Christine ja auch mit.

„Zu Curry-Erwin?“ Birgit lachte. „Da kriegen mich keine zehn Pferde mehr hin. Wenn überhaupt, dann musst du mich schon in ein vernünftiges Lokal einladen. Aber heute habe ich leider keine Zeit, denn ich fahre nach dem Duschen nach Hause und packe noch die letzten Sachen für die Reise zusammen. Vielleicht solltest du das ebenfalls machen, anstatt dir den Bauch mit pappigen Pommes, ranziger Mayonnaise und muffigen Currywürsten vollzuschlagen. Und wenn sie dir dann wieder deinen Wagen abschleppen, kommst du am Ende auch noch zu spät zu Chrissi und dann kannst du zusehen, wie du nach Düsseldorf kommst. Du weißt doch, dass sie um halb zwei losfahren will?“

Ich nickte. Diesmal wollten wir nicht mit dem Zug nach Düsseldorf fahren, sondern Christine brachte uns mit dem Wagen zum Abfluggebäude. Wegen der langen Reise brauchten wir je zwei Koffer und der Transport im Zug wäre einfach zu umständlich geworden. Natürlich müsste ich pünktlich sein, denn meine Kollegin würde nicht auf mich warten. Ich begrub meine Pläne mit Curry-Erwin, obwohl ich ihm gerne von meiner Abreise nach Paris erzählt hätte. Zu Hause kochte ich mir schnell ein paar Nudeln und checkte mein Reisegepäck auf Vollständigkeit. Unsere Waffen mussten wir schweren Herzens bei Bernd im Safe lassen, doch die würden wir eh nicht brauchen. Hoffentlich.

Diesmal stand ich zeitig vor Christines Wohnungstür eine Etage unter meiner. Die beiden Koffer hatte ich hinter mir die Treppe heruntergezogen, schließlich verfügten sie an einer Seite über Rollen. Es polterte ziemlich laut und Sekunden später öffnete sich die Tür gegenüber und die alte Nachbarsfrau erschien im Rahmen. „Was machen sie denn für einen Lärm hier? Kennen sie nicht die Hausordnung? Jetzt ist Mittagsruhe und daran haben sie sich auch zu halten. Wer sind sie überhaupt?“ Dann fiel ihr Blick auf die beiden Koffer und sie schüttelte den Kopf: „Das geht nicht, sie können nicht einfach bei Frau Weru einziehen wollen! Ist das denn mit der Hausverwaltung abgesprochen?“

„Ich will nicht einziehen“, erklärte ich. „Außerdem wohne ich hier. Sie sollten mich inzwischen doch kennen.“

„Sie wohnen hier? Mit den Koffern im Treppenhaus? Das wird ja immer schöner. Wenn sie nicht sofort das Haus verlassen, rufe ich die Polizei!“

„Gute Frau“, versuchte ich sie zu besänftigen. „Ich bin der Mieter über Frau Weru, sie kennen mich doch. Mein Name ist Jonathan Lärpers.“

„So, so. Das soll ich ihnen glauben? Der Herr Lärpers sieht irgendwie anders aus. Der trägt nämlich so einen Vollbart.“

Ich nickte. Den Vollbart hatte ich mir vergangenes Jahr im Urlaub stehen lassen, aber schon nach kurzer Zeit wieder abrasiert. Vermutlich hatte die Frau mich noch mit Bart in Erinnerung.

„Den Bart habe ich abrasiert. Aber warten sie, Frau Weru kann das bestimmt aufklären.“ Ich klingelte bei Chrissi und lächelte der Nachbarin vielsagend zu.

Christine öffnete kurze Zeit später die Tür. „Jo...“, wollte sie sagen, doch die alte Frau kreischte dazwischen.

„Frau Weru, Frau Weru. Der Mann hier versucht in ihre Wohnung einzudringen. Er sagt, er wäre dieser Lärpers von oben, doch der hatte einen Bart, da erinnere ich mich genau dran.“

Christine lachte verschmitzt: „Gut, dass sie aufpassen. Ich kenne diesen Mann gar nicht. Und sie werden sehen, der will sich wohl nur hier einnisten, und Koffer hat der auch dabei! Das ist ja wirklich schrecklich!“

„Sag ich ja, sag ich ja“, keifte die Alte. „Zustände sind das hier, fürchterlich.“ Sie rauschte in ihre Wohnung zurück und schlug die Türe zu. Wir hörten noch, wie sie die Sicherheitskette vorlegte.

„Was war denn das?“, fragte ich meine Kollegin. „Wieso hast du ihr gesagt, dass du mich nicht kennst?“

Chrissi lachte und schloss die Tür hinter sich. „Die Alte nervt. Ständig kontrolliert sie alles und dauernd fängt sie mich im Treppenhaus ab. Dann tratscht sie stundenlang über die anderen Hausbewohner und lässt kein gutes Haar an denen. Du müsstest mal hören, was sie über dich so erzählt.“

„Was denn?“, fragte ich neugierig.

„Das erzähle ich dir später. Wir müssen los. Gib mir einen deiner Koffer, ich trag ihn mit runter. Birgit wartet bestimmt schon auf uns.“

Christine setzte uns pünktlich am Flughafen ab. „Wir können die Koffer aufgeben und zur Lounge durchgehen“, schlug Birgit vor. Jennifer hat alles per Internet erledigt, wir brauchen uns also um kaum noch etwas zu kümmern.“

„Moderne Welt“, kommentierte ich. „Dann mal auf ins Abenteuer.“

Birgit lachte: „Abenteuer. Na ja. Ich glaube nicht, dass irgendjemand unserem Tänzer etwas tun wird. Die Versicherung wird ein wenig zu voreilig gehandelt haben, als sie uns engagierten.“

„Aber es gibt ja auch noch den Aspekt mit dem Unfall“, gab ich zu bedenken. „Am besten wir packen unseren Ballett-Tänzer in Watte. Wieso hat er sich überhaupt dermaßen hoch versichert? Darüber sollten wir einmal nachdenken.“

„Ach Jonathan. Du machst dir vermutlich wieder einmal viel zu viele Gedanken. Pianisten versichern ihre Hände auch mit hohen Summen. Vielleicht hat unser Sergio einfach nur Angst, dass er seine Tournee nicht zu Ende bringen kann. Er muss ja schließlich alle Kosten selber tragen.“

„Ja“, knurrte ich, „die Sache wird aber mit Sicherheit ein Flop, wenn er nicht mehr Zuschauer als in Düsseldorf zu seiner Veranstaltung locken kann.“ Wir waren mittlerweile in dem Loungebereich angekommen und ich schaute mich suchend um. „Dieser Sergio scheint noch nicht da zu sein. Ich hoffe nur, er wird seinen Flug nicht verpassen. Hast du eine Ahnung, in welchem Hotel wir unterkommen?“

Birgit schüttelte den Kopf. „Leider nein. Die Planung hat Sergios Frau übernommen und bei unserer Abfahrt stand wohl noch nicht so recht fest, welche Unterkunft sie gewählt hat.“

„Wenn der große Künstler also nicht im Flugzeug ist, stehen wir ganz ohne Hotel da?“ Ich blickte sinnend auf die Leute, die, ebenso wie wir, auf den Abflug warteten.

„Dann suchen wir uns kurzfristig etwas. Da sehe ich keine Probleme.“

„Na klar. Und wer zahlt das? Wir?“

„Die Versicherung. Das wird Bernd dann schon mit denen klären. Jetzt sei doch kein so Miesmacher, Jonathan. Sieh die Sache als Urlaub an ...“

Ich schüttelte entschieden den Kopf: „Urlaub geht schon gar nicht, wenn ich mir jeden Abend dieses dämliche Herumgehopse ansehen muss. Und dann die schreckliche Flötenmusik. Immer die gleichen Töne! Mir schmerzen jetzt schon die Ohren, wenn ich nur daran denke!“

„Du bist ein Banause. Das ist Kunst von der du nichts verstehst. Tanzen ist wie Singen mit dem ganzen Körper.“ Birgit lächelte mich an und bewegte die Beine im Sitzen. „Das solltest du auch einmal versuchen. Es entspannt Körper und Seele.“

„Danke, da reicht mir mein Kampfsport. Das entspannt auch Körper und Seele. Es sei denn, du trainierst mit Christine ...“ Chrissi und ich waren uns darüber einig geworden, beim Training nicht zu rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Natürlich sollte niemand ernsthaft verletzt werden, doch ein paar blaue Flecken wollten wir uns schon zugestehen. Leider war immer wieder ich es, der von ihr nach Strich und Faden vermöbelt wurde. „Hast du denn eine Ahnung, wo der große Künstler auftreten wird?“ Ich überlegte kurz und nickte: „Vielleicht tritt er ja in der Nationaloper auf.“ Die Opéra National de Paris war das einzige Opernhaus, das ich vom Namen her kannte. Und das auch nur, weil ich vor kurzem darüber etwas im Fernsehen gesehen hatte.

„Es gibt zwei Opernhäuser der Opéra National de Paris“, belehrte mich die kleine Klugscheißerin. „Einmal die Opéra Garnier und dann die Opéra-Comique. Dein gesundes Halbwissen ist erschreckend, Jonathan. Sergio wird aber in keinem Opernhaus auftreten, sondern im Saal einer Tanzschule. Ich glaube, die heißt ‚Madame Routon‘.“

„Eine Tanzschule? Soll das eine Werbeveranstaltung für Tanzschulen werden? Du kannst mir sagen, was du willst: Der Knabe wird nie und nimmer auch nur einen Teil seiner Unkosten wieder hereinholen.“

In dem Moment als Birgit mit den Schultern zuckte, wurde unser Flug aufgerufen. Sergio Palyska nebst Ehefrau war immer noch nirgends zu entdecken. Ich fluchte vor mich hin, während wir zum Flugzeug gingen.

Birgit sah mich von der Seite an und bemerkte mein verkniffenes Gesicht: „Vielleicht sind sie ja schon an Bord. Oder kommen noch. Jetzt reg dich bloß nicht so auf, Jonathan. Es wird schon gutgehen!“

Im Moment dachte ich allerdings lediglich daran, den Tänzer zu erwürgen, wenn ich ihn in die Finger bekäme. Was aber der Versicherung, die uns beauftrag hatte, vermutlich auch nicht recht wäre ...

Der Flug verlief ruhig und meine Bedenken bezüglich unseres Künstlers wurden im Flughafen Charles de Gaulle am Gepäckband zerstreut. Während Sergio gelangweilt herumstand, angelte seine Frau nach ihren Koffern.

„Herr Palyska“, begrüßte ich ihn erfreut, „wir hatten schon befürchtet, dass sie sich nicht auf dem Flug befinden würden.“

„Ah, Jonathan, es ist aber auch eine Freude dich zu sehen, also euch. Waren wir denn nicht längst schon ‚per du‘? Sag doch einfach Sergio zu mir. Sergio mit scharfen ‚Ser‘ und weichem ‚gio‘.“

Ich nickte und freute mich, dass er auf dieses dämliche ‚Johni‘ verzichtete, auch wenn er Jonathan wie ‚Joenäßän‘ aussprach.

„Leider, leider“, fuhr er fort und beobachtete, wie seine Frau sich mit den Koffern abschleppte, „mussten wir in der Basisklasse fliegen. Herrgöttchen, wir haben euch in der Lounge entdeckt und uns wurde der Zugang verwehrt! Mir, dem großen Künstler. Hast du mich denn nicht winken sehen?“

„Nein, dann hätten wir euch doch zu uns eingeladen. Gut, dass wir uns wenigstens hier treffen.“ Ich dachte hauptsächlich an die Unannehmlichkeiten, die uns eine Hotelsuche eingebracht hätte. Das blieb uns ja nun zum Glück erspart.

„Zu welchem Hotel fahren wir denn?“

„Ach, was du auch wieder alles wissen willst. So etwas musst du Jeka fragen, die organisiert doch unsere Reisen. Herrjechen, da kommt sie ja. Wie lange das wieder gedauert hat!“

Jeka Krynow begrüßte uns mit einem Kopfnicken und ging direkt in Richtung Ausgang weiter. Ich hoffte nur, dass wir jetzt nicht mit der Metro zu unserem Hotel fahren mussten und der Künstler sich ein Taxi leisten konnte.

Das Taxi hielt nach fünfundvierzig Minuten vor einem Schiff auf der Seine, das sich als Hotelboot entpuppte. Ich warf Birgit einen bezeichnenden Blick zu, enthielt mich aber eines Kommentares, während sich in meinem Kopf die Frage manifestierte, wie unsere zukünftigen Unterbringungen in London, Sydney und New York wohl aussehen würden. Sergio und Jeka eilten mit ihren Koffern schon auf das Hotelboot, während der Fahrer mich auffordernd ansah. Seufzend übernahm ich die Bezahlung, ließ mir aber eine Quittung geben.

Sergio stand vor der kleinen Empfangstheke und hieb auf eine Glocke. „Hallo“, rief er lautstark, „ist denn hier niemand?“ Seine Frau hatte die Koffer abgestellt, stand an der Reling und zündete sich gerade eine Zigarette an. Sie benutzte eine lange Zigarettenspitze und blickte versonnen über den Fluss.

„Hallöchen“, krakeelte der Tänzer erneut, „der große Künstler Sergio Palyska ist angekommen!“ Als niemand antwortete, zuckte er mit den Achseln und gesellte sich zu seiner Frau.

„Guten Tag“, begrüßte uns eine junge Dame in nahezu akzentfreiem Deutsch. „Entschuldigen sie, wenn sie warten mussten. Habe ich richtig gehört? Sergio Palyska? Herzlich willkommen, wir haben eine Reservierung für sie.“

Ich nickte und wollte auf den Meister an der Reling zeigen, als die Frau mir einen Schlüssel in die Hand drückte. „Da vorne entlang. Ich wünsche ihnen einen schönen Aufenthalt.“ Ihr Handy klingelte und sie widmete sich dem Gespräch, das sie in hastigem Französisch führte.

„Nur ein Zimmer?“, fragte ich Birgit. „Ob die Krynow sich vertan hat?“

„Egal. Hauptsache es gibt ein Bad mit Dusche. Welche Nummer haben wir denn?“

Wir betraten einen großzügigen Raum, in dem sich ein großes Doppelbett, ein Tischchen mit mehreren Sesseln und eine riesige Badewanne befanden. An der Seite gab es unter zwei überdimensionierten Wandspiegeln Waschgelegenheiten. Ich blickte Birgit entgeistert an. „Keine Dusche?“, krächzte ich. Ich würde doch wohl kaum meine Abend- oder Morgentoilette verrichten, während mir Birgit vom Bett aus dabei zuschaute.

Die Kleine mit den bunten Haaren lachte. „Bei Künstlern herrschen wohl andere Maßstäbe, was die Intimsphäre betrifft. Ja, lieber Jonathan, da wirst du wohl vor der Tür warten müssen, wenn ich mich wasche ...“

Ich verfluchte den Tänzer, die Versicherung, dieses merkwürdige Hotel und den Rest der Welt, während ich auf dem Gang stand und darauf wartete, dass Birgit sich frischmachte.

„Alles in Ordnung, Herr Palyska?“, Die Frau vom Empfang stand plötzlich neben mir und sah mich fragend an. Ist das Zimmer zu ihrer Zufriedenheit?“

„Ich bin nicht Palyska“, gab ich murrend zurück. Mein Name ist Jonathan Lärpers.“

„Und die Frau?“, die junge Dame schien verwirrt zu sein. „Ist das nicht ihre Frau, Jekaterina Krynow?“

„Nein, ist sie nicht. Das ist Birgit Zickler, meine Kollegin. Sind sie sicher, dass für uns das Zimmer hier gebucht wurde?“

„Sie sind wirklich nicht Sergio Palyska, der Balletttänzer?“

Ich stöhnte und zog meinen Personalausweis hervor. Glauben sie mir jetzt? Ich heiße Jonathan Lärpers. Das steht dort schwarz auf weiß.“

„Dann ist uns ein Irrtum unterlaufen. Würden sie mir bitte an die Rezeption folgen? Wir werden das sofort klären.“

Wir standen an der Rezeption und die Frau tippte auf einer Tastatur herum. „Wie war ihr Name noch gleich?“

„Jonathan Lärpers. Und die Kollegin heißt Birgit Zickler.“

„Ach herrje. Für sie wurden zwei einfache Zimmer bestellt. In denen habe ich aber jetzt schon den Herrn Lärpers und die Frau Zickler untergebracht.“

„Herr Lärpers bin ich“, stellte ich klar. „Sie haben vermutlich unsere Zimmer an Herrn Palyska und Frau Krynow vergeben. Können wir die Räume nicht einfach tauschen?“

„Natürlich, natürlich. Ich kümmere mich sofort darum.“ Die junge Frau kam aufgeregt hinter der Theke hervor und stob rasch davon.

Fünf Minuten später kehrte sie mit Sergio und Jeka im Gefolge zurück. Beide trugen ihre Koffer in den Händen. „Herrjechen, Herrjechen“, zeterte der Tänzer. „Welch ein Durcheinander. Achjee, Johni, du siehst mich völlig aufgelöst. Jeka und ich in zwei verschiedenen Zimmern. Ach nein, ach je.“ Dann waren sie schon wieder vorüber und stoben in Richtung Birgits und meinem ehemaligen Zimmer davon.

Zwei Minuten später kam Birgit in den kleinen Raum mit der Empfangstheke. Sie war vollkommen nass und von Seifenschaum bedeckt. Um den Körper trug sie ein großes Handtuch und ihre zwei Koffer zog sie hinter sich her. Ich musste bei ihrem Anblick lächeln und dachte daran, was in dem Zimmer los gewesen sein musste, als die Empfangsdame mit den beiden Künstlern hineinkam.

„Grins nicht so dämlich, Jonathan“, grollte sie mich an. „Das ist doch alles deine schuld! Gib mir wenigstens den Schlüssel für mein Zimmer.“

Ich schüttelte den Kopf: „Den habe ich nicht. Vielleicht sind die Zimmer ja offen, aber ich habe keine Ahnung, welche wir jetzt bekommen. Wo sind eigentlich meine Koffer?“

„Im Gang vor dem Zimmer. Die konnte ich ja unmöglich auch noch mitschleppen.“ Birgit setzte sich in einen Sessel und hinterließ einen großen, nassen Fleck. Doch das kümmerte sie herzlich wenig.

Zwanzig Minuten später konnten wir endlich die richtigen Zimmer beziehen und ich freute mich, eine Dusche vorzufinden. Der Raum war zwar recht klein und wurde von dem Doppelbett dominiert, doch es gefiel mir wesentlich besser, als das Zimmer mit der Badewanne. Nebenan hörte ich die Dusche rauschen und ich vernahm, wie Birgit irgendeinen aktuellen Schlager sang.

Ich nutzte die Gelegenheit, ebenfalls zu duschen und trat danach erfrischt auf die kleine Terrasse des Hotels. Mehrere Tische und Stühle luden zum Verweilen ein. Meine Kollegin schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben, wie ich, denn kurze Zeit später setzte sie sich zu mir. „Das Zimmer gefällt mir besser, auch wenn die Badewanne schön gemütlich war“, erklärte sie. Ein Ober fragte nach unseren Wünschen und wir bestellten Kaffee.

„Ja, aber mir ist die Dusche lieber. Außerdem hat jetzt jeder von uns ein Zimmer und ich muss nicht auf dem Gang warten. Hast du eine Ahnung, wie es jetzt weitergeht?“, fragte ich unvermittelt.

„Nein. Über die Auftritte und Zeiten stand nichts in dem Bericht. Hast du denn gar nichts gelesen?“

Ich lächelte: „Überflogen. Die Details haben mich sowieso nicht interessiert. Das erfahren wir ja alles jetzt vor Ort. Ich hätte nur gerne gewusst, wann und wo unser großer Meister auftritt.“

Birgit überlegte. „Nun, logischerweise sollte er so oft wie möglich auftreten, um so viel Publikum wie möglich zu erreichen. Was ja auch seiner Kasse gut täte. Aber da kommt Jeka, vielleicht erfahren wir jetzt ein wenig mehr.“

Palyskas Frau machte aber zunächst einen Schlenker zum Ober, um etwas zu bestellen, dann setzte sie sich zu uns. „Sergio schläft“, erklärte sie und steckte sich eine Zigarette an. „Die strapaziöse Reise hat ihn doch arg mitgenommen. Gott sei Dank hat man uns ja doch noch das richtige Zimmer zugewiesen! Wir planten schon, zusammen in den kleinen, engen Raum zu ziehen.“ Der Ober stellte ein Glas Sekt vor sie hin und verbeugte sich tief.

Ich bekundete meine Zustimmung zu ihren Worten: „Ja, eine dumme Verwechslung. Können sie uns denn etwas zum Ablauf der Auftritte sagen? Meine Kollegin teilte mir mit, dass sie in einem Tanzstudio stattfinden werden?“

Jeka Krynow nickte: „Madame Routons Tanzstudio. Die erste Wahl in Paris. Der Kartenverkauf, den die Madame selbst übernommen hat, läuft nun schon seit vier Wochen. Allerdings gibt es keine ‚Auftritte‘, sondern lediglich einen einzigen. Der findet morgen Abend um zwanzig Uhr statt. Heute will der Meister das Wochenende noch einmal so richtig genießen. Hier auf dem Boot findet eine Veranstaltung mit Live Musik statt, so etwas will er sich nicht entgehen lassen.“

„Nur eine Vorstellung?“, fragte ich verdutzt. Wie viele Zuschauer müssten in diese Tanzschule kommen, um die Kosten für Flug, Übernachtungen und Mahlzeiten zu decken? „Und am Sonntag? Gibt es da keinen Auftritt?“

Jekaterina schüttelte den Kopf. „Da bereitet Sergio sich schon auf seine Darbietung am Mittwoch in London vor. Wir fliegen Montagnachmittag. Sergio war noch nie in London und will die Stadt am Dienstag besichtigen.“

„Und in London gibt es dann auch wieder nur einen Auftritt?“ So richtig glauben konnte ich das nicht. Egal, wie er es anstellen wollte, kein Saal wäre groß genug, um eine ausreichend hohe Zahl an zahlenden Gästen bei nur einem Auftritt unterzubringen. „Wird das nicht ein Minusgeschäft?“, fragte ich vorsichtig. „Nur ein Auftritt in Paris und nur einer in London? Die Kosten für Übernachtung und Flug werden höher sein, als die Einnahmen.“ Oder wollte der Meister die Eintrittspreise so hoch ansetzen, dass er auf jeden Fall Gewinn machte? Doch das war wohl kaum möglich, denn niemand würde freiwillig mehr bezahlen, als bei einer seriösen Opernveranstaltung zum Beispiel.

Jeka sah mich pikiert an: „Sind sie jetzt auch noch Wirtschaftsökonom oder Manager? Machen sie sich lieber Gedanken darüber, wie sie meinen Mann schützen können. Das ist doch ihr Auftrag, oder? Und nicht darüber nachzudenken, ob er genug Geld verdient.“ Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und erhob sich. „Überlassen sie das Denken ruhig mir“, giftete sie, trank ihr Glas in einem Zug leer und rauschte davon. Als der Ober für die Getränke das Geld kassierte, musste ich ihren Sekt auch noch bezahlen.

Birgit und ich schlenderten ein wenig über das Boot. Aus reiner Routine heraus prägten wir uns Gefahrenstellen ein und spielten mögliche Szenarien durch. Nicht, dass mit irgendwelchen Problemen zu rechnen gewesen wäre, doch wenn Sergio heute Abend an dieser Veranstaltung teilnehmen wollte, dann war es gut, einen Überblick zu bekommen.

„Hier sind sie, ich habe sie schon überall gesucht.“ Jeka Krynow klang ärgerlich. „Sergio möchte einen Spaziergang machen und später zu Abend essen. Da wir ja leider gezwungen sind, sie über alle unsere Aktivitäten zu unterrichten, komme ich hiermit meiner Verpflichtung nach. Sergio und ich verlassen das Schiff in fünf Minuten. Ob sie nun mitkommen oder nicht. Und bitte - ich weiß, dass Sergio das anders sieht, aber ich wünsche es so - wir wollen den Spaziergang und das Essen alleine genießen. Halten sie sich also im Hintergrund! Das Beste wäre, wir würden sie gar nicht bemerken.“ Die Frau drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten und verschwand in Richtung ihres Zimmers.

„Was ist denn mit der plötzlich los?“, fragte ich und schaute ihr verwundert hinterher. Jeka war ja nie wirklich freundlich zu uns gewesen, aber ihr Ton jetzt klang noch eine Nuance kühler.

„Vielleicht hast du sie mit deinen Bemerkungen verärgert“, mutmaßte Birgit. „Künstler sind, was das Finanzielle betrifft, offensichtlich sehr empfindlich.“

„Ich will nur hoffen, dass die Dame nicht während der gesamten Reise so zickig ist. Hätte ich mal bloß meinen Mund gehalten.“

Während wir an Land gingen, suchte ich nach einem geeigneten Platz, um auf die beiden Künstler zu warten. Birgit nickte: „Vielleicht kannst du dich ja später bei ihr entschuldigen.“

Sergio Palyska tänzelte schon fast über die Gangway. Es gab zwei davon, die auf das Hotelschiff führten. Wir standen so, dass wir beide überblicken konnten und als der Tänzer jetzt mit seiner Frau im Arm an Land ging, stieß ich Birgit kurz an. „Da sind sie. Mein Gott, der trägt ja wieder dieses merkwürdige Rüschenhemd und die Dreiviertelhose. Sergio muss aber auch um jeden Preis auffallen!“

Birgit zuckte mit den Schultern: „Lass ihn doch. Er ist halt ein Künstler.“

Sergio entdeckte uns und wollte zu uns kommen, doch Jeka hielt ihn am Ärmel fest. Dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr und der Mann nickte. Er winkte uns kurz zu und die beiden gingen am Ufer entlang. Birgit und ich folgten ihnen in einigem Abstand. „Ich fühle mich unwohl, so ganz ohne Waffe“, meinte ich und beobachtete die Menschen, die dem Ballett-Tänzer begegneten. „Wenn er angegriffen wird, können wir ihn nie und nimmer schützen. Wir sollten dichter an die beiden herangehen.“

Birgit schüttelte den Kopf: „Wer soll ihn hier schon angreifen? Warum überhaupt? Sergio kennt hier kein Mensch. Und wenn wir den beiden näher auf den Pelz rücken, bekommst du es wieder mit Jekaterina zu tun.“

Wir überquerten die Seine auf einer Brücke und folgten den beiden, die zielstrebig auf ein Restaurant zu gingen, das die Tische und Bänke im Außenbereich mit riesigen Sonnensegeln vor den heißen Strahlen schützte. Zwar stand die Sonne jetzt nicht mehr hoch am Himmel, doch in dem Schatten konnte man sich angenehm aufhalten. Sergio und seine Frau suchten sich einen freien Platz und ließen sich dort nieder. Birgit und ich setzten uns an einen Tisch unter Bäumen, von wo aus wir das Ehepaar gut im Blick hatten.

„Ob Bernd oder die Versicherung unsere Kosten übernehmen wird?“, fragte ich und sah meine Kollegin an. Dummerweise hatte ich vergessen, meinen Chef auf das Thema ‚Spesen‘ anzusprechen. Da es sich aber um eine Dienstreise handelte, durfte er uns die Übernahme der Kosten kaum verwehren.

Birgit lachte: „Mach dir keine Sorgen, Jonathan. Das übernimmt alles die Versicherung, solange es sich in Grenzen hält. Du solltest allerdings die Quittungen und Rechnungen aufbewahren.“

„Das beruhigt mich. Darf ich dich dann zum Essen einladen?“ Wir bestellten beide Fisch und dazu Mineralwasser. Ich beobachtete, wie Sergio sich mit seinen Tischnachbarn angeregt unterhielt und schließlich großzügig Freikarten für seinen kommenden Auftritt verteilte. „Jetzt verschenkt er auch noch Eintrittskarten“, wies ich Birgit auf die Freigiebigkeit des Tänzers hin. „Wie will der jemals seine Unkosten wieder hereinbekommen?“

Schließlich machte Birgit mich darauf aufmerksam, dass unser Pärchen ihre Rechnung bezahlte und kurze Zeit darauf wanderten wir wieder zurück zum Hotelschiff. Ich hatte unsere Kosten direkt beglichen, als das Essen gebracht wurde und so kam es zu keiner Verzögerung. Als wir uns dem Schiff näherten, konnten wir schon von weitem die Musik hören. Offensichtlich befand sich die Party schon in vollem Gange. „Na dann viel Spaß“, bemerkte ich. „Einer von uns sollte den Künstler immer im Blick haben.“

„Entspann dich, Jonathan. Ich versuche, in seiner Nähe zu bleiben. Du kannst ja alles aus einigem Abstand beobachten.“ Birgit folgte dem Mann zwischen den tanzenden Menschen hindurch, während sie mich leise nickend zurückließ. „Das habe ich mir alles etwas einfacher vorgestellt“, murmelte ich und versuchte Sergio nicht aus den Augen zu verlieren. Birgit schien die Musik und die Atmosphäre zu genießen, denn sie tanzte geschickt an den Leuten vorbei und hielt sich immer in der Nähe des Künstlers auf. Wenn das Mädchen ihre Aufgabe mal nicht zu sehr auf die leichte Schulter nahm! Meine Gedanken kreisten um das Verhalten des Tänzers und schließlich sagte ich mir, dass die ganze Sache hier vielleicht ja eine als Tournee getarnte Urlaubsreise war. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass der Meister jetzt schon wieder mit vollen Händen Eintrittskarten verschenkte.

Einmal kam Sergio zu mir und sah sich ständig um. Seine Frau war wohl zur Toilette gegangen, um sich frischzumachen und er sah mich bittend an: „Oh Herrjechen, Johni. Du hast meine Jeka aber ziemlich verärgert. Du Dummerchen, du. Jeka sagt, du wolltest dich in ihre Planung einmischen. Das mag sie überhaupt nicht und jetzt ist sie sauer auf dich. Sie hat doch alles nur für mich geplant, eine große Tournee! Und dann kam da die blöde Versicherung und hat darauf bestanden, dass ihr uns begleitet. Ach, Johni, Johni. Mich stört es nicht, aber Jeka ... Sie ist doch Russin, musst du wissen. Oh, da kommt sie ja schon.“ Sergio entfernte sich unauffällig.

Als seine Frau an mir vorbeigehen wollte, sprach ich sie an: „Auf ein Wort, Frau Krynow.“ Sie sah mich unwillig an, nickte dann aber und trat an die Reling. Als sie eine Zigarette hervorkramte, zückte ich mein Feuerzeug und hielt ihr die Flamme hin.

„Was gibt es?“, fragte sie und es klang ein wenig milder gestimmt.

„Ich möchte mich bei ihnen entschuldigen“, begann ich zerknirscht und ich fand, dass mir das ganz gut gelang. „Ich wollte sie nicht beleidigen. Sergio ist so ein großer Künstler und ich finde, sein Tanz ist etwas Besonderes. Sie haben die Tournee großartig geplant und es liegt mir fern, irgendwelche Kritik üben zu wollen. Ich war vorlaut und habe über meine Worte nicht richtig nachgedacht. Bitte nehmen sie meine Entschuldigung an!“

Sie zog eine weitere Zigarette hervor und ich gab ihr wieder Feuer. Jeka nickte langsam, dann wandte sie sich ohne ein Wort zu verlieren um und verschwand zwischen den Tanzenden.

Am nächsten Morgen kamen Sergio und Jeka auf den Tisch zu, an dem Birgit und ich schon saßen und frühstückten. Sergio grinste und die beiden setzten sich zu uns. Ich atmete erleichtert auf.

Die Frau verhielt sich jetzt etwas zugänglicher und zeigte sogar ein wenig Interesse an unserem Beruf. „Und sie sind richtige Bodyguards?“, fragte sie und verteilte großzügig Marmelade auf einer Brötchenhälfte.

Ich nickte: „Ausgebildet und zertifiziert. Wir haben schon zahlreiche Stars und Sternchen beschützt.“

„Tragen sie auch Waffen? Als Bodyguards ist doch so etwas Pflicht, oder?“

„Pflicht nicht gerade“, freute ich mich über meinen Beruf Auskunft geben zu können. „Aber meistens tragen wir natürlich Waffen. Außerdem sind wir bestens im Kampfsport ausgebildet.“

Jeka sah mich fragend an: „Dann sind sie momentan auch bewaffnet? Würden sie mir ihre Pistole einmal zeigen?“

Jetzt übernahm meine Kollegin das Erklären und sie schüttelte den Kopf: „Nein, im Augenblick sind wir unbewaffnet. Wegen der Flugreisen. Wir müssen uns also auf unsere Kenntnisse in Selbstverteidigung verlassen.“

„Das ist aber schade. Ich hätte so gerne einmal ihre Pistolen gesehen.“ Jekaterina Krynow wirkte enttäuscht.

Sergio, den dieses Thema zu langweilen schien, blickte seine Frau an: „Du weißt doch, wie diese abscheulichen Waffen aussehen. Ich für meinen Teil bin froh, dass unsere Bodyguards nicht so - hach - bewaffnet sind. Ich bringe den Menschen Glück und Freude, da wird es doch wohl kaum jemand auf mein Leben abgesehen haben. Lass uns lieber über unseren Termin bei Madame Routon sprechen.“

„Wie du willst, lieber Sergio“, säuselte seine Frau und sah Birgit und mich an: „Wir werden um siebzehn Uhr in der Tanzschule sein, so dass Sergio sich noch ein wenig auf seinen Auftritt vorbereiten kann. Die Aufführung beginnt um zwanzig Uhr und Einlass ist ab neunzehn Uhr. So haben die Zuschauer noch etwas Zeit, sich an einem Gläschen Sekt zu erfreuen. Nach dem Auftritt erhalten sie dann die Möglichkeit, von dem Meister Autogramme zu bekommen. Bis zu unserer Abfahrt hier, wird sich Sergio in unserem Zimmer ausruhen.“

„Hach Göttchen, ich bin ja schon ganz aufgeregt“, zwitscherte der Tänzer. „Vor einem Auftritt bin ich immer sooo aufgeregt, das könnt ihr gar nicht glauben. Es wird ein hinreißender Abend werden!“

Ich nickte und dachte an die eintönige Flötenmusik und an das nervige Herumgehopse auf der Bühne. Es würde bestimmt ein ‚hinreißender‘ Abend werden.

Die Fahrt zu der Tanzschule im Norden von Paris dauerte etwas über eine halbe Stunde und führte uns in die Nähe von Sacré-Coeur. Eine weißhaarige, alte Dame öffnete die Tür und lächelte uns an: „Herr Sergio, da sind sie ja schon, wie schön.“ Sie sprach ein akzentfreies Deutsch und mochte meiner Meinung nach an die achtzig Jahre alt sein. Die Frau machte einen recht rüstigen Eindruck, was vermutlich an der sportlichen Betätigung beim Tanzen lag. Ich nahm mir vor, sie zu fragen, ob sie immer noch unterrichtete.

„Madame Routon. Herrjechen, wie sehen sie gut aus.“ Sergio deutete einen vollendeten Handkuss an und machte dabei einen Knicks, wie ein Prinz im Märchen. „Es ist so eine Freude, Herrjechen, so eine Freude ... Und jetzt darf ich in ihren geheiligten Hallen auftreten. Sie sehen mich über alle Maßen erfreut und voller übermäßiger Dankbarkeit. Herrjechen!“

„Jonathan, Herrjemine, Lärpers“, stellte ich mich vor und grinste Birgit an. Die schüttelte aber vorsichtig den Kopf.

„Benimm dich, Jonathan“, flüsterte sie mir ernst zu.

Die alte Dame sah Sergio fragend an: „Wer sind die Herrschaften, Herr Sergio? Schon die ersten Zuschauer? Es ist doch noch gar nichts vorbereitet.“

Sergio schüttelte den Kopf: „Das sind meine Bodyguards. Das ist Johni und das ist Birgit. Sie sind für meine Sicherheit zuständig, eine Auflage der Versicherung.“

„Dann kommen sie doch herein, wir müssen ja nicht in der Kälte hier draußen stehen.“

Es war mindestens sechsundzwanzig Grad draußen, immerhin war es ja Anfang Juni. Von ‚Kälte‘ konnte also keine Rede sein.

Madame Routon führte uns durch eine Diele, an dessen Wänden zahlreiche Haken für Jacken und Mäntel hingen, in einen Saal, dessen eine Wand komplett verspiegelt war. Die gesamte Einrichtung erinnerte an die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts und war alt und abgenutzt. In einem Drittel des Raumes standen Reihen von Campingklappstühlen, die ganz offensichtlich für die Zuschauer gedacht waren. Auf einem kleinen Schränkchen stand ein Plattenspieler, neben dem einige Schallplatten in einem Ständer lagerten. Hier war die Zeit wirklich stehengeblieben. Wohl extra für diesen Abend befand sich an einer Seite des Raumes ein Tapeziertisch mit einer weißen Decke darauf, der als provisorische Bar diente. Wenn es mit dem Abstieg der Auftrittsräumlichkeiten so weiterging, würde uns in London vermutlich der gekachelte Waschraum einer Damentoilette erwarten. Aber was kam danach?

„Willkommen in der Tanzschule von Madame Routon“, zwitscherte die Alte, breitete die Arme aus und vollführte einige Bewegungen über die freie Fläche, die an Tanz erinnern sollten. Fast wäre sie gestolpert, konnte sich aber im letzten Moment noch fangen.

„Bravöchen, Bravöchen, gnädige Frau. Besser hätte ich es selbst kaum vermocht. Ich wünschte, sie könnten zusammen mit mir auftreten.“ Sergio klatschte begeistert in die Hände. „Wo kann ich mich umkleiden, Gnädigste?“

„Danke, multo Dank Maestro. Kommen sie, ich zeige ihnen, wo sie ihr Beintrikot und ihr Suspensorium anlegen können. Ach ist das nicht herrlich? Sie hier in meinen Räumen, lieber Herr Sergio!“ Sie nahm einen Arm des Tänzers, dann fiel ihr noch etwas ein und sie wandte sich zu Birgit und mir um: „Sie, meine Herrschaften können sich ja um die Bar kümmern. Wenn die Zuschauer etwas zu trinken wollen, dann schenken sie es ihnen aus. Wir haben Sekt, das Glas zu fünf Euro. Und vergessen sie nicht zu kassieren!“ Sie rauschte mit Sergio davon, wobei sie den ein- oder anderen Tanzschritt von sich gab. Sergio passte sich ihr an und es sah so aus, als würden zwei hüpfende Kinder den Raum verlassen.

Ich grinste und stieß Birgit an: „Gute Idee, kümmern wir uns um die ‚Bar‘. Da fallen wir am wenigsten auf und haben alles im Blick. Das Angebot erscheint mir zwar ein wenig einseitig, aber diese gesamte Veranstaltung ist ja auch ... merkwürdig. Ich wette, es kommt höchstens eine handvoll Zuschauer.“

„Die Wette halte ich“, entgegnete meine Kollegin. „Ich sage, es kommen mehr als zehn Leute.“

„Gut, dann sage ich weniger als zehn. Bei genau zehn ist Gleichstand und keiner hat gewonnen.“

Birgit nickte und lächelte: „Und worum wetten wir? Wie wäre es mit fünfzig Euro? Das ist mir die Sache wert.“ Sie hielt mir die Hand hin und ich schlug ein.

Sergio ließ sich mit dem Umkleiden Zeit. Als sich seine Frau die dritte Zigarette ansteckte, kehrte er, gefolgt von Madame Routon, zurück. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn die alte Frau hatte die Gelegenheit genutzt und sich ebenfalls umgezogen. Sie trug jetzt einen schwarzen Body und um die Hüfte ein rosa Tutu. Die goldenen Ballettschuhe rundeten das Bild ab und mit ausgebreiteten Armen schwebte sie förmlich in den Raum. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Birgit ebenfalls ein Grinsen kaum unterdrücken konnte. Anders Jeka Krynow: Sie betrachtete die alte Frau mit einem abfälligen Gesichtsausdruck.

Madame Routon bekam von all dem nichts mit. Sie ging zu dem Plattenspieler, suchte eine Schallplatte heraus und nickte zufrieden. Sekunden später erklang Tschaikowskis Schwanensee. Madame Routon schien die Welt um sich herum zu vergessen und mit Trippelschritten bewegte sie sich vor dem Spiegel von links nach rechts, drehte sich einmal um sich selbst und wäre dabei fast umgefallen. Sergio fing sie rechtzeitig auf und als sie weitertrippeln wollte, hielt er sie am Arm fest. „Herrlich, Madame, das ist so herrlich. Doch jetzt muss ich mich warmtanzen. Meine Vorstellung beginnt doch gleich!“

Madame Routon sah den Tänzer irritiert an, fand dann in die Wirklichkeit zurück und nickte ergeben. „Natürlich, Maestro, wie konnte ich mich so vergessen. Der Saal gehört ihnen. Üben sie, auf dass ihr Auftritt zu einem Fest für die Zuschauer werde.“

Ich grinste und stieß Birgit an: „Heute Abend bleiben wir von dem Flötengedudel verschont. Die Alte wird wohl kaum eine Schallplatte mit solcher Musik dabeihaben.“ Aber schon Minuten später zeigte sich, dass ich mich geirrt hatte. Jekaterina Krynow zog aus ihrer Handtasche einen kleinen MP3 Spieler und ein Anschlusskabel. Fachkundig schloss sie das Gerät an dem Plattenspieler an, schaltete einen Knopf am integrierten Verstärker um und schon erklang das endlose Gedudel. Birgit grinste mich an.

„Sag jetzt nichts“, warnte ich sie. „Und erinnere mich später daran, dass ich mir in irgendeiner Apotheke Ohrenstöpsel besorge.“

Sergio absolvierte jetzt Aufwärm- und Dehnübungen, dann tänzelte er hin und her. Durch den Spiegel erschien er doppelt und das Ganze sah auch dementsprechend lächerlich aus. Ich freute mich, dass die Anzahl der Auftritte so begrenzt war, denn lange könnte ich das alles nicht ertragen.

„Junger Mann, träumen sie?“ Madame Routon stand vor der improvisierten Bar und sah mich scharf an. „Einen Sekt bitte.“

„Sofort gnädige Frau. Darf ich sie etwas fragen?“

„Das haben sie doch gerade schon. Aber fragen sie, fragen sie.“

Ich reichte ihr das Glas, das sie in einem Zug leerte. „Unterrichten sie noch? Hier in der Tanzschule?“

Sie hielt mir das Glas hin. „Bitte füllen sie noch einmal nach, junger Mann. Was sie für merkwürdige Fragen stellen ... Natürlich unterrichte ich noch. Warum denn nicht? Haben sie eigentlich jemals tanzen gelernt, die Leidenschaft empfunden, die ein Tango in ihnen entfachen kann? Oder ihre Partnerin liebevoll beim Rumba im Rhythmus geführt? Leider hat die Jugend ja heute ganz andere Dinge im Kopf, aber es gibt sie noch: die Tänzer mit Herzblut. Schauen sie.“ Madame Routon machte einige Tanzschritte rückwärts, drehte sich und stieß mit Sergio zusammen, der gerade in großen Sprüngen vor dem Spiegel hin und her hetzte. Klirrend fiel das Glas zu Boden und Sergio quiekte entsetzt auf.

„Herrgöttchen, Madame! Sie bringen uns ja beide um. Sie müssen sich aber von der Bühne fernhalten, sonst breche ich die Veranstaltung ab.“

Etwas Besseres hätte mir kaum passieren können.

Birgit, hilfsbereit wie immer, sammelte die großen Scherben ein und fragte dann Madame Routon etwas, das ich aber nicht verstehen konnte. Die Madame verließ den Raum und kam kurze Zeit später mit einem Eimer, Lappen und Handfeger samt Kehrblech wieder zurück.

„Geben sie mir ein neues Glas“, forderte sie mich auf, dann wandte Madame sich an Birgit: „Danke Kind. Sie können gleich die Zuschauer einlassen, aber überprüfen sie die Eintrittskarten. Wer keine vorweisen kann, muss mit Bargeld bezahlen. Hundertzwanzig Euro, merken sie sich das!“

Sergio überprüfte derweil die Unglücksstelle auf Glassplitter, schien aber mit Birgits Reinigungsarbeiten zufrieden zu sein. Schließlich trippelte er vor dem Spiegel wieder auf und ab.

Als die ersten Zuschauer in den Raum strömten, regelte Madame Routon die Lautstärke der Musikanlage herunter und ließ sich von mir ein Glas Sekt einschenken. Sergio zog sich derweil diskret in den Nebenraum zurück, bis zu seinem großen Auftritt dauerte es nicht mehr allzu lange.

Nach und nach nahmen exakt neun Personen auf den Klappstühlen Platz. Ich hoffte, dass Sergio bald mit seinem Tanz beginnen würde und nicht doch noch jemand verspätet eintrudelte. Bis jetzt wäre ich der Sieger unserer kleinen Wette.

Jekaterina Krynow blickte auf ihre Armbanduhr und trat die Zigarette mit einem Fuß aus. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und klatschte in die Hände. Als Ruhe eintrat, begrüßte sie die Zuschauer: „Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren. Ich freue mich, sie zu unserer Veranstaltung ‚Tanz des Flamingos‘ so zahlreich begrüßen zu dürfen. Ich kann ihnen versprechen, dass sie einer außergewöhnlichen Darbietung beiwohnen werden. Der große Künstler Sergio Palyska hat für dieses besondere Ereignis auf die Verlängerung seines Vertrages an der Deutschen Oper am Rhein verzichtet, um sich einen Jugendtraum erfüllen zu können. Sergio Palyska wurde als Sohn georgischer Auswanderer am zweiundzwanzigsten Februar Neunzehnhundertvierundachtzig in Münster geboren. Schon als Kind begeisterte er sich für den Tanz und damit verbundene Ausdrucksformen. Dank einem Freund der Familie, der sein Talent erkannte und ihn förderte, erhielt Sergio schon mit drei Jahren Tanzunterricht und wechselte mit sechs Jahren an die Ballettschule der Deutschen Oper am Rhein. Sergio erlernte den Tanz unter dem berühmten Ballettdirektor Neyusa Restabrunya.“

Irgendwie kam mir der Text bekannt vor. Da sie deutsch sprach, fragte ich mich, ob die Zuschauer sie überhaupt verstehen konnten. Ich betrachtete die Leute und versuchte aus ihrer Mimik etwas zu erkennen. Es handelte sich um durchweg ältere Menschen, wobei die Frauen eindeutig in der Mehrzahl waren. Ein ziemlich korpulenter Mann mit Glatze popelte ungeniert in der Nase und betrachtete dann seinen Fund ausgiebig.

Jeka fuhr fort und kam zum Ende ihrer Rede: „Und jetzt ist er hier bei ihnen: Sergio Palyska. Der König der Körperbeherrschung, der Meister des Tanzes, der Star der Deutschen Oper am Rhein. Sergio Palyska.“

Sie eilte zu dem Plattenspieler und drehte die Lautstärke des Gerätes wieder hoch. Das nervtötende Flötengedudel erklang und Sergio sprang vor den Spiegel. Er verbeugte sich kurz, dann begann er mit seinem ‚Tanz des Flamingos‘.

Birgit gesellte sich wieder zu mir und ich zeigte lächelnd auf die Zuschauer. „Die Wette habe dann wohl ich gewonnen.“

„Warten wir ab“, entgegnete sie. „Vielleicht verirrt sich ja noch jemand hierhin. Oder ein Pärchen, dann sieht es schon ganz anders aus. Traurig ist nur, dass nicht einer der Leute dort seine Karte gekauft hatte. Ich habe nur Freikarten zu sehen bekommen.“

„Dann bin ich ja mal gespannt, wie es in London sein wird. Ich glaube, was Sergio hier macht ist eigentlich mehr eine Urlaubsreise mit Alibifunktion.“

Birgit überlegte. „Tja, vielleicht hast du ja Recht. Es sieht nicht so aus, als hätte seine Frau das Ganze ernsthaft geplant. Ich bin gespannt, welche Überraschungen diese ‚Tournee‘ noch für uns bereithält.“

Ich wollte meiner Kollegin gerade zustimmen, als vier maskierte Männer in den Saal stürmten. Sie hielten Pistolen in den Händen, die ich unschwer als russische Makarow IZ-70 identifizierte. Die Zuschauer kreischten laut auf und Sergio, der sich mitten im Sprung verwirrt umsah, prallte gegen den Spiegel und fiel zu Boden.

Die Männer handelten blitzschnell und es war zu erkennen, dass sie sich genauestens abgesprochen hatten. Meine Hand zuckte zum Schulterhalfter, dann erinnerte ich mich daran, dass wir ja unbewaffnet waren. Ein Mann zielte mit seiner Pistole auf die Zuschauer, der andere wandte sich Sergio zu. Zwei Männer kamen auf Birgit und mich zu und zielten dabei mit den Pistolen direkt auf unsere Köpfe. „Auf Boden, sofort“, befahl einer in schlechtem Deutsch. Dem Akzent nach musste es sich um russische Männer handeln, oder zumindest kamen sie aus Osteuropa. Rumänen, Bulgaren oder Polen. Mein Gefühl sagte mir aber, dass es sich hier um Russen handelte. „Los, dawai, dawai!“ Ich blickte in die Mündung der Waffe. Die Männer blieben in einem Abstand stehen, der es uns unmöglich machte, sie anzugreifen, bevor sie schießen konnten. Birgit und ich legten uns nebeneinander auf den Boden.

„Verdammte Scheiße“, zischte sie. „Das ist jetzt gar nicht lustig.“

„Sprechen nicht!“, herrschte uns einer der Männer an.

Der ganze Spuk dauerte nicht länger als zwei Minuten, dann waren die Gangster wieder verschwunden. Und mit ihnen Sergio.

Im Tanzsaal herrschte ein heilloses Chaos, Madame Routon war auf einem der Klappsessel zitternd zusammengesunken und weinte haltlos. Die neun Zuschauer drängten zum Ausgang, rempelten einander an und jeder wollte der erste sein, der das Haus verließ. Obwohl jetzt ja keine Gefahr mehr bestand. Jeka Krynow stand kreidebleich neben dem Schallplattenspieler und blickte auf einen Zettel in ihrer Hand.

Ich trat zu ihr. „Was haben sie da?“, fragte ich und sie reichte mir den Zettel. Ich überflog die Sätze, die in krakeliger Handschrift darauf standen. In schlechtem Deutsch forderten die Entführer ein Lösegeld von zwei Millionen Dollar. Und keine Polizei, sonst wäre Sergio tot.

Das Geld sollte bis zwölf Uhr am folgenden Tag zur Verfügung stehen. Man würde Jeka bei Zeiten auf ihrem Handy anrufen.

„Verdammt, es war ihre Aufgabe Sergio zu beschützen“, schrie sie mich hysterisch an. „Das alles ist nur ihre Schuld! Dafür mache ich sie verantwortlich, ich werde sie verklagen!“

Ich ließ die Frau schreien und wandte mich Birgit zu, die sich um Madame Routon kümmerte.

„Wir müssen die Polizei verständigen“, meinte sie und ich merkte, dass ihr der Schock auch noch in den Knochen saß.

„Nein, noch nicht. Ich will erst mit Bernd sprechen. Außerdem liegt die Entscheidung bei Frau Krynow, sie ist die Ehefrau.“ Ich zog Birgit ein wenig zur Seite. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, flüsterte ich ihr zu. „Aber darüber reden wir später. Ich frage mich nur, wo wir bis morgen Mittag zwei Millionen Dollar herbekommen sollen. Kommst du mit den beiden Frauen alleine klar?“

Inzwischen waren die Zuschauer alle verschwunden, lediglich Jeka, Madame Routon, Birgit und ich befanden sich noch in dem Tanzsaal. Als Birgit nickte, verließ ich das Haus.

Final - Tanz

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