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Charlie

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Charlie erhob den Kopf und blinzelte in den dunklen Himmel.

Dicke Schneeflocken fielen in jener Nacht.

Die weißen Flocken legten sich schützend auf Zäune und Bäume. Eine glitzernde Decke erhellte die Straße und den Weg zum Fluss.

Charlie liebte diese kleine Bucht hinter der alten Eiche noch immer. So oft war sie schon hier gewesen. Mit ihren Freundinnen hatte sie hier gebadet, gespielt und in der Sonne geträumt.

Vom Weg aus war die Bucht nicht zu sehen. Kleine Büsche versperrten die Sicht auf ihren Lieblingsplatz.

Hier war das Ufer flach und mit kleinen Kieseln bedeckt. Das Wasser war klar und an warmen Tagen konnte man die winzigen Fische beobachten, die sich ganz nah ans Ufer trauten.

Der Vollmond spiegelte sich im Wasser.

Das Mädchen schloss die Augen und atmete tief aus.

Sie lauschte andächtig der weißen Stille und sog die reine Luft in sich auf wie ein zerbrechlicher, ausgetrockneter Schwamm.

Die Eiskristalle benetzten ihre dunklen Haare.

Dann öffnete sie ihre Augen und musterte ihre schweren Schuhe. Es waren die Schuhe ihres Großvaters. Sie waren schwarz und viel zu groß. Sie bewegte ihre Zehen langsam und bedächtig auf und ab. Ihr Großvater war Bergmann gewesen. Seine Lunge war früh vom feinen Staub der Kohle zerfressen und Charlie war noch ein Baby, als er starb. Ihre Mutter hatte seine Kleidung aufbewahrt wie eine Reliquie. In einem großen Kleiderschrank im Keller, der nach Mottenkugeln duftete, waren alte Kleider, Fotos und Erinnerungsstücke von ihm und ihrer Großmutter aufbewahrt. Die Großmutter hieß Charlotte, genau wie sie. Doch schnell war der ganzen Familie klar, dass dieser Wirbelwind, zu dem sie sich rasch entwickelt hatte, unmöglich Charlotte heißen konnte.

Charlie passte viel besser zu diesem kleinen, bezaubernden Frechdachs.

In dem großen Kleiderschrank im Keller hatte die 14jährige Charlie nun die viel zu großen Schuhe gefunden und sich darin auf ihren Weg gemacht.

Sie starrte auf die Steine am Boden. Wie unterschiedlich in Größe und Form sie doch waren! Sie waren so unterschiedlich, wie die Menschen, die sie kannte: manche waren klein, andere waren groß, einige fühlten sich gut an und andere waren gefährlich, verletzend, tödlich.

Geschickt suchte sie sich mit ihren schmalen Händen die größten Kiesel aus und packte sie in ihre tiefen Manteltaschen.

Der Mantel war schwarz und lang. Er reichte ihr bis an die Knöchel und war viel zu weit. Ihre Großmutter war eine große, stattliche Frau gewesen. Sie hatte sehr viel Wert auf teure, gute Kleidung gelegt. Ihre Sonnenschirmchen mit silbernen Griffen, die edlen Pelze und zahlreichen kunstvoll verzierten Hüte waren fein säuberlich in der obersten Ablage im Kellerschrank verstaut.

Charlie hatte sich den schweren Wollmantel mit den 5-Mark-Stück-großen Knöpfen aus Perlmutt ausgesucht. Schon als kleines Mädchen mochte sie diese Knöpfe. Sie schillerten warm in den unterschiedlichsten Pastelltönen. Charlie packte den Knopf zwischen Brust und Bauchnabel mit Daumen und Zeigefinger und rieb ihn sanft zwischen den Fingern. Das Material fühlte sich fest und zerbrechlich zugleich an.

Die Last der Steine und der Erinnerung verlangsamten ihre Schritte zum Ufer.

Sie schluchzte und Tränen verschleierten ihre Sicht als sie sich langsam dem Wasser näherte.

Das Kreuz stand noch da. Es hatte ihre Größe. Sie hatte gestern Abend hier an einem abgebrochenen Birkenstamm einen kürzeren halb verfaulten Ast mit einem rostigen Stacheldraht im oberen Drittel befestigt. Dabei hatte sie sich die Finger blutig gerissen.

Liebevoll strich sie über das Holz und schlang hastig ihren schwarzen Seidenschal darum.

Mit einem entschlossenen Lächeln setzte das Kind seinen Weg fort zum kalten Fluss, um nie mehr zurückzukehren in das Grau der 60er Jahre.



Henkersmahlzeit

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