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CRO-MAGNON

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ICH FAHRE NACH LES EYZIES-DE-TAYAC UND STEIGE IM „Cro-Magnon“ ab.

Les Eyzies liegt in den Bergen des französischen Départements Dordogne, einige Stunden mit dem Regionalzug von Bordeaux nach Osten. Es ist der Nabel der Welt für alle, die sich mit der europäischen Eiszeit beschäftigen. Die Touristen kommen zu Hunderttausenden, um Grabungsstätten, Höhlenmalereien und Museen zu besichtigen. Das kleine Dorf ist ganz darauf ausgerichtet, all die Eiszeittouristen zu beherbergen.

Alles begann mit Cro-Magnon. Ein örtlicher Großbauer, der mit Nachnamen Magnon hieß, ließ eine Straße über sein Land bis hinunter zum neuen Bahnhof bauen. Seine Arbeiter holten die Steine dafür von einer Stelle, die in der französischen Hochsprache „abri“ heißt, im Dialekt der Region jedoch „cro“. Das Wort bezeichnet einen Felsüberhang, eine in den hiesigen Kalkfelsen häufig anzutreffende geologische Formation. Durch versickerndes Grundwasser und Frostsprengung wird der Fels ausgehöhlt und es entsteht ein geschützter Raum mit einem natürlichen Dach.

Unter dem Felsüberhang Cro-Magnon fand man mehrere menschliche Skelette, die offensichtlich sehr alt waren. Das war im Jahr 1868, nur wenige Jahre nach der Entdeckung des Neandertalers in Deutschland. Charles Darwins Buch Über die Entstehung der Arten war soeben erschienen und breiteren Bevölkerungsgruppen wurde allmählich bewusst, dass der Mensch schon sehr viel länger existierte als die von manchen Bibelgelehrten behaupteten 6.000 Jahre.

Untersuchungen erbrachten, dass die Skelette in Cro-Magnon nicht von Neandertalern stammten, sondern eher uns heutigen Menschen ähnelten. Europas erste anatomisch moderne Menschen erhielten den Namen „Cro-Magnon-Menschen“.

Heute ist das Cro-Magnon zunächst gelegene Haus eine Pension. Es ist direkt an den Berg gebaut und der Fels ist Teil der Flure. Der Grabungsplatz, mittlerweile einer der unprätentiöseren in Les Eyzies, liegt direkt hinter der Waschküche der Besitzerin.

Das Speisenangebot ist heutzutage leichter verdaulich als in der Eiszeit – zum Frühstück gibt es Café au lait und Buttercroissants. Die Lage ist aber genauso schön wie damals, als die ersten Menschen diesen Platz erwählten. Man kann immer noch in der Abendsonne sitzen und auf den Fluss hinunterschauen. Jetzt jedoch bei einem erfrischenden Glas Kir Royal.

Die Menschen der Eiszeit wählten oft nach Westen gewandte Höhlenöffnungen oder Felsüberhänge als Wohnplätze, wo die Sonne sie wärmte und der Fels sie gegen den kalten Nordwind schützte. Und fast immer hatten sie Aussicht aufs Wasser.

Unter Archäologen herrscht Uneinigkeit, inwieweit die Menschen in Cro-Magnon zum Aurignacien oder zum Gravettien zu rechnen sind, denn sie lebten in einer Übergangszeit. Hinzu kommt, dass es bei den ersten Grabungen ein wenig drunter und drüber ging. Es gibt jedoch in der näheren Umgebung viele andere Fundplätze, an denen systematischer gearbeitet wurde und wo man die ganze Vorgeschichte durch meterdicke Ablagerungen hindurch verfolgen kann.

Zum Beispiel in Abri Pataud, das nur ein paar Hundert Meter von Cro-Magnon entfernt liegt. In der untersten Schicht findet man Spuren der Neandertaler. Darüber folgt eine Schicht ohne menschliche Hinterlassenschaften. Die ersten modernen Menschen, typische Vertreter des Aurignacien, tauchen vor ungefähr 35.000 Jahren auf.

Man hat in Abri Pataud Knochen von sechs verschiedenen Individuen gefunden: von zwei Frauen mit ihren neugeborenen Kindern, einem fünfjährigen Kind und einem erwachsenen Mann. Das am besten erhaltene Skelett gehört einer der Frauen. Sie war ungefähr zwanzig Jahre alt und circa 1,65 Meter groß. Ihr Kieferknochen war durch eine sehr schwere Zahnentzündung geschädigt – so schwer, dass sie daran eines qualvollen Todes gestorben sein könnte, falls sie nicht bei der Geburt ihres Kindes starb. Die eiszeitlichen Jäger litten fast niemals an Karies, weil sie so wenig Stärke und Zucker aßen, doch konnten Abnutzung und Entzündungen andere schwerwiegende Zahnprobleme verursachen.

Bisher gibt es keine zuverlässigen DNA-Analysen aus Cro-Magnon oder Abri Pataud. Der deutsche Wissenschaftler Johannes Krause unternahm allerdings einen Versuch. Er begann mit dem berühmtesten der Skelette, das Cro-Magnon 1 genannt wird und sich im Musée de l’Homme in Paris befindet. Krause versuchte, aus mehreren der Knochen DNA zu extrahieren, doch nur eine seiner Analysen glückte. Daraufhin ließ er auch Isotopanalysen dieses Knochens erstellen. Durch den Vergleich verschiedener Isotope des Elements Schwefel wollte er herausfinden, wie sich dieser Mensch ernährt hatte.

Die eiszeitlichen Europäer nahmen wie gesagt verhältnismäßig wenige Kohlenhydrate und stattdessen viel Protein aus Fleisch und Fisch zu sich. Doch der Knochen, der angeblich von Cro-Magnon 1 stammte, machte den Eindruck, als hätte er einem modernen Veganer gehört – oder einer Kuh, die ausschließlich Gras gefressen hat.

Als Johannes Krause den Knochen mithilfe der Radiokarbonmethode datieren ließ, stellte sich heraus, dass er aus dem 14. Jahrhundert stammte. Sein Gehalt an Schwefelisotopen entsprach dem eines armen Menschen im Mittelalter, der sich fast ausschließlich von Grütze ernährte und praktisch kein Fleisch aß.

Der Knochen wurde schleunigst aus den Sammlungen des Musée de l’Homme entfernt.

Die Spuren des Gravettien in Les Eyzies enden vor ungefähr 20.000 Jahren, genau wie anderswo in Europa. Damit begann eine Kultur, die Solutréen genannt wird.

In Abri Pataud wie auch an mehreren anderen Grabungsplätzen kann man ablesen, dass das Klima zu dieser Zeit sehr viel kälter wurde. Heute liegt die Durchschnittstemperatur in Europa bei ungefähr plus zwölf Grad. In der kältesten Periode der Eiszeit, vor 18.000 bis 19.000 Jahren, betrug die mittlere Temperatur ungefähr minus vier Grad. Pferde, zuvor eine häufige Jagdbeute, waren damals stark dezimiert. Übrig blieben hauptsächlich Rentiere, Europäische Bisons (oder Wisente) und einige kälteunempfindliche Raubtiere wie Polarfüchse und Wölfe.

Und Menschen.

Interessanterweise erlebte die menschliche Kultur gerade damals eine große Blüte. Das kann man im großen Museum von Les Eyzies gut nachvollziehen.


Das Musée Nationale de Préhistoire in Les Eyzies-de-Tayac ist ein großes, kostspieliges Museum, das vom französischen Staat unterhalten wird. Genau wie die Pension Cro-Magnon ist das Gebäude teilweise in den hellen Kalkfelsen hineingebaut.

Eine ganze Etage des Museums ist eiszeitlichen Werkzeugen vorbehalten – vor allem aus Stein, aber auch aus Horn, Knochen und Elfenbein –, die systematisch nach Periode und Kultur geordnet die Vitrinen füllen. Für mich als Nichtfachfrau ist es schwierig, den Übergang vom Neandertaler zum modernen Menschen und vom Aurignacien zum Gravettien zu erkennen. Doch der Übergang vom Gravettien zum Solutréen vor ungefähr 20.000 Jahren springt auch dem unbedarftesten Betrachter ins Auge.

Die Werkzeuge aus dem Solutréen sind völlig anders und sehr viel weiter entwickelt. Sie sind papierdünn, blank, scharf und bildschön. Einige sind so fein gearbeitet und übertrieben groß, dass sie kaum für praktische Arbeiten geeignet waren, sondern Ziergegenstände gewesen sein müssen. Der Feuerstein ist von besonders guter Qualität und wurde oftmals aus Felsen geholt, die fünfzig Kilometer entfernt lagen. Wahrscheinlich wurden diese Werkzeuge von geübten Spezialisten hergestellt. Diese Spitzen in Form von Weidenblättern aus dem Stein herauszuarbeiten, war sicherlich keine Aufgabe für jedermann.

Demgegenüber schein fast jeder seine eigenen Speerschleudern aus Horn hergestellt zu haben. Das ist an den laienhaften Formen und den eingeritzten Bildern zu erkennen. Speerschleudern waren eine Innovation, die die Jagd in der offenen Landschaft der Eiszeit vereinfachte. Mit ihrer Hilfe konnten die Jäger das Hebelprinzip nutzen und ihre Speere mit größerer Kraft schleudern.

Während des Solutréens tauchen erstmals auch Nähnadeln in Westeuropa auf. Die Vitrinen des Museums zeigen, wie die Menschen sie Schritt für Schritt aus dem Stoßzahn eines Mammuts herstellten. Ältere Funde von Nähnadeln sind wie erwähnt nur aus Russland bekannt.

Schon seit langer Zeit benutzen die Menschen Kleidung. Mark Stoneking vom Max-Planck-Institut in Leipzig hat sich einer unkonventionellen Methode bedient, um das Alter von Kleidungsstücken zu berechnen: der DNA-Analyse von Kleiderläusen. Ein Vergleich verschiedener Familien der Kleiderlaus mit Kopfläusen und Läusen von Schimpansen erlaubte es ihm, die Dauer der Bekleidungsgeschichte auf ungefähr 107.000 Jahre festzusetzen. Zwar weist die Berechnung Abweichungen von mehreren Zehntausend Jahren auf, doch kann er präzisere Angaben machen als andere Forscher vor ihm. Mark Stonekings Analysen der Läuse-DNA belegen auch, dass der Mensch bereits in Afrika begonnen hatte, Kleidung zu benutzen.

An vielen Orten haben Archäologen Steinschaber gefunden, die vermutlich der Bearbeitung von Tierhäuten für Kleidung dienten. Auch die Neandertaler beherrschten diese Technik. Dieses Wissen war die Voraussetzung für ein Leben außerhalb der Tropen. Klei dung war mit Sicherheit in kühleren Gegenden Afrikas und des Nahen Ostens ebenso notwendig wie für die ersten Einwohner Europas.

Sich in einen Fellmantel zu hüllen und mit einer Ahle einige Löcher zu stechen, um zwei Lederstücke zu einer Tunika zusammenzufügen, ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, mithilfe von Nadeln Anoraks mit pelzgefütterten Kapuzen, gut sitzende Beinkleider und wasserdichte Stiefel zu nähen.

Nähnadeln mit Öhr mögen uns heute nicht besonders imponieren, doch während der kältesten Perioden der Eiszeit bedeuteten sie den Unterschied zwischen Leben und Tod. Dichte und warme Kleidung muss in dem unbarmherzigen Klima entscheidend gewesen sein, und eine Nadel mit Öhr erleichterte die Arbeit.

Außerdem konnte man mit den Nadeln auch Netze und Reusen herstellen. Damit war man bei der Jagd flexibler und es konnte jeder mithelfen, unabhängig von seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Nähnadel könnte durchaus eine der bedeutendsten Erfindungen der Menschheit gewesen sein.

Offenbar machten die Menschen gerade während der kältesten Periode der Eiszeit hier im Südwesten Europas einen beachtlichen technologischen Entwicklungsschritt.

Die beste Erklärung dafür liefert mir Jiři Svoboda aus Brünn. Er glaubt, dass Menschen aus nördlicheren europäischen Gegenden von der Kälte nach Süden getrieben wurden. Die verschiedenen Gruppen trafen in der neuen, kalten und entbehrungsreichen Umgebung aufeinander und taten ihr Wissen zusammen. Dieses Konglomerat aus Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen war eine ausgezeichnete Basis für ihre Weiterentwicklung und für neue Erfindungen.

Auch die DNA-Forschung stützt die These, dass Menschen aus dem Norden Europas während der kältesten Periode der Eiszeit, also vor 25.000 bis 18.000 Jahren, Schutz in wärmeren Gegenden suchten. Ihre Zufluchtsorte lagen verstreut im südlichen Europa, am Schwarzen Meer, im heutigen Griechenland, in Italien und sogar weiter östlich in Sibirien.

Ich habe Grund zu der Annahme, dass meine Verwandten in direkter mütterlicher Linie die kältesten Jahre der Eiszeit eben hier in der Nähe von Les Eyzies-de-Tayac, in Südwestfrankreich oder Nordspanien verbracht haben.

Die Untersuchungsergebnisse des isländischen Unternehmens Decode haben mir verraten, dass ich – wie ungefähr jeder zehnte Europäer – zur Gruppe U5 gehöre. Doch im Sommer begegne ich einigen schwedischen Genealogen, die sich für das Potenzial von DNA-Analysen interessieren. Wir schauen uns meine Ergebnisse von Decode näher an und finden heraus, dass ich zu einer der zwei Untergruppen von U5 gehöre, nämlich zur Gruppe U5b. Diese Gruppe wird wiederum in drei Untergruppen unterteilt, deren erster ich angehöre: U5b1.

Vieles deutet darauf hin, dass U5b1 innerhalb der Gruppe von Menschen entstand, die auf dem Höhepunkt der Eiszeit Zuflucht in Südwesteuropa suchten, also während des Solutréen.

Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür liefert die Antwort auf die Frage, wo heute die meisten Varianten dieser Gruppe auftreten. Im Fall von U5b1 scheint die Variationsbreite in den Gegenden um die Pyrenéen am größten zu sein, also in Südwestfrankreich und in Nordspanien.

Ein weiteres, ungewöhnliches Forschungsergebnis wurde 2005 veröffentlicht. Eine Gruppe italienischer Wissenschaftler konnte nachweisen, dass eine Untergruppe von U5b1, die sich bei fast der Hälfte aller Angehörigen des Volks der Samen findet, nah mit einer bei den Berbern in Nordafrika vorkommenden Untergruppe verwandt ist. Ihre Verwandtschaftslinien scheinen sich vor mehreren Tausend Jahren getrennt zu haben. Die Nachricht rief großes Erstaunen hervor, da zwischen Nordafrika und Nordskandinavien viertausend Kilometer liegen. Die wahrscheinlichste Erklärung dafür ist, dass Menschen mit U5b1 in verschiedene Richtungen wanderten. Einige wandten sich nach Norden, als die Eiszeit ihrem Ende zuging, und einige von deren Nachkommen erreichten schließlich das nördliche Skandinavien. Andere wiederum wanderten südwärts und über die Straße von Gibraltar nach Afrika.

Ein drittes Element in der Beweiskette sind DNA-Analysen fossiler menschlicher Knochen aus Westeuropa. Bislang existieren nur wenige solcher Untersuchungen in ausreichender Qualität und diese wurden an Proben aus einer Zeit nach dem Solutréen vorgenommen. Doch selbst diese Analysen stützen bis zu einem gewissen Grad die These, dass U5b1 im südwestlichen Europa verbreitet war, als die Kälte der Eiszeit ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Eine der besten Fundstätten für das Solutréen ist Laugerie Haute. Ein halbstündiger Spaziergang bringt mich von meiner Pension in Cro-Magnon dorthin.

Laugerie Haute ist einer der ergiebigsten Fundplätze für all jene Kulturen, die in einem Zeitraum von mindestens 20.000 Jahren in dieser Gegend existiert haben. Archäologen haben 42 Schichten ausgegraben, vom Aurignacien über das Solutréen bis zum darauf folgenden Magdalénien.

Der riesige Felsüberhang scheint ein Sammellager gewesen zu sein, ein Platz, an dem sich mehrere kleine Gruppen zu bestimmten Zeiten trafen – vor allem im Herbst, wenn das Tiervorkommen am größten war.

Ungefähr einhundert Personen scheinen hier gleichzeitig gelebt zu haben. Das entspricht drei bis fünf kleineren Gruppen. Warum sie gerade diesen Ort auswählten, ist leicht nachzuvollziehen. Er bietet viel Platz, denn die geschützte Fläche unter dem Überhang ist so groß wie zwei Tennisplätze. Mittlerweile ist der größte Teil des Daches herabgestürzt und gigantische Felsbrocken liegen auf der Erde.

Wie viele andere eiszeitliche Wohnplätze liegt auch Laugerie Haute nur wenige Meter von einem Fluss entfernt. Die Menschen, die sich hier aufhielten, genossen sowohl Abendsonne als auch Aussicht über das Wasser, wie in den gefragtesten Objekten heutiger Wohnungsmakler.

Man kann darüber spekulieren, wie es den Menschen des Solutréen hier während der kältesten Periode der Eiszeit ergangen ist. Ich stelle mir vor, dass sie gerne hierherkamen. Sicher lebten die Kleingruppen die meiste Zeit des Jahres isoliert und waren durch die grimmige Kälte eingeschränkt. In Laugerie Haute begegneten sie anderen Menschen, feierten Feste und hielten Zeremonien ab. Die jungen Erwachsenen konnten einen Partner finden, man saß um die Feuer und tauschte Erfahrungen aus und alle hatten genug zu essen.

Die Nahrung bestand zum größten Teil aus Fleisch und Knochenmark vom Rentier. Andere Beutetiere wie Pferde wurden selten, als die Kälte in dieser Region ihren Höhepunkt erreichte.

Natürlich aßen die eiszeitlichen Menschen auch pflanzliche Kost, wie unter anderem mikroskopisch kleine Reste an ihren Zähnen belegen. Doch die Vegetationsperiode war kurz, vor allem im kalten Solutréen.

Grabungen und Steinwerkzeuge in allen Ehren, doch der eigentliche Grund, warum jedes Jahr Hunderttausende Touristen Les Eyzies besuchen, sind die Höhlenmalereien. Auch ich begebe mich auf eine Kunstwanderung zu den hiesigen Höhlen.


Laugerie Haute erscheint mir wie der riesige Festplatz, auf dem meine vorzeitlichen Verwandten ihre größten Partys gefeiert haben. Abri Cap Blanc, sechs Kilometer weiter östlich, vermittelt eine intimere Atmosphäre. Hier fühle ich mich, als wäre ich bei einer Familie zu Besuch und bewunderte ihre Einrichtung.

Nur sechs Personen warten mit ihren vorab reservierten Eintrittskarten in dem kleinen Museum. Für mehr ist kein Platz. Für kurze Zeit werden wir eingelassen und dürfen den Wohnplatz besichtigen. Die Führerin kontrolliert gewissenhaft, dass keiner eine Kamera eingeschmuggelt hat, dann schließt sie eine schwere Eisentür auf.

Unter Archäologen war es lange umstritten, wann die entlang der Felswand verlaufenden Friese eigentlich erschaffen wurden. Mittlerweile werden sie dem Solutréen zugerechnet. Sie sind außergewöhnlich gut erhaltene Beispiele dafür, wie die Eiszeitmenschen die Stätten dekorierten, an denen sie dauerhaft wohnten. An den meisten anderen Orten sind die Felswände, auf denen sich die Dekorationen ursprünglich befanden, durch Verwitterung zerstört.

Die Friese in Cap Blanc bestehen aus Reliefs, die in den Fels gemeißelt wurden: eine ganze Prozession aus Pferden und Bisons. Paradoxerweise standen diese beiden Tierarten nur selten auf dem Speisezettel der Menschen. Das belegen die hier entdeckten Tierknochen. Fast 95 Prozent der Knochen stammen von Rentieren, der häufigsten Jagdbeute während der kältesten Zeiten. Offenbar wurde aber Pferden und Bisons eine größere emotionale Bedeutung beigemessen. Die Künstler der Eiszeit wählten für ihre Bilder oft ganz andere Tiere als die, die sie tagtäglich jagten.

Aus der familiären Umgebung in Cap Blanc begebe ich mich ins Tal hinunter nach Font de Gaume. Das ist eine völlig andere Erfahrung, gar nicht alltäglich, sondern beinahe schon sakral. Tief im Innern einer Höhle sehe ich exklusive Kunstwerke. Die Künstler hinter diesen Bildern müssen die eiszeitliche Entsprechung von Meistern wie Rembrandt oder Leonardo da Vinci gewesen sein.

Gemeinsam mit einer französischsprachigen Gruppe von etwa zehn Personen trete ich ein. Nach nur wenigen Schritten in den Berg hinein haben wir schon alle Eindrücke der Außenwelt hinter uns gelassen. Das Sonnenlicht verschwindet. Wir hören keine Vögel mehr und auch nicht das Geräusch des Windes. Die Haut registriert nur noch Kälte und Feuchtigkeit. In meinem Kopf entsteht ein schwaches Summen, als der Gehörsinn versucht, die Stille des Berges zu kompensieren. Ich blinzele, um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen.

Die Gänge in der Höhle von Font de Gaume sind eng, aber heutzutage kann man als Besucher zumindest aufrecht gehen, da der Fußboden zu unserer Bequemlichkeit abgesenkt worden ist. Außerdem gibt es elektrische Lampen, die unsere Führerin löscht, sobald wir einen Bereich der Höhle verlassen. Sie will die Bilder so gut als möglich schützen, sowohl vor dem elektrischen Licht als auch vor unserer Atemluft.

Die Künstler der Eiszeit waren hier teilweise noch gezwungen zu kriechen. Doch als sie die Bilder in der Höhle malten, half ihnen eine neue und bedeutende Erfindung: Sie hatten Lampen. Sie brauchten sich nicht länger mit einfachen Holzfackeln zu begnügen wie frühere Generationen. Die Künstler in Font de Gaume erleuchteten ihre Umgebung mithilfe von ausgehöhlten Steinen. In der Vertiefung verbrannten sie tierisches Fett und Dochte aus Pflanzenfasern.

Font de Gaume, am Rande von Les Eyzies, wurde vor ungefähr 17.000 Jahren während des Magdalénien genutzt. Diese Kultur folgte nach einer unspektakulären Übergangsphase auf das Solutréen. Die Werkzeuge wurden etwas ausgereifter, doch die Menschen scheinen weitgehend die gleichen geblieben zu sein. Die Kälte der Eiszeit begann allmählich abzunehmen und das Klima wurde ein wenig wärmer.

Die Meister in Font de Gaume malten ihre Bilder mit gemischten Pigmenten: Gelb, Rot, Braun und Schwarz und viele Nuancen dazwischen. Sie stellten die Farben aus rötlichen Eisenoxiden und schwarzem Manganoxid aus den umliegenden Bergen her. Manchmal brannten sie die Steine, um spezielle Farbnuancen zu erzielen. Sie zerstießen die Pigmente in Mörsern und mischten die Farben auf Paletten, genau wie heutige Künstler. Um die Farben auf die Höhlenwände aufzubringen, verwendeten sie verschiedene Methoden: ihre Finger, Stöckchen und Pinsel aus Tierhaaren oder Vogelfedern. Sie bliesen das Farbpulver auch direkt auf die angefeuchtete Unterlage, so wie die Freskenmaler der Renaissance.

Das häufigste Motiv in Font de Gaume ist der Bison. Mehr als achtzig Tiere sind hier verewigt, jedes mit seinen besonderen Eigentümlichkeiten. Den Künstlern war ganz offensichtlich bewusst, ob sie ein weibliches oder ein männliches Tier malten, wie alt das Tier war, in welcher Jahreszeit und in welcher konkreten Situation es sich befand. Geschickt und wohlüberlegt nutzten sie die Form der Felswände, um dreidimensionale Effekte zu erzielen. In einer der Höhlen befinden sich einige Abbildungen fünf Meter über dem Boden. Um dort oben zu malen, muss der Künstler auf den Schultern der anderen gestanden haben.

Mehrfarbige Malereien existieren nur in wenigen eiszeitlichen Höhlen, deren bekannteste die im spanischen Altamira, Lascaux in der Nähe von Les Eyzies und Chauvet in den Bergen westlich von Lyon sind. Diese Höhlen sind für die Allgemeinheit nicht mehr zugänglich, Besucher müssen sich daher mit Kopien der Gemälde begnügen.

Gegenwärtig können Privatpersonen die mehrfarbigen Höhlenmalereien in Font de Gaume noch im Original sehen, wenn sie am selben Morgen für Eintrittskarten anstehen. Man erwägt, auch Font de Gaume zu schließen, um die Malereien vor der Beleuchtung und der Atemluft der Besucher zu schützen.

Ich bin dankbar, dass ich noch dort drinnen in Dunkelheit, Kälte und Feuchtigkeit herumgehen und erleben durfte, wie sich im gedämpften Licht Bisons, Mammuts und Pferde abzeichneten – etwas lädiert nach so vielen Jahrtausenden, aber so gut gemacht, dass sie auch heute noch fast lebendig erscheinen.

Einige Tausend Jahre später werden die Bilder schlichter, zwar immer noch gut ausgeführt, jedoch stärker stilisiert.

Pferdedarstellungen dominieren in der Höhle Les Combarelles, einige Kilometer von Font de Gaume entfernt. Es gibt auch Zeichnungen von Höhlenlöwen, Höhlenbären und Mammuts, doch sind Pferde das häufigste Motiv. Manchmal sind nur die Konturen in die Felswand geritzt, manchmal sind sie mit schwarzer, aus Manganoxid hergestellter Farbe ausgefüllt.

Der Guide, der mich und eine französische Familie durch die langen, schmalen Gänge begleitet, glaubt, dass Les Combarelles von einem Klan genutzt wurde, dessen Totem das Pferd war. Der Klan kehrte während mehrerer Tausend Jahre immer wieder zu dieser Höhle zurück und zeichnete Hunderte von Bildern. Er glaubt, dass die Schamanen des Klans auf diese Weise spirituelle Kräfte heraufbeschworen haben.

Um zur Höhle Rouffignac zu kommen, miete ich mir ein Auto und fahre von Les Eyzies aus ungefähr eine halbe Stunde durch eine Landschaft, die von bewaldeten Hügeln und Weinbergen geprägt ist. Die hiesigen Bilder stammen ebenfalls dem Magdalénien und sind vermutlich 15.000 Jahre alt. Sie erinnern an die geritzten, einfarbigen Pferde in Les Combarelles.

In Rouffignac dominieren jedoch die Mammuts, mehr als 150 sind es. Das erste begegnet mir gleich hinter dem Eingang: ein kleines rundliches, munteres, wolliges Mammut nur ungefähr einen Meter über dem Erdboden, das sehr gut extra für Kinder gemalt worden sein könnte. Weiter hinten in der Höhle findet man auch Bisons, Pferde, Bergziegen, Wollnashörner und einen Höhlenbären. An einem schwer zugänglichen Platz ganz unten in einer Vertiefung ist sogar das Bild eines Menschen zu sehen, ein grob gezeichneter Kopf im Halbprofil.

Die Gänge verlaufen in vielen Windungen fast zehn Kilometer weit durch den Berg. Wir Besucher werden mit einem kleinen elektrisch betriebenen Zug herumgefahren. Die Beleuchtung schaltet sich nur dann automatisch ein, wenn der Zug an einer Stelle für wenige Minuten hält. Damit wird die Beanspruchung der Bilder durch unsere Anwesenheit minimiert.

Die Höhle liegt auf einem großen bäuerlichen Betrieb und wird von dessen Besitzer verwaltet. Die Lokalbevölkerung kennt die Höhle seit mehreren Hundert Jahren und viele sind hier gewesen und haben ihre Namen an den Wänden hinterlassen. Systematische archäologische Untersuchungen kamen jedoch erst in den 1950er-Jahren in Gang.

Frédéric Plassard, der Sohn des Hauses, ist mit der Höhle aufgewachsen. Heute arbeitet er hier ganztags. Er hat Archäologie studiert und seinen Doktor an der Universität in Bordeaux gemacht.

Wir sitzen lange auf einer Bank am Eingang der Höhle im kühlenden Schatten der Eichen und unterhalten uns. Ich versuche zu verstehen, was Menschen vor 15.000 Jahren dazu bewegte, sich in das Dunkel des Berges zu begeben und dort solche Kunstwerke zu erschaffen.

Dass sie die Höhlen aufsuchten, sei nicht verwunderlich, meint Frédéric Plassard. Das sei normale menschliche Neugier. Menschen sind schon immer in diese Höhle gekommen, wie das Gekritzel aus dem 18. und 19. Jahrhundert dort drinnen beweist. Genau wie wir hatten auch die Menschen im Magdalénien schon Lampen, wenn auch nur einfache Steinlampen mit Tierfett, und es dauert schließlich auch nur eine halbe Stunde, einen Kilometer weit in den Berg hineinzugehen.

Das wirklich Bemerkenswerte sind die Kunstwerke. Sie sind von solcher Qualität, dass sie von hoch spezialisierten Künstlern geschaffen worden sein müssen. Frédéric Plassard glaubt, dass es sich dabei um nur drei oder vier Personen handelte. Womöglich schufen sie all diese Kunstwerke bei einer einzigen Gelegenheit, während einiger hektischer Stunden. Danach verbrachten sie ihr ganzes Leben draußen im Tageslicht und bewahrten sich nur die Erinnerung an die Bilder. Ihr Werk musste nicht unbedingt gesehen werden: Es zu erschaffen war wichtiger, als es zu betrachten.

Die europäischen Höhlenmalereien hatten eine ganz besondere Bedeutung für die Menschen, ist Frédéric Plassard überzeugt.

Er weist darauf hin, dass in ganz Europa nur ungefähr 20.000 Höhlenmalereien bekannt sind, obwohl die Menschen der Eiszeit hier 30.000 Jahre lang lebten. Das ist weniger als ein Bild pro Jahr bei einer Bevölkerung von mehreren Tausend Personen. Ganz anders in Australien, wo die Aborigines Millionen von Felszeichnungen geschaffen haben.

Mit einem Mythos möchte Frédéric Plassard sofort aufräumen. Die Archäologen glaubten anfangs, dass die eiszeitlichen Künstler im Laufe der Jahrtausende immer geschickter wurden. Die perfekten Proportionen und Perspektiven der Tierdarstellungen in Font de Gaume sind zum Beispiel sehr viel ausgereifter als die unförmigeren Pferde in der ein paar Tausend Jahre älteren Höhle Peche Merle.

Doch dann wurde in den 1990er-Jahren die weiter östlich in Südfrankreich gelegene Höhle Chauvet entdeckt. Die Kunstwerke dort sind absolut einzigartig, ein wahrer Schatz aus mehrfarbigen und geschickt dargestellten Tieren. Diese Bilder sind womöglich schon vor 32.000 Jahren während der Kultur des Aurignacien begonnen worden.

Wir Menschen haben also spätestens seit diesem Zeitpunkt das Potenzial zur Erschaffung bildender Kunst gehabt. Vergessen wir auch nicht die Elfenbeinflöten und die kleinen Statuetten von der Schwäbischen Alb, deren älteste über 40.000 Jahre alt sind. Seit sich moderne Menschen in Europa angesiedelt haben, gibt es sowohl meisterhafte Künstler als auch Amateure.

Während wir vor dem Höhleneingang sitzen, diskutieren wir auch die Theorien des französischen Archäologen Jean Clottes und seines südafrikanischen Kollegen David Lewis-Williams. Die beiden scheinen hier in der Gegend den Status der Chefideologen innezuhaben. Vor allem die Bücher von Jean Clottes, sowohl die populärwissenschaftlichen als auch die akademischeren, sind in allen Geschäften und Museumsläden vorrätig.

Ihre Theorien lassen sich mit den Worten des Guides in der Pferdehöhle Les Combarelles kurz so zusammenfassen: Indem sie die Bilder in Höhlen erschufen, holten sich die Schamanen spirituelle Kräfte.

Für Frédéric Plassard ist die Schamanenhypothese stimmig, wenn auch sehr schwer zu beweisen. Er mahnt zur Vorsicht. In einem Zeitraum von über 30.000 Jahren und in einem Gebiet, das sich von der Atlantikküste bis nach Sibirien erstreckte, könnten durchaus verschiedene Kräfte am Werk gewesen sein.

Jean Clottes und David Lewis-Williams gründen ihre Argumentation auf drei Säulen.

Die erste ist ihr umfassendes Wissen über die Bilder. Das ist unumstritten. Jean Clottes hat zum Beispiel die Untersuchungen in der Chauvethöhle mit geleitet.

Die zweite Säule wird von den meisten Archäologen und Anthropologen leidlich akzeptiert. Clottes und Lewis-Williams ziehen Parallelen zwischen den eiszeitlichen Künstlern Europas und den traditionellen Jäger- und Sammlervölkern des 19. und 20. Jahrhunderts. In ihren Büchern gehen sie unter anderem von den Schilderungen der sibirischen Nomaden in der anthropologischen Literatur aus sowie von eigenen Besuchen bei Indianern in Kalifornien und Buschmännern in Südafrika. Eines der wichtigsten Dokumente enthält über zwölftausend Seiten Interviews mit Buschmännern, die der deutsche Linguist Wilhelm Bleek gegen Ende des 19. Jahrhunderts und während der folgenden Jahrzehnte gemeinsam mit seiner Schwägerin Lucy Lloyd und seiner Tochter Dorothea aufgezeichnet hat.

Viele der Parallelen, die Jean Clottes und David Lewis-Williams beschreiben, sind in der Tat auffällig.

Im schamanistischen Weltbild ist das Universum gewöhnlich in drei Ebenen unterteilt: in die Erde, wo wir gewöhnlichen Sterblichen uns aufhalten, den Himmel sowie die Unterwelt und/oder die dunklen unterirdischen Wasser. Einige Tiere haben Zugang zum Himmel oder zur Unterwelt. Wasservögel können zum Beispiel alle drei Ebenen erreichen, weil sie sowohl schwimmen als auch fliegen können, und Schlangen können in die Unterwelt kriechen. Diese Tiere können den Schamanen auf ihrer Reise in die Welt der Geister helfen.

Mithilfe der Höhlen könnten sie sich der Unterwelt und damit den Geistern und den Toten genähert haben.

David Lewis-Williams beschreibt die Felswände in den Höhlen als Membran – als Grenze zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister. Er glaubt, dass die Künstler die Bilder buchstäblich auf die Wand projiziert sahen und im Großen und Ganzen nur noch ihre inneren Bilder auszumalen brauchten. Sie könnten sich in Trance versetzt haben – durch Schlafentzug, Drogen, rhythmische Musik und wilden Tanz, mithilfe des hohen Gehalts an Kohlendioxid in einigen der Höhlen oder auch nur durch den Mangel an Eindrücken, der durch längeres Alleinsein in einem dunklen Raum entsteht. Sie befanden sich vielleicht nicht in Trance, während sie malten, aber sie gaben Bilder wieder, die sie in der Trance gesehen hatten, meint Lewis-Williams.

Die dritte Säule der Argumentation von Jean Clottes und Lewis-Williams ist die umstrittenste. Die beiden Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass die frühe Kunst ihren Ursprung nicht nur in den Trancezuständen der Schamanen hatte, sondern vor allem in der besonderen Funktionsweise des menschlichen Gehirns bei Halluzinationen und Psychosen.

So seien die Zickzackmuster, die auf 70.000 Jahre alten Steinen in der südafrikanischen Höhle Blombos entdeckt wurden, eine Darstellung der Lichtphänomene, die viele Menschen bei einem Migräneanfall sehen. Laut Clottes und Lewis-Williams sind diese Lichtwahrnehmungen eine Form schwacher Halluzinationen. Die Mammuts, Pferde und Bisons in den Höhlenmalereien wären demnach Repräsentationen von schwereren Halluzinationen.

Ich persönlich stehe dieser Lesart skeptisch gegenüber. In meinen Augen ist gewöhnliche menschliche Kreativität – womöglich durch Trancezustände verstärkt – als Erklärung für die Bilder schon ausreichend.

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