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DOGGERLAND

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HUND, MANN UND FRAU AUS DEM GRAB in Bonn-Oberkassel lebten in einer Zeit großer Veränderungen. Nur wenige Hundert Jahre vorher hatte Europa eine Wärmeperiode erlebt, die das Ende der Eiszeit ankündigte.

Die Kälte ging zurück. Schon seit mehreren Tausend Jahren taute die Erde ganz allmählich auf. Ihre Umlaufbahn um die Sonne hatte sich den sogenannten Milankovic-Zyklen entsprechend verändert. Immer mehr der Sonnenenergie erreichte die Erde. Als Eis und Schnee schmolzen und dunkles Wasser und dunklen Erdboden freigaben, konnte die Erde noch mehr Sonnenstrahlen absorbieren. Im Meer und im Boden gespeichertes Kohlendioxid und Methan wurde freigesetzt und beschleunigte den Erwärmungsprozess zusätzlich.

Außer der großflächigen Erwärmung, die die ganze Erde betraf, erlebten einzelne Gegenden regional begrenzte, aber dramatische Temperaturveränderungen. Innerhalb von nur ein paar Hundert Jahren – vielleicht sogar noch schneller – stieg die Durchschnittstemperatur in Nordwesteuropa um mehrere Grade. Das ist vermutlich auf veränderte Strömungsverhältnisse im Atlantik zurückzuführen.

Es erscheint uns wie ein Segen für die eiszeitlichen Menschen, dass das ehemals so raue Klima sehr viel milder wurde, doch bin ich mir nicht sicher, dass sie selbst es auch so empfanden. Der Umschlag kam so plötzlich, dass sie keine Zeit hatten, sich daran zu gewöhnen. Die Eiszeitjäger sahen sich genötigt, innerhalb weniger Generationen eine Lebensweise hinter sich zu lassen, an der ihre Vorfahren mehrere Jahrtausende lang festgehalten hatten.

Auf längere Sicht bedeutete das wärmere Klima deutlich verbesserte Lebensbedingungen. Höhere Temperaturen und steigende Niederschlagsmengen führten zu vermehrtem Pflanzenwachstum und damit auch zu reicherem Tierbestand. Dadurch konnten mehr Menschen überleben und Kinder bekommen. Am Ende der Eiszeit erlebte Europa ein kräftiges Bevölkerungswachstum, wie DNAAnalysen gezeigt haben.

Doch die Menschen mussten nun entweder lernen, die neuen Tierarten zu jagen, deren Lebensraum die jungen Wälder waren, oder den Rentieren auf deren Wanderungen nach Norden und Osten folgen.

Wer den Rentieren von Bonn-Oberkassel aus auf direktem Weg nach Norden folgte, kam nach Doggerland – ein Land, das es nicht mehr gibt. Heute kennen wir Dogger als Teil der Nordsee und aus dem Seewetterbericht. Doch Doggerland, das jetzt auf dem Grund des Meeres liegt, erstreckte sich einst vom heutigen Dänemark bis nach Schottland. Zur Zeit ihrer größten Ausdehnung – auf dem Höhepunkt der Eiszeit vor ungefähr 20.000 Jahren – reichte seine Landmasse wahrscheinlich sogar bis hinauf zu den Shetlandinseln. Zwischen Doggerland und der norwegischen Küste verlief ein schmaler, tiefer Graben, heute Norwegische Rinne genannt. In der Mitte zwischen den Shetlandinseln und der heutigen norwegischen Stadt Bergen lagen mehrere Erhebungen, die später den Namen Vikingbank erhielten.

Zeitweise könnte Doggerland sogar einer der besten Lebensräume im ganzen damaligen Europa gewesen sein – es besaß fruchtbare Böden, Süßwasserflüsse und eine reiche Tierwelt.

In einer Vitrine im Nationalmuseum in Kopenhagen betrachte ich Werkzeuge und Kunstgegenstände aus Knochen und Horn, die vor vielen Tausend Jahren von den Menschen in Doggerland hergestellt wurden. Einige dieser Artefakte haben sich in Fischernetzen verfangen, andere wurden an dänischen Stränden angespült. Unterwasserarchäologen haben im Meer nach untergegangenen Siedlungen gesucht.

Schon im 19. Jahrhundert fanden Austernfischer in den Gewässern vor England eigenartige Knochen von Mammuts und Rentieren. Im Jahr 1931 zog der englische Trawler „Colinda“ eine mit Widerhaken versehene Speerspitze aus Horn aus dem Wasser, die auf ein Alter von fast 12.000 Jahren datiert wurde. Seitdem haben Fischer, Taucher, Archäologen und Geologen viele Gegenstände entdeckt, die davon erzählen, wie die Menschen damals in jenem Land lebten, das jetzt Meeresboden ist.

Doch die neuesten Erkenntnisse über das versunkene Land kommen aus einer anderen, unerwarteten Ecke.

Ich fahre nach Bradford in England, um den Archäologen Vincent Gaffney zu interviewen. Er leitete ein umfangreiches Projekt, auf dem unter anderem das 2009 erschienene Buch Europe’s lost world – the rediscovery of Doggerland basiert. Es ist die bislang ausführlichste Darstellung des Themas.

Hätte ich diese Reise vor 10.000 Jahren unternommen, wäre ich trockenen Fußes von Schweden nach Bradford gelangt. Jetzt fliege ich stattdessen nach London und nehme von da aus den Zug in Englands Norden. Bradford und Leeds sind Zwillingsstädte. Die umgebende Landschaft mit ihren grünen Hügeln ist wunderschön, doch die Innenstadt von Bradford macht einen beklemmenden Eindruck. Die Blütezeit der Textilindustrie ist lange vorbei. Kaum ein Besucher verirrt sich heute noch hierher. Eine Frau im Zug erkundigt sich verwundert, was ich in Bradford will.

Die Universität der Stadt scheint jedoch einen guten Ruf zu haben. Es stellt sich heraus, dass Vincent Gaffney nach einem Konflikt mit seiner früheren Universität in Birmingham hier eine Stellung bekommen hat.

Eigentlich hatten wir uns für den Vormittag verabredet, doch wird Gaffney kurzfristig zu einem wichtigen Meeting in seiner neuen Universität gerufen. So treffen wir uns spätabends an der Hotelbar. Es wird ein ungewöhnlich chaotisches Interview. Ich trinke zwei kleine Gläser Cider, während Vincent drei große Bier kippt. Er ist um die Sechzig, rothaarig und schon zu Beginn des Abends sehr lebhaft. Je weiter der Abend fortschreitet und je mehr Gläser geleert werden, desto schwieriger wird es für mich, seinen Redefluss in geordnete Bahnen zu lenken. Doch hinter seinen Einfällen und wilden Assoziationen verbirgt sich brillante und richtungsweisende Wissenschaft.

Ursprünglich war Vincent Gaffney auf römische Relikte in der Mittelmeerregion spezialisiert. Doch irgendwann begann er sich mit der sogenannten Fernerkundung zu beschäftigen – verschiedenen Methoden, mit denen man den Erdboden aus der Distanz untersuchen kann, ohne zu graben. Als er in Birmingham einen Kurs in Fernerkundung für Doktoranden leitete, fragte ihn ein Student, welche Region er am liebsten einmal untersuchen würde. Ohne zu zögern antwortete er: „Doggerland“. Dort auf dem Grund des Meeres liegt vermutlich ein großer Teil der europäischen Vorgeschichte. Daraufhin schlug der Student vor, gemeinsam auf die Daten zuzugreifen, die Ölfirmen bei der Suche nach Öl- und Gasvorkommen gesammelt hatten. An diese Möglichkeit hatte Vincent Gaffney noch nie gedacht.

Sie gewannen für ihr Projekt einen Geologen, der Experte für die Untersuchung von Gas- und Ölfunden in der Nordsee war. Mit seiner Hilfe trugen sie eine große Datenmenge zusammen und bearbeiteten sie am Rechner.

Die Technik nennt sich 3D-Seismik und wird normalerweise für die Untersuchung von tief unter dem Meeresboden liegenden Schichten genutzt, in denen Ölvorkommen vermutet werden. Die Archäologen wollten jedoch näher an der Oberfläche arbeiten, in nur wenigen Metern Tiefe. Zu ihrem Entzücken ließ sich die Methode auch für ihre Zwecke nutzbar machen. Innerhalb von nur achtzehn Monaten konnte die Forschergruppe eine detaillierte Karte eines Teilgebiets von Doggerland erstellen, das so groß war wie Holland. Sie rekonstruierten eine komplette Landschaft mit Seen, Feuchtgebieten, Flussmündungen, Bergen und Ebenen. Mitten durch die Landschaft verlief ein großer Fluss, den sie nach einem bekannten Geologen Shotton River nannten.

Eine Frage scheint jedoch leider schwer zu beantworten zu sein: Wie sahen eigentlich die Konturen von Doggerland aus? Wie weit erstreckte sich die Landfläche zu verschiedenen Zeitpunkten in den Atlantik hinein?

Ich formuliere meine Frage mehrmals neu und schließlich gibt mir Vincent Gaffney zu verstehen, ich solle akzeptieren, dass man das einfach nicht wisse.

Die besten heute existierenden Karten wurden Ende der 1990er-Jahre von der britischen Archäologin Bryony Coles in Exeter erstellt. Sie legte ihnen in erster Linie die aktuellsten Höhenmessungen vom Meeresboden zugrunde. Damals hatte die Forschung gerade erkannt, dass der Meeresspiegel seit der kältesten Periode der Eiszeit vor 20.000 Jahren um ungefähr 120 Meter angestiegen war. Alle Flächen des Meeresbodens, die in geringerer Tiefe als 120 Meter liegen, müssten früher einmal trockenes Land gewesen sein. Wo das Meer noch deutlich flacher ist, wie zum Beispiel auf der Doggerbank, müssten eigentlich damals hohe Berge gelegen haben. Doch ganz so einfach ist es nicht. Die großen Flüsse, die durch Doggerland flossen, führten Sedimente mit, die sich im Laufe der Jahrtausende ablagerten. Sowohl der Umfang als auch die Höhe der Landmasse veränderten sich dadurch. Deshalb sind Bryony Coles Karten nur Abbilder von wohlbegründeten Annahmen, aber nicht von gesicherten Fakten.

Pollenanalysen von Bohrkernen aus an Doggerland angrenzenden Gebieten zeigen, wie sich die Pflanzenwelt verändert hat. Während der kältesten Perioden der Eiszeit herrschte hier eine trockene Tundra vor. Anders als Skandinavien war Doggerland vermutlich nicht von dickem Inlandeis bedeckt. Vincent Gaffney glaubt, dass kleine Gruppen der Eiszeitjäger dieses Gebiet auch während der kältesten Perioden aufsuchten. Darauf deutet eine Feuersteinspitze hin, die durch Zufall bei einer Bohrung im Meeresboden in der Nähe der Vikingbank gefunden wurde.

Am Ende der Eiszeit stieg der Meeresspiegel an und die Fläche von Doggerland schrumpfte, wobei die Gebiete, die nicht überflutet waren, umso fruchtbarer wurden. Wälder aus kleinen Birken und Weiden entstanden, später kamen Kiefer und Hasel hinzu und schließlich Edellaubhölzer wie Ulme, Linde und Eiche.

Vincent Gaffney hofft jetzt, dass ihm Gelder für weitere Forschungen bewilligt werden. Er möchte dort, wo er ehemalige menschliche Ansiedlungen vermutet, mit umfangreichen Bohrungen beginnen, vor allem entlang der Flüsse und an ihren Mündungen und nicht zuletzt rund um den großen See Silver Pit (Silbergrube).

Vereinzelte Bohrungen hat er bereits durchgeführt. Die DNA von Funden aus einer Siedlung in der Nähe der Isle of Wight hat er mittels einer neuen Methode untersucht, bei der der Bohrkern als Ganzes analysiert wird und man erst im Anschluss daran mithilfe von Computern zu entschlüsseln versucht, von welchen Organismen die Spuren in der Probe stammen. Auf diese Weise kann man Detailinformationen über die Ernährung der Menschen der betreffenden Siedlung gewinnen. Verschiedene Pflanzen- und Tierarten – alles manifestiert sich in der DNA-Probe.

Vincent Gaffney ist davon überzeugt, dass Doggerland ein Kernland der Jägerkulturen war, die nach dem Ende der Eiszeit in Nordwesteuropa lebten. Hier befanden sich die besten Jagdgebiete und Fischgründe. England und Schottland wiederum waren zu jener Zeit karge, unzugängliche Gebirgsgegenden, wo es nicht viel zu holen gab. Vielleicht haben sich die Einwohner von Doggerland dennoch zeitweise dort aufgehalten, um zu jagen.

Wahrscheinlich nutzten diese Menschen auch das heutige Südschweden gelegentlich als Jagdgebiet. Vor 14.000 Jahren waren große Teile Schwedens noch von Eis bedeckt und nur der äußerste Süden und die Westküste waren eisfrei. Dorthin kamen gelegentlich Besucher. Um hierherzugelangen, brauchten sie lediglich einige Flüsse zu überqueren. Zeitweise konnten sie sogar trockenen Fußes von Doggerland aus das heutige Schonen erreichen.


Die allerersten Besucher Schwedens waren wahrscheinlich ein paar abenteuerlustige Jugendliche, die vor ungefähr 14.000 Jahren lebten. Sie gehörten der sogenannten Hamburger Kultur an, einer nach der Stadt Hamburg benannten Rentierjägerkultur, deren Angehörige ihrer Jagdbeute über weite Strecken folgten. Doggerland war eines ihrer Kerngebiete, doch erstreckte sich die Hamburger Kultur vom heutigen Belgien im Westen über Dänemark und Norddeutschland bis nach Polen im Osten.

Um vom heutigen Dänemark nach Schweden zu gelangen, mussten die wagemutigen jungen Rentierjäger breite, reißende Stromschnellen überqueren. Diese Überfahrt im Paddelboot muss sehr gefahrvoll gewesen sein, besonders an der schmalsten Stelle zwischen den heutigen Städten Helsingør und Helsingborg. Östlich davon lag der große Baltische Eisstausee, der durch Schmelzwasser des Inlandeises entstanden war. Er lag deutlich über dem Meeresspiegel an der Westküste, weshalb das Wasser mit großer Kraft durch den Öresund ausströmte. Vermutlich war es für die Jugendlichen sicherer, die Querung etwas weiter nördlich zu wählen und dann in der schwedischen Provinz Halland an Land zu gehen.

Im Winter könnten sie auch über das Eis gegangen sein, was ebenfalls gefährlich war. Sie mussten unablässig mit ihren Speeren auf die Eisdecke schlagen, um zu prüfen, wie dick und stabil sie war.

Es war aber wohl der Mühe wert, denn sowohl Rentiere als auch Pferde fühlten sich im Sommer am Rand des großen Gletschers wohl, ebenso wie die begehrtesten Pelztiere, der Vielfraß und die weißen Füchse. Darüber hinaus bedeutete eine Reise in neue, unbekannte Länder auch einen Prestigegewinn, wie die Archäologen vermuten.

Die unternehmungslustigen Jugendlichen besuchten das Land mehrmals, um zu jagen, blieben aber nie länger dort.

Tausende Jahre später (das Land jenseits des Sunds heißt schon seit mehreren Hundert Jahren Schweden) werden ab und zu einzelne Pfeilspitzen aus Feuerstein entdeckt, die die ersten Besucher hier zurückgelassen haben.


Für kurze Zeit, vielleicht dreihundert Jahre lang, bestand vermutlich eine Landbrücke zwischen Dänemark und Schweden. Damals war das Klima wieder ein wenig milder geworden. Die Hamburger Kultur der Rentierjäger aus der Tundra wurde von der mehr auf die Jagd auf Hirsche, Elche und andere Tiere des Birkenwaldes spezialisierten sogenannten Bromme-Kultur abgelöst. Alles deutet darauf hin, dass es sich hierbei weitgehend um dieselbe Menschengruppe handelte, die nur ihre Kultur ein wenig anpasste, als das Klima sich erwärmte, die Wälder wuchsen und die Tierwelt sich veränderte. Der Öresund scheint vor ungefähr 13.000 Jahren trockengefallen und daraufhin von Rentieren, Hirschen, Bären, Bibern und Menschen durchquert worden zu sein. Angehörige der Bromme-Kultur hielten sich mehrere Generationen lang in Schonen auf.

Dann wurde der Öresund abermals überflutet. Die Strömungsverhältnisse im Atlantik änderten sich neuerlich und die Kälte schlug wieder zu. Nordwesteuropa erlebte einen Kälterückfall, der als Jüngere Dryaszeit bezeichnet wird. Der Birkenwald verschwand und an seine Stelle traten Tundra, Flechten und die weiße Silberwurz. Der Kälteeinbruch dauerte gut tausend Jahre und die meiste Zeit war es im heutigen Schweden so kalt, dass das Land kaum bewohnbar war. Erst gegen Ende der Jüngeren Dryaszeit, als es milder wurde, besuchten wieder einzelne Rentierjäger vom europäischen Kontinent die Gegend. Vermutlich kamen sie in Kanus von Dänemark herüber.

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