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NEANDERTALER IN LEIPZIG

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DIE MEISTEN VON UNS HABEN EINIGE TROLLJUNGE unter ihren Ahnen. Ein kleiner Teil unseres Erbguts stammt von „Den Anderen“, die wir heute Neandertaler nennen.

Bei Menschen, die wie ich aus Europa stammen, betrifft das knapp zwei Prozent der gesamten DNA. Das ist ein Verhältnis, als ob ein Neandertaler der Großvater meiner Ur-Ur-Großmutter wäre. Ein Trolljunges, das einen Neandertaler als Vater hat, könnte dann der Vater meiner Ur-Ur-Großmutter sein.

So verhält es sich natürlich nicht. Der Großvater meiner Ur-Ur-Großmutter lebte im 19. Jahrhundert. Die Kreuzung zwischen Neandertalern und modernen Menschen geschah aber sehr viel früher, vor ungefähr 54.000 Jahren.

Doch die Erbanlagen haben sich über die Jahrtausende erhalten. Das hängt damit zusammen, dass die Bevölkerung damals sehr klein war. Dadurch konnten einige wenige Kreuzungen mit Neandertalern so große Auswirkungen bekommen. Außerdem waren einige der Erbanlagen der Neandertaler recht nützlich. Sie erhöhten die Chancen, zu überleben und wiederum eigene Kinder zu bekommen.

Unser sexueller Austausch mit den Neandertalern muss im Nahen Osten stattgefunden haben – einem Korridor, den alle Menschen auf ihrem Weg von Afrika in andere Teile der Welt durchquerten. Es kann sehr gut in Galiläa passiert sein, denn archäologische Funde belegen, dass moderne Menschen und Neandertaler dort zur gleichen Zeit lebten. Oder es ist ein wenig weiter nördlich geschehen, zum Beispiel im heutigen Libanon.

Die Neandertaler waren die Ersten in diesem Gebiet. Ihre Vorfahren waren mehrere Tausend Jahre vor uns aus Afrika ausgewandert. Spuren der Neandertaler finden sich von Spanien im Westen bis nach Sibirien im Osten. Einer der ersten Funde wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Neandertal in Deutschland gemacht, daher der Name „Neandertaler“.

Seit dem Fund im Neandertal und bis vor wenigen Jahrzehnten betrachteten die meisten Forscher die heutigen Europäer als eine Art Enkel der Neandertaler. Man nahm an, dass wir uns hier über lange Zeit von anderen Völkern isoliert entwickelt und dadurch ein typisch europäisches Aussehen mit heller Haut und glatten Haaren herausgebildet hatten. Menschen in Afrika und Asien hätten demzufolge ihre eigenen Entwicklungsgeschichten; Asiaten sollten beispielsweise auf andere Urmenschen wie den Pekingmenschen und den Javamenschen zurückgehen.

Diese Annahmen werden die „Multiregionale Hypothese“ genannt und sie sind größtenteils falsch. Dennoch enthalten sie einige Körnchen Wahrheit. Die neue DNA-Technik hat diese Körnchen sichtbar gemacht.

Mehr als jeder andere hat der in Schweden geborene Svante Pääbo durch die Untersuchung alter DNA zur Erforschung der frühen Geschichte des Menschen beigetragen.

Heute ist er einer der bekanntesten Forscher der Welt und leitet die Abteilung für Evolutionäre Genetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die er selbst mit begründet hat.

Während der Arbeit an diesem Buch besuche ich das Institut zweimal. Es liegt in einem großen, eigens hierfür errichteten Gebäude, durch dessen Glaswände Licht hereinflutet. In einem Atrium glitzert Wasser in einem von Grünpflanzen umgebenen Teich. Die Kletterwand im Eingangsbereich wurde nach Anweisungen von Svante Pääbo errichtet und erstreckt sich über alle vier Geschosse. Junge Forscher trainieren an dieser Wand, bevor sie zu Feldstudien nach Afrika reisen, um in Baumkronen lebende Affen zu beobachten. Neben der Kletterwand steht ein Flügel, den der Chor zum Üben nutzt. All das deutet schon den besonderen Charakter des Instituts an. Die Wissenschaftler arbeiten in verschiedenen Forschungsgebieten wie Psychologie, Paläontologie und Linguistik, um zu verstehen, wie wir uns zu den Menschen entwickelt haben, die wir heute sind. Die hauptsächlichen Forschungszweige des Instituts sind jedoch die Molekularbiologie und die DNA-Forschung.

Das Labor für die Gewinnung alter DNA liegt im Keller, damit keine unerwünschten Verunreinigungen eindringen können. Hier unten arbeiten Svante Pääbo und seine jungen Kollegen an der Weiterentwicklung der Technik. Mittlerweile haben sie zahlreiche Konkurrenten in verschiedenen Ländern, aber die Gruppe in Leipzig ist immer noch führend in der Welt. In der Woche, in der ich das Institut zum zweiten Mal besuche, veröffentlichen sie gerade eine Studie über die DNA eines ungefähr 400.000 Jahre alten Urmenschen in Spanien, der somit aus einer Zeit stammt, in der sich der Neandertaler noch gar nicht entwickelt hatte.

Svante Pääbo arbeitet im Bereich der Spitzenforschung, die Technik und Wissenschaft vorantreibt. Berühmt gemacht haben ihn jedoch die Neandertaler, und dank seiner immer höher aufgelösten Analysen der Neandertaler-DNA ist er auch einem breiten Publikum bekannt geworden.

Als ich sein Büro betrete, empfängt mich als Erstes das Skelett eines Neandertalers, das zwischen Schreibtisch und Sitzgruppe eingezwängt ist. Es besteht aus Nachbildungen verschiedener Knochen, die bei Ausgrabungen gefunden wurden. Der Neandertaler ist klein und von kräftigem Körperbau. Svante Pääbo dagegen ist groß und schlank und hat ein längliches Gesicht.

Zeitungen in aller Welt berichteten seitenweise sowohl über seine Forschung als auch über seinen ungewöhnlichen familiären Hintergrund als heimlicher außerehelicher Sohn von Sune Bergström, Nobelpreisträger und Rektor des Karolinska-Instituts. In seiner interessanten Autobiografie Der Neandertaler und wir hebt Svante Pääbo vor allem die Rolle seiner aus Estland geflohenen Mutter, der Lebensmittelchemikerin Karin Pääbo, hervor. Als er dreizehn Jahre alt war, nahm sie ihn auf eine Reise nach Ägypten mit, wo er von den Mumien fasziniert war. So kündigte sich seine Karriere als Forscher an.

Svante Pääbo wuchs in dem Stockholmer Vorort Bagarmossen auf, lernte Russisch in der Dolmetscherschule des Militärs (einer der schwierigsten Ausbildungsgänge der Streitkräfte) und studierte Ägyptologie und Koptisch an der Universität Uppsala. Nach ein paar Jahren wechselte er von der Ägyptologie zur Medizin und begann nach vier Jahren Medizinstudium in der Zellbiologie zu forschen.

Seine Arbeit bestand in der Erforschung eines Virusproteins. Daneben versuchte er heimlich, DNA von tausendjährigen Mumien zu isolieren. Sein Chef ahnte nichts davon, bis Svante Pääbo seinen ersten wissenschaftlichen Artikel veröffentlichte. Er erschien in einer ostdeutschen Zeitschrift, weil Pääbo die ersten Mumien aus einem Museum in Ostberlin bekommen hatte.

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich bei dem, was Svante Pääbo für sensationelle Mumien-DNA gehalten hatte, wahrscheinlich überwiegend um Verunreinigungen durch heutige Menschen handelte. Doch die Idee war geboren: Er hatte bewiesen, dass DNA in mehrere Tausend Jahre altem Gewebe überleben kann.

Im Westen nahm niemand von dem ostdeutschen Artikel Notiz. Ein Jahr später veröffentlichte Pääbo jedoch einen Beitrag in der britischen Zeitschrift Nature, der großes Aufsehen erregte. Unter anderem erhielt Pääbo einen Brief von Allan Wilson von der Universität Berkeley in Kalifornien, der damals einer der führenden Spezialisten für Evolution und DNA war. Wilson bat darum, in „Professor Pääbos“ Labor arbeiten zu dürfen. Svante Pääbo war damals gerade dreißig Jahre alt geworden. Er hatte seine Doktorarbeit noch nicht abgeschlossen und es stand ihm selbstverständlich kein eigenes Labor zur Verfügung.

Stattdessen wurde vereinbart, dass Svante Pääbo in Allan Wilsons Labor in Kalifornien forschen durfte. Dort hatten Wilson und seine Mitarbeiter begonnen, DNA-Technik zu benutzen, um Licht ins Dunkel der menschlichen Frühgeschichte zu bringen.

1987 konnten sie die erste Studie veröffentlichen, die mithilfe der DNA-Technologie belegt, dass der Ursprung aller heute lebenden Menschen in Afrika liegt. Unsere gemeinsame Urahne war eine Frau, die vor ungefähr 200.000 Jahren in Afrika lebte und „mitochondriale Eva“ genannt wird. Der Name „Eva“ ist natürlich eine Anspielung auf die biblische Schöpfungsgeschichte. Mitochondrien sind spezielle Strukturen in Zellen, die kleine Mengen DNA enthalten. Anfangs stützten sich alle DNA-Analysen zum Ursprung der Menschheit ausschließlich auf mitochondriale DNA. Die ist nämlich weitaus leichter zu untersuchen als DNA aus dem Zellkern, da die meisten Zellen Tausende Mitochondrien enthalten, aber nur einen Zellkern. Allerdings kann man mit Mitochondrien-DNA ausschließlich Herkunftsnachweise in weiblicher Abstammungslinie führen, weil wir unsere Mitochondrien nur von unseren Müttern erben.

Schon 1987 war die Technik also ausgereift genug, um der mitochondrialen „Eva“ auf die Spur zu kommen, auch wenn die Arbeitsmethoden aus heutiger Perspektive äußerst umständlich anmuten. Die jungen Wissenschaftler in Allan Wilsons Labor besuchten Entbindungsstationen in Kalifornien und sammelten Mutterkuchen von Frauen aus unterschiedlichen Teilen der Welt ein. Mühevoll extrahierten sie daraus die DNA und berechneten die Resultate mit ihren primitiven Computern.

Linda Vigilant, die heute mit Svante Pääbo verheiratet ist, war Doktorandin bei Allan Wilson. Sie führte einige Jahre später eine Folgestudie zur mitochondrialen „Eva“ durch. Die Computer waren immer noch so leistungsschwach und langsam, dass die Berechnungen eine Woche dauerten. Aber die DNA-Technik hatte große Fortschritte gemacht. Ein kalifornischer Wissenschaftler hatte eine Kopiermethode entwickelt, die PCR genannt wird und einige Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Mithilfe dieser Kopiermethode konnten die Wissenschaftler nun statt der Mutterkuchen einzelne Haare als Arbeitsmaterial nutzen. Anthropologen in verschiedenen Erdteilen halfen bei der Beschaffung von Haaren aller möglichen Ethnien. Und die Ergebnisse der ersten Studie bestätigten sich: Vor ungefähr 200.000 Jahren lebte in Afrika eine Frau, von der alle heute lebenden Menschen abstammen. Sie ist unser aller gemeinsame Urahne.

Einige Jahre später, 1995, konnten amerikanische Wissenschaftler Erkenntnisse über das männliche Gegenstück der mitochondrialen „Eva“ veröffentlichen. Es wird „Adam des Y-Chromosoms“ genannt. Die verbesserte DNA-Technik und die immer leistungsfähigeren Computer hatten es ermöglicht, Y-Chromosomen von Männern aus verschiedenen Erdteilen zu vergleichen. Y-Chromosomen enthalten sehr viel mehr DNA als Mitochondrien und werden nur vom Vater auf den Sohn vererbt. Sie können also nur für Stammbäume in der direkten männlichen Linie verwendet werden. Die Ergebnisse zeigen, dass vor ungefähr 200.000 Jahren ein Mann lebte, der der Urahn aller heute lebenden Männer war. Auch dieser Adam des Y-Chromosoms lebte in Afrika.

Damit war die Sache klar. Die Multiregionale Hypothese war tot. Die Wiege des modernen Menschen stand in Afrika.

Die DNA-Technik verbesserte sich stetig. Nicht zuletzt von Svante Pääbo selbst wurden Schritt für Schritt Methoden entwickelt, mit denen man mehrere Tausend Jahre alte Proben analysieren kann. Bei der Untersuchung fossiler Tiere lernte er, die Proben sauber zu halten. Die Schwierigkeit bestand darin, Verunreinigungen durch Staub, alte Bakterien und durch die Berührung heutiger Menschen zu vermeiden.

Nach seiner Zeit in Kalifornien erhielt er einen Ruf als Professor an ein zoologisches Institut in München. Dort schärfte er seinen zwei Doktoranden ein, das Labor jede Nacht mit ultraviolettem Licht zu bestrahlen, sich jeden Morgen auf direktem Wege zu ihrem Speziallabor zu begeben, ohne andere Labors mit DNA-Proben zu durchqueren, sowie zahlreiche weitere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.

Im Sommer 1997 veröffentlichte Svante Pääbo eine DNA-Analyse des berühmtesten Neandertalers der Welt – eben jenes Skeletts, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Neandertal gefunden worden war und allen Neandertalern ihren Namen gegeben hatte. Dieses Mal waren die Resultate viel verlässlicher als die der alten Mumie zwölf Jahre zuvor.

Die Analyse basierte auf Mitochondrien-DNA und lieferte den eindeutigen Beweis, dass die Neandertaler nicht die Vorgänger der modernen Europäer gewesen sein können. Wir sind nicht ihre Urenkel, zumindest nicht in direkter mütterlicher Abstammungslinie. Unseren Verwandtschaftsgrad könnte man eher mit zwei Gruppen Cousinen vergleichen, die vor sehr viel längerer Zeit aus einem gemeinsamen Ursprung hervorgegangen sind.

Diese Studie erlangte weithin große Beachtung. Svante Pääbo wurde zum Stern am Wissenschaftshimmel, vor allem in Deutschland, wo die Neandertaler seit ihrer Entdeckung im 19. Jahrhundert einen ganz besonderen Status besaßen.

Leider muss ich zugeben, dass ich die Nachricht von dieser bahnbrechenden Studie verpasst habe. Nur wenige Monate vorher hatte ich als Wissenschaftsredakteurin bei der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter angefangen. Noch kannte ich nicht alle Zeitschriften, die ein Wissenschaftsredakteur im Blick haben muss, und ich stand auch nicht in den entsprechenden Verteilern, um Informationen aus erster Hand zu bekommen oder zu Pressekonferenzen eingeladen zu werden.

Doch traf ich Svante Pääbo einige Wochen später in Oslo bei einem Seminar über die neue Gentechnik und bei einem gemeinsamen Abendessen wurde mein Interesse für sein Forschungsgebiet ernsthaft geweckt. Seitdem habe ich ihn häufig interviewt, seine Vorträge besucht und in Dagens Nyheter berichtet, wenn seine Forschungsergebnisse in den führenden wissenschaftlichen Zeitschriften der Welt erschienen.

Nach den ersten Mitochondrienanalysen ging er dazu über, Kern-DNA zu untersuchen. Das ist wie gesagt deutlich komplizierter. Doch wenn es gelingt, erhält man ein sehr viel vollständigeres Bild, da die Mitochondrien nur einige Tausendstel Prozent unserer gesamten DNA enthalten und darüber hinaus nur in mütterlicher Linie vererbt werden können. Der Rest unserer DNA befindet sich im Zellkern, und diese DNA erben wir von beiden Elternteilen.

Die erste vorläufige Bestandsaufnahme der Kern-DNA, die Svante Pääbo und seine Kollegen 2009 veröffentlichten, bestätigte die Ergebnisse der ersten Mitochondrienanalysen – nämlich dass die Neandertaler nicht die Vorfahren des modernen Menschen sind, sondern eher so etwas wie unsere genetischen Cousins.

Doch dann tauchten neue Informationen auf. Verfeinerte Analysemethoden erbrachten unerwartete Ergebnisse. Selbst Svante Pääbo war überrascht. Im Mai 2010 veröffentlichten er und seine Mitarbeiter eine umfassende Untersuchung, die belegte, dass Neandertaler und moderne Menschen tatsächlich gemeinsame Kinder gezeugt haben. Ihre Erbanlagen leben in uns weiter. Die Neandertaler sind also nicht gänzlich ausgestorben.

Seitdem hat sich die Technik zur Analyse uralter DNA noch einmal weiterentwickelt und liefert uns heute ein so detailliertes Bild, als ob die Wissenschaftler dich und mich, die wir heute leben, untersucht hätten. Dabei sind sie zu folgenden Schlussfolgerungen gekommen:

Ja, die Neandertaler sind tatsächlich unsere Vorfahren, aber nur zu ungefähr zwei Prozent. Als wir anatomisch modernen Menschen von Afrika aus in die anderen Erdteile wanderten, kamen wir durch den Nahen Osten – unter anderem durch jenes Gebiet im heutigen Israel, das Galiläa heißt. Dort lebten damals bereits Neandertaler. Eine Zeit lang müssen wir neben ihnen in dieser Region gelebt haben. Bei mehreren Gelegenheiten hatten wir Sex miteinander, was zu Nachkommen führte, die selbst wieder gesunde Kinder bekommen konnten.

Heute lebende Menschen mit asiatischer, australischer oder amerikanischer Herkunft haben etwas mehr Neandertaler-DNA als Europäer, nämlich gut zwei Prozent, während ein durchschnittlicher Europäer nur knapp zwei Prozent besitzt. Das beruht vermutlich auf weiteren Kreuzungen von Neandertalern und modernen Menschen weiter östlich in Asien.

Die Menschen, die nach Osten wanderten, nach Asien, Neuguinea und Australien, scheinen sich außerdem mit einer anderen Art Urmenschen vermischt zu haben, den Denisova-Menschen. Bei modernen Menschen in Neuguinea beträgt der Anteil an Denisova-DNA in ihrem Erbgut bis zu sechs Prozent, während sich ein geringerer Prozentsatz auch in der chinesischen Bevölkerung nachweisen lässt.

Tatsächlich kann man das Erbe der Neandertaler auch bei heutigen Afrikanern nachweisen. Das betrifft sogar traditionelle Völker wie die Yoruba in Westafrika und die Mbuti in Kongo-Kinshasa. Bei ihnen handelt es sich jedoch um äußerst geringe Mengen, die sich dadurch erklären lassen, dass Europäer und Asiaten im Laufe der Geschichte auch wieder nach Afrika zurückgewandert sind.

Heute verkaufen kommerzielle Unternehmen DNA-Tests, die angeblich nachweisen können, wie viele Prozent Neandertaler- oder Denisova-DNA eine Person in ihrem Erbgut hat. Laut Svante Pääbo sind diese Tests jedoch unzuverlässig. Die Fehlerquote ist so hoch, dass die Resultate eigentlich nichts aussagen. Im Nachhinein bedauert er, dass seine eigene Forschergruppe sich keinen solchen Test hat patentieren lassen, denn das hätte ihnen ganz andere Möglichkeiten der Qualitätssicherung eröffnet.

Vermutlich war es für ein kleines Kind im Nahen Osten vor 54.000 Jahren von Vorteil, Erbanlagen eines Neandertalers zu besitzen. Diese Kinder könnten durchaus gesünder als andere gewesen sein und eine bessere Widerstandskraft gegen Infektionen besessen haben. Unsere Vorfahren, die aus Afrika in den Nahen Osten wanderten, gehörten einer kleinen Gruppe von höchstens ein paar Hundert Menschen an. Nachdem sie über mehrere Generationen nur innerhalb dieser Gruppe Kinder gezeugt hatten, war ihre Immunabwehr geschwächt. Inzucht hat negative Folgen für das Immunsystem, doch fremdes, frisches Blut kann dem entgegenwirken.

Der amerikanische Immunologe Peter Parham hat in unserem Immunsystem eine Gruppe von Genen gefunden, die ein Erbteil der Neandertaler zu sein scheinen. Solche Gene halfen vermutlich vor 54.000 Jahren dem Trolljungen und seinesgleichen zu überleben. Heute könnten die gleichen Gene für ein allzu effektives Immunsystem mit verantwortlich sein, das Amok läuft und das Risiko erhöht, an Autoimmunerkrankungen wie MS oder Diabetes Typ 1 zu erkranken.

Wissenschaftler haben zwei Neandertalergene gefunden, die die Fettverdauung beeinflussen. Das eine Gen erhöht bei uns heute das Risiko für Diabetes Typ 2. Diese Krankheit steht in einem engen Zusammenhang mit Übergewicht, einem verbreiteten gesundheitlichen Problem. Doch das war vor 54.000 Jahren ganz anders. Für die ersten modernen Europäer war es eher von Vorteil, wenn ihre Körper möglichst viel Fett aufnahmen. Das verringerte das Risiko zu verhungern.

Svante Pääbos Forschergruppe hat darüber hinaus eine Handvoll weiterer Gene gefunden, die anscheinend vom Neandertaler an den modernen Menschen vererbt wurden. Sie alle steuern einen Stoff, der Keratin heißt und in Haut und Haaren vorkommt. Sowohl Asiaten als auch Europäer scheinen Varianten solcher Keratingene von den Neandertalern geerbt zu haben, aber interessanterweise handelt es sich in Asien und Europa um unterschiedliche Gengruppen. Noch ist nicht geklärt, wie genau die Neandertalergene sich auf unser Haar und unsere Haut auswirken. Ich persönlich würde allerdings darauf wetten, dass glattes Haar zum Erbe der Neandertaler gehört.

Svante Pääbo möchte sich jedoch nur äußerst ungern an Spekulationen über das Aussehen von Haut und Haar der Neandertaler beteiligen. Mittlerweile haben andere DNA-Forscher genetische Tests entwickelt, die Anhaltspunkte für Haut-, Augen- und Haarfarbe liefern. Eine Gruppe spanischer Wissenschaftler will bei Neandertalern Gene für rotes Haar gefunden haben. Doch laut Svante Pääbo sind diese Tests noch viel zu unzuverlässig, als dass er solche Ergebnisse veröffentlichen würde. Während unseres Interviews versuche ich ihn mit dem Argument zu überzeugen, dass die Allgemeinheit sicher an Eigenschaften wie Augenfarbe, Haut- und Haarfarbe interessiert sei. Das würde uns ein lebendigeres Bild von unseren Begegnungen mit den Neandertalern vermitteln.

Doch Pääbo hält dieses Argument nicht für ausreichend. Dennoch verrät er mir etwas, das bisher nicht veröffentlicht wurde: Keiner der Neandertaler, die er selbst untersucht hat, scheint Gene für rotes Haar besessen zu haben. Der am detailliertesten beschriebene Neandertaler, der aus einer Höhle in Sibirien stammt, war vermutlich dunkelhaarig.

Lieber möchte Pääbo über die circa 87 Genvarianten sprechen, die fast alle modernen Menschen in sich tragen, die aber bisher noch bei keinem Neandertaler gefunden wurden. Das am besten untersuchte Gen heißt FOXP2.

In England lebt eine Familie, in der in mehreren Generationen Menschen unter schweren Sprachstörungen leiden. Sie alle besitzen einen Fehler auf genau diesem Gen, das ganz eindeutig das Sprachvermögen beeinflusst. Dieses Gen unterscheidet sich bei Mäusen und Schimpansen nur in einer einzigen Position, bei Schimpansen und Neandertalern in zwei Positionen. Neandertaler und moderne Menschen haben im Prinzip identische FOXP2-Gene. Dennoch gibt es einen kleinen Unterschied, wie Svante Pääbo und seine Mitarbeiter entdeckt haben. Er war schwer zu finden, da er weit vom eigentlichen Gen entfernt lokalisiert ist. Trotzdem scheint er für die Funktion des Gens wichtig zu sein.

Die Leipziger Wissenschaftler haben spezielle Versuchsmäuse mit der menschlichen Variante des FOXP2-Gens gezüchtet. Diese Mäuse piepsen anders als normale Mäuse. Außerdem haben sie ein besseres Gedächtnis. Der Unterschied betrifft einen besonderen Aspekt des Gedächtnisses, das Psychologen prozedurales Gedächtnis nennen und das auch wir nutzen, wenn wir zum Beispiel Fahrradfahren oder Tanzen lernen. Als Anfänger müssen wir jede einzelne Bewegung bewusst ausführen, doch nach einiger Zeit sind die Bewegungen uns „in Fleisch und Blut übergegangen“, oder vielleicht sollte man besser sagen „ins Kleinhirn“. Wir können sie ganz automatisch ausführen, ohne darüber nachzudenken. Genau wie wenn wir sprechen lernen.

Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass auch Neandertaler miteinander sprechen konnten – irgendwie. Allerdings nicht so wie wir.


Svante Pääbo versucht sich strikt an seine Forschungsergebnisse zu halten und Mutmaßungen zu vermeiden. Keinerlei Skrupel, über unsere Begegnungen mit Neandertalern zu spekulieren, hatte hingegen die amerikanische Schriftstellerin Jean M. Auel. Ihr Romanzyklus Die Kinder der Erde hat sich in vielen Millionen Exemplaren verkauft. Das erste Buch des Zyklus erschien 1980. Darin schildert Auel, wie das Waisenmädchen Ayla von einer fremden Art Menschen aufgenommen wird. Als Ayla heranwächst, wird sie mehrmals vom Sohn des Klanhäuptlings vergewaltigt. Sie gebiert einen Sohn, der also eine Kreuzung aus Neandertaler und modernem Menschen ist. Solch eine Kreuzung wird auch Hybride genannt.

Man könnte sagen, dass Jean M. Auel gerade in Bezug auf die Hybriden der DNA-Forschung um dreißig Jahre voraus war. Als sie das Buch schrieb, gab es keine gesicherten wissenschaftlichen Belege dafür, dass eine solche Kreuzung stattgefunden hatte. Was man hatte, waren einzelne Skelette, Knochen und Zähne, die von einigen Wissenschaftlern als Übergangsformen angesehen wurden.

Vieles andere in Jean M. Auels fantasievoller Erzählung ist eindeutig falsch. So stellt sie zum Beispiel die modernen Menschen unserer Art als blond und hellhäutig dar, die Neandertaler als dunkelhäutig. Zum Zeitpunkt unserer Begegnungen war es eher umgekehrt. Wir waren ja gerade erst aus Afrika ausgewandert, während sich die Neandertaler über mehrere Hunderttausend Jahre in Europa und Teilen Asiens entwickelt hatten. Helle Haut erhöht die Überlebenschancen in nördlichen Breiten.

Auels Beschreibungen der Zeichensprache der Neandertaler und ihres rigiden Gesellschaftssystems sind unterhaltsam und viele ihrer Interpretationen durchaus interessant. Sie hat sich ganz offensichtlich eingehend mit Archäologie, Anthropologie und Botanik beschäftigt. Doch darf man nicht vergessen, dass es sich hier um Romane handelt und nicht um Wissenschaft. Das meiste ist reine Fantasie.

Ein Grund dafür, dass die Bücher sich so ausgesprochen gut verkauft haben, nicht zuletzt an Teenager, sind die vielen Sexszenen in einigen der Bände. Sie sind detailliert und einfühlsam beschrieben, aber dennoch in einem verhältnismäßig unschuldigen Ton gehalten. Sex – aus freien Stücken – wird als „die Wonnen“ bezeichnet. Aber wo Auel Sexualakte zwischen der Heldin Ayla und dem Neandertaler beschreibt, hört das Vergnügen auf. Dort schildert sie eine Reihe brutaler Vergewaltigungen.

Freunde und Bekannte, denen ich in den letzten zwei Jahren von der Arbeit an meinem Buch erzählte, interessierten sich in erster Linie dafür, wie die sexuelle Beziehung eigentlich im Detail aussah.

Wer sich Mutmaßungen hingab, schlug meist Vergewaltigung vor. Auch ich neige zu dieser Annahme. Einige sind über diese Alternative jedoch entrüstet und empfinden sie als sehr provozierend. Manch einer ist der Meinung, man solle grundsätzlich nicht über Fragen spekulieren, auf die die Wissenschaft niemals eine eindeutige Antwort haben wird. Eine meiner engsten Freundinnen warf mir vor, ich hätte ein negatives Menschenbild. „Es könnte ja genauso gut so gewesen sein, dass sich ein Neandertalerjunge und ein modernes Mädchen ineinander verliebt haben“, sagte sie.

Oder wie eine junge Studentin zu ihrem Professor sagte: „Wenn sie zusammen Kinder haben wollten, müssen sie sich ja schon ziemlich lange gekannt haben.“ Wie so viele andere ging auch sie von ihrer eigenen Anschauung von Sex und Moral aus.

Der betreffende Professor heißt Jean-Jacques Hublin und ist Leiter der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Seiner Meinung nach waren die Begegnungen zwischen Neandertalern und modernen Menschen innerhalb von zwei Minuten vorbei. Er glaubt, dass sie aus Verzweiflung handelten.

Hublins Büro liegt ein Stockwerk tiefer als Svante Pääbos und auch dieser Raum wird von einem Neandertaler dominiert. Dieses Exemplar hat ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen: Es ist eine Büste aus weißem Gips, bei der alle Muskeln gewissenhaft rekonstruiert wurden. Die Büste wurde schon in den 1920er-Jahren auf der Grundlage des damaligen Kenntnisstandes hergestellt und stimmt in allen wesentlichen Punkten auch mit den neuesten Forschungsergebnissen überein.

Als ich mir das vorspringende Gesicht mit der breiten Nase anschaue, wird mir noch deutlicher bewusst, wie groß der Unterschied zwischen den Neandertalern und uns war. In meiner einleitenden Erzählung von der geschwängerten Frau in Galiläa habe ich die Neandertaler mit Trollen verglichen, wie sie in unseren Volkserzählungen vorkommen. Nicht, dass ich es für besonders wahrscheinlich halte, dass unsere Mythen über Trolle in vierzigtausend Jahre alten Beobachtungen wurzeln, doch wenn man sich eine Begegnung mit einem großen Troll vorstellt, wird das Bild besser fassbar. Die Neandertaler waren uns viel ähnlicher als heutige Schimpansen, dennoch war der Abstand zu ihnen groß.

„Ich glaube nicht, dass moderne Menschen und Neandertaler sich mochten, sondern dass sie einander mieden, wo sie konnten“, sagt Jean-Jacques Hublin.

Seine wissenschaftliche Disziplin, die Paläontologie, versucht mithilfe von fossilen Knochenfunden zu rekonstruieren, was vor Tausenden von Jahren geschah. Diese Disziplin hat zwangsläufig mit vielen Unwägbarkeiten zu kämpfen. Die führenden Paläontologen der Welt vertreten in der Frage, wie moderne Menschen und Neandertaler sich unterschieden und wie die Begegnungen zwischen den zwei Gruppen abliefen, teilweise divergierende Ansichten. Wo sich die Geister scheiden, halte ich mich an Jean-Jacques Hublin. Seine Stellung im Max-Planck-Institut verschafft ihm eine einzigartige Position. Dank seiner engen Zusammenarbeit mit DNA-Forschern, Affenforschern, Archäologen und Anthropologen kann er die Informationen aus den alten Knochen jederzeit auf den aktuellsten Stand bringen.

Die ältesten Funde sogenannter „anatomisch moderner Menschen“ außerhalb von Afrika wurden in Israel gemacht und sind bis zu 120.000 Jahre alt. Doch Hublin betont, dass diese frühen Menschen sich noch nicht so weit entwickelt hatten, dass sie uns glichen. Wahrscheinlich starben sie aus, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Erst vor ungefähr 55.000 Jahren folgte eine neue Auswanderungswelle aus Afrika (oder vielleicht von der arabischen Halbinsel). Dies waren fast schon moderne Menschen mit allem, was das für ihre Skelettform und ihre Fähigkeiten bedeutete. In der Manothöhle im Westen Galiläas haben israelische Wissenschaftler einen Schädel dieser Menschengruppe gefunden.

Als diese modernen Menschen aus Afrika auswanderten, trafen sie als Erstes auf Neandertaler. Deren Überreste wurden in der Amudhöhle in den Bergen oberhalb des Sees Genezareth gefunden, nur vierzig Kilometer östlich der Manothöhle.

Jean-Jacques Hublin unterstreicht, wie dünn bevölkert Europa und Asien zu jener Zeit waren. Nur wenige moderne Menschen wanderten ein, und die Neandertaler waren bereits vorher stark in Bedrängnis. Die beiden Gruppen werden sich nicht bei den Wasserläufen zum geselligen Beisammensein getroffen, sondern einander viel eher aus der Ferne beobachtet haben. In einigen Fällen kam es zu sexuellen Begegnungen. Einige wenige Bastarde wurden geboren. Bald darauf starben die Neandertaler aus, zuerst im Nahen Osten und später in Kaukasien, Sibirien und Europa.

Jean-Jacques Hublin ist fest davon überzeugt, dass unsere Ankunft der Grund dafür war. Mit überlegenen Jagdmethoden und unserer größeren Mobilität setzten wir uns gegen die Neandertaler durch. Vielleicht töteten wir sie aber auch einfach. Einige Forscher weisen auf andere denkbare Erklärungen hin, wie zum Beispiel dass wir mit Kälteperioden und Vulkanausbrüchen besser zurechtkamen, weil wir uns besser darauf verstanden, aus Fellen warme Bekleidung zu nähen. Hublin hält all diese Begründungen für vorgeschoben. Die Neandertaler hatten Eiszeiten und Kälteeinbrüche über Hundertausende von Jahren überlebt. Manchmal waren sie kräftig dezimiert worden, aber wenn das Klima sich erwärmte, erholten sie sich wieder. Bis wir kamen. Laut Jean-Jacques Hublin sind die alternativen Erklärungen nur entstanden, damit wir der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen müssen: Wir haben schlicht und einfach eine ganze Menschengruppe ausgerottet. Die Neandertaler hatten mehrere Hunderttausend Jahre lang in Europa und Asien gelebt, bis wir kamen und sie ablösten. (Als der Mensch später in Asien weiter nach Osten wanderte, kam es noch mindestens zweimal zu vergleichbaren Phänomenen. Bei unserem Auftauchen verschwanden sowohl der Denisova-Mensch als auch der zwergenhafte Flores-Mensch auf der indonesischen Insel Flores.)

Zwar waren die Neandertaler körperlich stärker als wir, doch waren wir ihnen auf anderen Gebieten überlegen. Vermutlich konnten wir besser sprechen, wovon unsere leicht abweichenden FOXP2-Gene zeugen. Die Sprache erleichterte uns die Unterhaltung größerer Netzwerke mit stabileren Verbindungen. Funde von Schneckenhäusern und seltenen Steinen belegen, dass moderne Menschen Netzwerke besaßen, die sich über fünfhundert Kilometer erstreckten, während die Neandertaler Gegenstände nur über deutlich kürzere Entfernungen austauschten.

Einzelfunde deuten darauf hin, dass Neandertaler ihre Toten begruben. Doch auch Schimpansen decken manchmal ihre Toten mit Zweigen und Ästen zu. Dass die Neandertaler Blumen in die Gräber gelegt haben sollen – eine These, die aufgrund eines Fundes im Irak aufgestellt wurde –, ist höchst umstritten. Demgegenüber gibt es zahlreiche Funde, die klar belegen, dass moderne Menschen ihre Toten sorgfältig begruben und ihnen Grabbeigaben mitgaben.

Ein großer und deutlicher Unterschied zu den Neandertalern besteht darin, dass moderne Menschen Musikinstrumente verwendeten und gegenständliche Kunstwerke herstellten. Zwar gibt es einige einfache Strichmuster, die von Neandertalern in Spanien geritzt worden sein könnten und sogar von noch früheren Urmenschen auf Java, doch Kunst, die Tiere, Menschen und Fantasiefiguren darstellt, entstand erst mit uns modernen Menschen.

Die ältesten Beispiele von Musikinstrumenten und gegenständlicher Kunst in der Welt sind in Europa gefunden worden. Tatsache ist, dass meine eigenen Verwandten – in direkter mütterlicher Abstammungslinie – dabei waren, als musizierende, künstlerische, anatomisch moderne Menschen Europa erstmals kolonisierten. Das verrät uns die DNA-Technik.


Ein Jahr nach meiner ersten Begegnung mit Svante Pääbo unternahm ich eine Reportagereise nach Island und besuchte das Unternehmen Decode in Reykjavík. Dort interviewte ich Kári Stefánsson, einen weiteren Pionier der DNA-Forschung. Er baute gerade das Genforschungsunternehmen Decode auf, das hier unter besonderen Bedingungen arbeitet: Zum einen ist Island eine Insel, auf der die Menschen immer relativ isoliert gelebt haben. Zum anderen sind viele Isländer an Familienforschung interessiert. Einige können ihre Abstammung bis in das 9. Jahrhundert zurückverfolgen, als die Insel erstmals besiedelt wurde.

Kári Stefánsson war damals ein großer, blonder und auffallend gut aussehender Mann in den Fünfzigern. Ihn zu interviewen war etwas Besonderes, wie auch andere Journalisten bestätigen. Seine Masche ist es, sich anfangs besonders unverschämt zu verhalten. Wenn er dann den Eindruck gewinnt, dass der Journalist seinen Anforderungen entspricht, wechselt er die Strategie und wird freundlich und offenherzig.

Glücklicherweise bestand ich seinen Test. Lange saß ich mit ihm in seinem Büro und betrachtete das kunstvolle Seestück an der Wand, während er mir seine Vorhaben erläuterte. Er demonstrierte mir sein neues Computerprogramm, dem sämtliche Angaben aus den isländischen Kirchenbüchern zugrunde lagen, die einige Frauen für ihn erfasst hatten. Man musste nur ein paar Tasten drücken und schon konnte man beobachten, wie der eigene Stammbaum über Hunderte von Jahren auf dem Bildschirm entstand, und seine eigene Position im Verhältnis zu den anderen isländischen Familien ermitteln. Beim heutigen Stand der Technik klingt das vielleicht trivial, aber im Jahr 1998 war solch ein Programm eine Sensation.

Decodes Forscher glichen die Angaben aus den Stammbäumen mit DNA-Analysen zahlreicher Isländer ab.

Zu diesem Zeitpunkt tobte auf Island eine heftige Debatte darüber, welche ethischen und gesetzlichen Regeln hierfür gelten sollten. Unter anderem wurde diskutiert, in welchem Umfang das Unternehmen Decode Zugriff auf biologisches Material aus dem Gesundheitswesen erhalten sollte. Allmählich glätteten sich die Wogen und Decode wurden weitgehende Rechte eingeräumt. Gleichzeitig wurde jedoch auch gesetzliche Regelungen geschaffen, die die ethischen Grenzen festlegten. Verglichen mit den eher wild westähnlichen Verhältnissen, die vor den Zeiten der Genforschung in den 1980er- und 1990er-Jahren herrschten, sind heute die ethischen Vorgaben in den meisten Ländern generell strenger.

Seit der Unternehmensgründung haben Kári Stefánsson und die Wissenschaftler bei Decode große Mengen an Forschungsergebnissen vorgelegt, in erster Linie zu verschiedenen Genvarianten, die das Risiko für bestimmte Krankheiten verringern oder erhöhen.

Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ist ihre Arbeit eine einzige Erfolgsgeschichte. Beinahe monatlich veröffentlichen sie Artikel in den anerkanntesten medizinischen Zeitschriften. Aus wirtschaftlicher Perspektive sieht es allerdings schlechter aus. Decode war als gewinnorientiertes Unternehmen angetreten, doch ein Gewinn konnte nie erwirtschaftet werden. 2009 ging das Unternehmen in Konkurs und wurde von Interessenten aus der Biotechnologiebranche in den USA übernommen.

Schon vorher hatte Decode mit dem Verkauf von Gentests an Privatpersonen über das Internet begonnen, um zusätzliche Einkünfte zu generieren. Ich habe so einen Test gekauft, zu der damaligen Zeit der umfangreichste, den eine Privatperson erwerben konnte. Er erfasste eine Million „Punkte“ auf meiner DNA und kostete circa 15.000 schwedische Kronen. Ich investierte so viel Geld, weil ich für eines meiner Bücher recherchierte, das 2011 erschienen ist. Ich wollte wissen, wie ich auf Informationen über mein persönliches Risiko für bestimmte Erkrankungen reagieren würde.

Tatsächlich ließen mich die Nachrichten über meine Gesundheit weitgehend unberührt. Ich hatte ein leicht erhöhtes Risiko hier und ein etwas niedrigeres Risiko dort. So habe ich zum Beispiel ein leicht erhöhtes Risiko, an bestimmten Krebsarten zu erkranken, unter anderem an Hautkrebs, was ich mir angesichts meiner blonden Haare und sehr hellen Haut ja auch schon selbst denken konnte.

Außerdem erfuhr ich, dass ich die Fähigkeit habe, Milchzucker zu spalten, und deshalb Frischmilch trinken kann – was bei Nordeuropäern häufig vorkommt, aber im Rest der Welt ungewöhnlich ist. Das war keine Überraschung. Dass ich Milch vertrage, wusste ich schon lange.

Ein ganz anderer Punkt jedoch, mit dem ich nie gerechnet hätte, faszinierte mich viel mehr. Ich erfuhr, dass ich der Haplogruppe U5 angehöre.

Die Techniker von Decode hatten also den Teil meiner DNA untersucht, der aus den Mitochondrien stammt – diesen kleinen Strukturen in den Zellen, die man nur von seiner Mutter erbt und die überwiegend unverändert über viele Generationen von der Mutter an das Kind weitergegeben werden. Manchmal erfährt die mitochondriale DNA kleine Veränderungen – Mutationen –, weshalb sie bei verschiedenen Menschen etwas unterschiedlich aussieht. Diese Variationen können in Stammbäumen sortiert werden. Eine Haplogruppe entspricht einem bestimmten Zweig des Stammbaums, der eine gemeinsame Basis hat. Das bedeutet, dass alle Äste und Zweige oberhalb dieser Basis eine gemeinsame Vorfahrin haben.

Auf diese Weise konnten Forscher schon in den 1980er-Jahren die gesamte Menschheit in mütterlicher Abstammungslinie bis zu unser aller Urmutter „Eva“ zurückverfolgen, die vor vielleicht 200.000 Jahren in Afrika lebte.

Ich erfuhr jetzt, dass ich von denjenigen der „Töchter Evas“ abstammte, die U5 genannt werden. Man könnte auch sagen, ich sei eine der Töchter „Ursulas“, denn manchmal wird die Gruppe U5 „Ursula“ genannt. Der Name stammt aus einem Buch, das der britische Genetiker Bryan Sykes im Jahr 2001 herausgegeben hat, um den damaligen Stand der DNA-Forschung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Schon bei seinem Erscheinen wurde das Buch von anderen Forschern kritisiert. Seitdem hat die Forschung große Fortschritte gemacht, deshalb ist der Inhalt des Buches heute noch weniger gültig als damals. Ich verwende den Namen „Ursula“ dennoch, weil er mir einfach gefällt.

Was die Wissenschaftler zu meinen Ergebnissen von Decode sagen konnten, war, dass die für U5 typischen Mutationen schon in der frühen europäischen Jägerbevölkerung vorkamen. Die Frau, die wir Ursula nennen, war also eine eiszeitliche Jägerin und gehörte zu den ersten Menschen, die Europa besiedelten.

Zwei meiner Verwandten mit der gleichen mitochondrialen DNA hörten von meinen Ergebnissen. Sofort ließen sie ihren Vermutungen freien Lauf. „Ich bin schon immer gern gewandert“, sagte der eine. „Man merkt ja, dass wir von Jägern abstammen“, sagte der andere, der in seiner Freizeit viel jagt.

Ich erklärte ihnen, dass unsere Zugehörigkeit zur Gruppe U5 nur einen minimalen Einfluss auf unsere Eigenschaften hat – wenn überhaupt. Unsere Mitochondrien machen nur einige Tausendstel Prozent unserer DNA aus, und unsere Erbanlagen sind unzählige Male „verdünnt“ worden, seit unsere Ahnin „Ursula“ nach Europa einwanderte.

Es geht hierbei also eher um Gefühle. Wir können an unsere Mutter denken, unsere Großmutter, unsere Urgroßmutter, und uns dann weitere Tausend Generationen von Töchtern und Müttern vorstellen. In meinem Fall lande ich dann bei Menschen in der Eiszeit, die auf den ältesten bekannten Flöten der Welt spielten, die die berühmten Höhlenmalereien schufen, die die Nähnadel entwickelten und den Hund zähmten.

Ich beschloss, mich auf den Weg zu machen und mir vor Ort genauer anzusehen, wie meine Verwandten gelebt haben.

Meine europäische Familie

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