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1.3 »THEORIE UND REALITÄT«

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Die Philosophie ist in ihren Begriffen sicherlich von der gewöhnlichen Sprache und ihrer Veränderung abhängig. Was die Philosophie aber auszeichnet, ist ihre Methode, die darin besteht, Ungedachtes und Selbstverständliches des alltäglichen (oder wissenschaftlichen) Sprechens einer Reflexion zu unterziehen. Hierbei werden Wörter vielfach überhaupt erst zu gedachten Begriffen, und philosophische Begriffe werden zu Denkmodellen. Niemand denkt beim alltäglichen oder beim wissenschaftlichen Gebrauch mehr daran, daß Begriffe wie »Empirie«, »Realität« oder »Wirklichkeit« ursprünglich philosophische, genauer metaphysische Termini sind. Der antimetaphysische Gestus bei Carnap oder Popper im Namen von Logik und Empirie vergaß, daß die Ablehnung der Metaphysik selbst nur eine metaphysische Aussage ist. Wolfgang Stegmüller hat in seinen Vorlesungen darauf immer wieder hingewiesen. Daß der logische Empirismus der »Logik« einen überweltlichen Rang einräumt, ist nur ein dünner, gleichwohl sehr mächtiger Schatten des christlichen Gedankens, daß der Logos vor der Erschaffung der Welt existiere (wie es im Prolog des Johannes-Evangeliums heißt).

Denkmodelle entstammen dunklen Quellen; die Philosophie ist hierbei noch der hellste dieser dunklen Ursprünge. Denkmodelle werden unabhängig von »Tatsachen«, die sie ausdrücken, tradiert, wenn auch nicht ohne Bezug auf diese Tatsachen. Das Phlogiston, der fiktive Wärmestoff, wurde z.B. aus der Physik tatsächlich durch Erfahrungen und theoretische Erwägungen entfernt. Man darf also nicht aus der Einsicht in die Abhängigkeit der Begriffe von ihrer Herkunft in das andere Extrem verfallen und den Begriffen eine völlige Autonomie im Reich der Kommunikation zusprechen.

In dieses Extrem sind die Soziologie Luhmanns und einige Anhänger des radikalen Konstruktivismus verfallen. Auch wenn man, wie Donald Davidson schreibt, nicht genau sagen kann, wozu ein Denkmodell, ein Begriffsschema eigentlich relativ sein soll5, weil die Erfahrungsbasis schon begrifflich durchsetzt ist, so folgt daraus doch nicht, daß es nun nur noch so etwas wie »geschlossene Kommunikation« gibt. Luhmann verwendet dafür den für die Neurobiologie entwickelten Begriff der autopoietischen Systeme6 »Auto« heißt selbst, »poesis« heißt machen. Autopoietische Systeme sind geschlossene Systeme, sie sind vor allem kognitiv geschlossen. Es gibt in dieser Denkweise, wie auch im radikalen Konstruktivismus behauptet, gar keine »äußere Struktur«. Alle Erkenntnis sei Erfindung.

Dieser Gedanke ist zwar immer möglich, bleibt aber dennoch albern, wenn man – wie viele Vertreter des radikalen Konstruktivismus – ein Scheitern von Theorien zugesteht. Wenn es einen Unterschied zwischen erfolgreichen und gescheiterten Theorien gibt, dann ist exakt der Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern der Sinn von »äußere Realität«, der von den Anhängern dieser Theorie gerade bestritten wird.

Gleichwohl ist es kein Zufall, daß dieses Extrem, der Gedanke, alle Theorie sei nur Kommunikation, also ein Binnenphänomen des Sozialen, große Popularität erlangen konnte. Der Grund ist in einem wesentlichen Versäumnis der ältesten Sozialwissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft zu suchen. Die Wirtschaftswissenschaft verwendet in ihren Denkmodellen eine heimliche, verborgene Metaphysik der Wirklichkeit. Dieses verborgene Denkmodell – es ist, wie die nachfolgenden Kapitel zeigen werden, die klassische Physik – hat bis heute seine Kraft behalten.

Die menschliche Gesellschaft ist eine Fülle verbundener, offener Situationen. Es gibt in Situationen auch physische Gegenstände, physische Regeln und Gesetze. Aber es gibt keine Gesetze, die historische Situationen oder menschliche Situationen umfassen und verbinden. Der Grund ist die menschliche Freiheit und Kreativität. Menschen können Situationen völlig anders interpretieren und aus dieser Interpretation ganz anders wahrnehmen, handeln und entscheiden. Ein fallender Stein oder eine chemische Reaktion können das nicht. Weil Menschen frei und kreativ sind, gibt es keine historischen Gesetze. Poppers Kritik an der Formulierung historischer Gesetze ist nachdrücklich zuzustimmen, auch wenn er in seiner Wissenschaftstheorie hinter diese Einsicht zurückfällt und dort im Gegenteil einen Erkenntnisfortschritt behauptet. (Jede Fortschrittsthese ist ein historisches Gesetz, wenn auch ein sehr einfaches.)

Die Gleichsetzung von physischer und sozialer Realität, von den Physiokraten zuerst gelehrt, verkennt nahezu vollständig diese Besonderheit der menschlichen Gesellschaft. Wenn es in der Wirtschaft objektive Gesetze gibt, dann haben diese »Gesetze« einen anderen Charakter als in der Naturwissenschaft. Obgleich immer wieder Theoretiker sich dieser Erkenntnis genähert haben, bleibt die Ökonomie bis heute eine Theorie, die wirtschaftliche Wirklichkeit ebenso deutet wie physikalische Wirklichkeit. Das ist schon rein äußerlich daran erkennbar, daß dieselben Methoden verwendet werden: Die Mathematik und die statistischen Methoden zur Überprüfung von »ökonomischen Gesetzen« sind in Naturwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft identisch. Die Grundlage der induktiven Statistik ist aber die Wahrscheinlichkeitstheorie, der in den Wirtschaftswissenschaften, wie sich noch genauer zeigen wird (Teil 2), eine wesentliche Rolle zukommt.

Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie

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