Читать книгу Das Dorf: Der Golem (Band 5) - Karl Olsberg - Страница 4

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1. Heimweh

Die Sonne scheint friedlich auf das kleine Dorf, als Primo und sein bester Freund Kolle am Rand der Schlucht entlangschlendern.

„Weißt du noch, wie wir hier spazieren gegangen sind und uns darüber unterhalten haben, welchen Beruf du einmal ergreifen wirst?“, fragt Kolle. „Bevor der Fremde ins Dorf kam? Es kommt mir vor, als sei das eine Ewigkeit her! Dabei sind es erst ein paar Wochen.“

„Ja, das ist wirklich kaum zu glauben. Wenn man überlegt, was wir alles erlebt haben ... wo wir überall gewesen sind ...“ Er seufzt.

„Du klingst, als wärst du irgendwie unzufrieden.“

„Unzufrieden? Ich? Wie kommst du denn darauf? Alles ist super, ehrlich! Golina ist die tollste Freundin, die ich mir wünschen kann. Ich werde sie eines Tages heiraten und Kinder haben, und alles wird fantastisch! Wieso sollte ich unzufrieden sein?“

Jetzt ist es Kolle, der seufzt. „Ich beneide dich.“

Primo blickt ihn verwundert an. „Du? Aber warum denn? Du hast doch Margi! Bist du denn nicht genauso froh darüber, dass sie deine Freundin ist, wie ich über Golina?“

„Doch, aber ...“

„Aber was?“

„Ich weiß auch nicht genau. Margi ist irgendwie nicht richtig glücklich. Manchmal, wenn sie denkt, ich sehe es nicht, dann seufzt sie oder guckt traurig aus dem Fenster. Einmal hat sie sogar geweint. Aber als ich sie gefragt habe, was sie hat, hat sie nur gesagt, es sei nichts. Ich mache mir Sorgen, dass sie mich nicht liebt, aber sich nicht traut, es mir zu sagen.“

„Unsinn!“, sagt Primo, der noch vor kurzem Ähnliches mit Golina erlebt hat. Damals war das verflixte Ei schuld, das bei ihr schlimme Alpträume verursacht hatte. Doch seit Primo es zurück an seinen Ursprungsort, das Ende, gebracht hat, geht es seiner Freundin wieder gut.

„Vergiss nicht, dass sie ein Mädchen ist“, versucht er Kolle zu trösten. „Die sind nun mal ein bisschen seltsam.“

„Ja, schon, aber trotzdem“, sagt Kolle betrübt. „Wenn sie nicht richtig glücklich ist, dann kann ich es auch nicht sein.“ Er starrt verzweifelt in die Schlucht, als wolle er sich im nächsten Moment hineinstürzen. Gerade, als Primo ihn sicherheitshalber am Arm festhalten will, dreht er sich um und fragt: „Du und Golina, seid ihr denn immer vollkommen glücklich?“

Primo zögert einen Moment, bevor er antwortet: „Ja, klar, natürlich sind wir das!“

„Das klang jetzt aber nicht sehr überzeugend!“

Er weicht Kolles Blick aus. „Doch, ich liebe Golina über alles, und sie mich auch. Ehrlich!“

„Aber?“

„Nun ja, das mit Golina ist wirklich toll, aber ... ehrlich gesagt, mir fehlt etwas.“

„Was denn?“

„Weiß ich auch nicht so genau. Die letzten Tage hier waren sehr schön, aber auch ... ein bisschen langweilig. Mir fehlen Dau und Xoxo und die anderen Zombie-Pigmen. Mir fehlt das Kribbeln im Bauch, wenn man zum ersten Mal an einem unbekannten Ort voller Gefahren ist. Ich glaube, mir fehlt sogar Artrax ein bisschen.“

„Artrax? Der Enderman, der fast die Welt zerstört hätte? Der fehlt dir?“

„Na ja, nicht wirklich. Aber wenigstens hat er mir eine Aufgabe gegeben. Das Gefühl, etwas Bedeutendes zu tun, gebraucht zu werden. Doch seit wir ihn besiegt haben, ist hier im Dorf einfach nichts mehr los. Selbst Birta ist nicht mehr so gemein zu uns wie früher.“

„Und darüber bist du traurig?“

„Ach, ich weiß auch nicht. Ich fürchte, ich bin einfach nicht dazu geboren, hier im Dorf ein ruhiges, langweiliges Leben zu führen.“

„Du könntest dir mit Golina eine Hütte im Wald bauen, so wie Willert und Ruuna.“

„Das würde sie nie im Leben wollen! Außerdem wäre es dort wahrscheinlich noch langweiliger, so ganz allein.“

„Verstehe. Vielleicht ...“

Doch bevor Kolle seinen Gedanken aussprechen kann, ruft Golina aus dem Dorf herüber: „Wo bleibt ihr denn mit den Eiern? Der Kuchen wird nicht mehr rechtzeitig fertig, bevor Ruuna und Willert zu Besuch kommen!“

„Mist!“, ruft Primo aus. „Die Eier! Die haben wir ganz vergessen!“ Er blickt sich nach Hühnern um, doch es sind nirgendwo welche zu sehen.

„Auweia!“, meint Kolle. „Das gibt bestimmt Ärger!“

Er behält recht. Golina schimpft Primo aus, als die beiden mit leeren Händen zum Dorf zurückkehren: „Was habt ihr nur die ganze Zeit gemacht? Es kann doch nicht so schwierig sein, drei Eier zu sammeln!“

„Das ist es auch nicht, aber ...“ Fieberhaft sucht Primo nach einer Ausrede. „Aber gerade, als wir sie gefunden hatten, da sind sie mir in die Schlucht gefallen.“

„In die Schlucht?“, fragt Golina. „Wie denn das?“

„Na ja, ich bin gestolpert, und da sind sie mir aus der Hand gerutscht. Tut mir leid.“

Golina stemmt die Arme in die Hüften. „Typisch Jungs! Ein Drachenei aus dem Nether holen, das kriegt ihr hin. Aber drei gewöhnliche Hühnereier sind zu viel verlangt!“

„Schon gut“, versucht Kolle sie zu beschwichtigen. „Wir gehen sofort los und suchen neue Eier!“

„Das will ich hoffen!“, erwidert Golina. „Und beeilt euch gefälligst!“

Rasch laufen die beiden auf die Wiese östlich des Dorfs, auf der ein paar Hühner gackernd herumlaufen. Während sie die Eier einsammeln, meint Kolle: „Golina kann ganz schön energisch sein!“

„Ja, das kann sie“, stimmt Primo zu. „Aber sie kann auch sehr lieb sein. Kommt drauf an, was für eine Laune sie hat.“

„Meinst du, Margis Traurigkeit ist auch bloß so eine Laune?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Ich hab eine Idee: Wie wär’s, wenn ich Golina frage? Sie ist doch eng mit Margi befreundet. Vielleicht weiß sie, was los ist.“

„Meinst du? Woher sollte sie es denn wissen?“

„Sie ist immerhin ein Mädchen und versteht besser als wir, wie andere Mädchen denken.“

„Na gut, wenn du meinst, dann frag sie.“

Endlich haben sie drei Hühnereier beisammen und laufen rasch zurück zum Haus von Golinas Eltern Bendo und Agia, das gegenüber dem von Primos Vater liegt. Golina und Margi rühren Getreide, Zucker, Milch und die Eier zu einem Teig zusammen, und kurz darauf steht eine Torte auf dem Tisch.

„Hm, die sieht aber lecker aus!“, sagt Ruuna, als sie kurz darauf mit Willert das Haus betritt. Primos Vater Porgo, der Schmied, und Kolles Eltern Nimrod, der Bibliothekar, und Delfina sind ebenfalls schon da, so dass es in dem Bauernhaus ziemlich eng ist.

„Hier, ich habe euch ein Geschenk mitgebracht!“ Die Hexe legt ein Blatt Papier und einige Pilze auf den Tisch. „Das ist mein supergeheimes Spezialrezept für Torte, und die nötigen Spezialzutaten. Ihr müsst nur noch Eier, Zucker, Milch und Mehl zugeben.“

„Äh, danke!“, sagt Golina, die sich offensichtlich noch gut daran erinnern kann, welche Wirkung Ruunas Torte bei ihrem letzten Besuch im Wald auf Primo hatte.

Der Kuchen schmeckt köstlich, und während sich die Freunde fröhlich über ihre überstandenen Abenteuer unterhalten, vergisst Primo, wie langweilig ihm sein Leben vorhin noch erschien.

„Wisst ihr noch, wie Magolus das Enderauge auf den Kopf gefallen ist?“, fragt Willert. Alle lachen.

„Und wie Kolle Birta einen Kinnhaken verpasst hat, so dass sie aufs Kirchendach geflogen ist?“, ruft Ruuna. Das Gelächter ist diesmal noch lauter, nur Kolle und Margi scheinen das nicht ganz so lustig zu finden. Da fällt Primo wieder ein, was er vorhin mit Kolle besprochen hat.

„Warum bist du eigentlich in letzter Zeit immer so traurig, Margi?“, platzt es aus ihm heraus.

Schlagartig wird es still im Raum. Margi wird rot, während Kolle aussieht, als sei er kurz davor, sich in einen Nachtwandler zu verwandeln.

„Entschuldigung“, versucht Primo die Lage zu retten. „Eigentlich wollte ich das ja heimlich Golina fragen, weil sie schließlich ein Mädchen ist und genauso seltsam wie Margi, und deshalb dachten Kolle und ich, sie versteht vielleicht ...“

„Soso, du findest mich also seltsam!“, sagt Golina. Ihrem Blick nach zu urteilen ist sie nicht besonders erfreut darüber.

„Ja ... das heißt nein, ich meine ...“, stammelt Primo.

„Du also auch?“, fragt Ruuna Margi.

Alle sehen überrascht die Hexe an.

„Was meinst du?“, fragt Willert erschrocken. „Bist du etwa auch manchmal traurig?“

„Natürlich bin ich das!“, sagt Ruuna unbekümmert. „Es ist doch ganz normal, dass man hin und wieder Heimweh hat!“

„Heimweh?“, fragt Kolle und dreht sich zu seiner Freundin um. „Stimmt das? Du hast Heimweh?“

Margi nickt. „Ja, manchmal.“

„Gefällt es dir denn nicht hier bei uns?“

„Doch, sehr sogar. Aber ... es ist hier immer so feucht, und manchmal auch recht kühl. Mir fehlt die Wüste. Es ist der schönste Ort der Welt!“

Das erscheint Primo, der sich noch gut an die Strapazen mehrerer Wüstendurchquerungen erinnert, etwas übertrieben, doch er ist klug genug, ihr nicht zu widersprechen.

„Und du, Ruuna?“, fragt Willert. „Sehnst du dich auch nach der Wüste?“

„Nö, Wüste find ich blöd“, erwidert Ruuna, die genau wie Margi aus dem Wüstendorf stammt. „Ich hab manchmal Heimweh nach dem Sumpf. Da roch es immer so gut, und es wuchsen dort die herrlichsten Giftpilze!“

„Wie wär’s, wenn ihr einen Ausflug in eure alte Heimat unternehmt?“, schlägt Kolles Vater Nimrod vor.

Ruunas Augen leuchten. „Au ja! Da könnte ich meine Vorräte an Zutaten für Zaubertränke auffrischen: Spinnenaugen, Sumpfpilze ... Hättest du Lust, Schatzi?“

Willert nickt. „Natürlich. Wenn es dir Freude macht.“

„Was meinst du, Kolle?“, fragt Margi. „Wollen wir die beiden ein Stück begleiten? Wir könnten ein oder zwei Nächte in meinem alten Haus wohnen, wenn Wumpus, unser Priester, nichts dagegen hat.“

Kolle lächelt. „Natürlich! Ich bin ja so froh, dass es nur Heimweh war, das dich so traurig gemacht hat! Ich dachte schon ...“

„Was dachtest du?“

„Dass du mich vielleicht nicht mehr magst.“

„Typisch Jungs!“, sagt Margi und gibt Kolle einen Kuss. „Glaubst du mir jetzt, dass ich dich immer noch mag?“

„Äh, ja“, sagt Kolle und läuft rot an.

„Was ist mit dir?“, fragt Primo Golina.

„Willst du etwa wissen, ob ich dich auch noch mag?“

„Äh, nein, aber ...“

„Aha! Du findest mich also seltsam, und es ist dir egal, ob ich dich noch mag!“

„Nein, nein, natürlich nicht! Ich dachte bloß ... ich wollte wissen, ob du ... ob wir Ruuna, Willert, Kolle und Margi begleiten wollen.“

„Was soll ich denn im Sumpf und in der Wüste?“

„Ich dachte, du hättest vielleicht auch Heimweh ... ich meine natürlich, Fernweh ...“

„Fernweh? Was soll das denn sein? Du redest manchmal wirklich Unsinn!“

Damit ist die Diskussion beendet. Gleich am nächsten Tag machen sich Kolle, Margi, Willert und Ruuna gemeinsam auf den Weg. Primo, Golina und Porgo begleiten sie bis zum Ostfluss und wünschen ihnen eine gute Reise. Als Primo die vier im Wald am anderen Flussufer verschwinden sieht, fühlt er eine dumpfe Traurigkeit in sich, eine tiefe Sehnsucht nach fernen Ländern und Abenteuern. Seufzend dreht er sich um und folgt seiner Freundin und seinem Vater zurück in das kleine Dorf am Rand der Schlucht, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat und das er wahrscheinlich nie wieder verlassen wird.

Das Dorf: Der Golem (Band 5)

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