Читать книгу Das Dorf: Der Golem (Band 5) - Karl Olsberg - Страница 5

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2. Hoher Besuch

Während der nächsten zwei Tage starrt Primo immer wieder sehnsuchtsvoll aus dem Fenster. Im Dorf ist es auch so schon langweilig, aber ohne Kolle ist es noch schlimmer. Wenn Golina fragt, was mit ihm los ist, seufzt er und behauptet, es sei nichts. Sie scheint ihm zu glauben.

Den dritten Tag über treibt sich Primo auf der Wiese östlich des Dorfs herum. Golina hat er erzählt, dass er Jarga dabei helfen will, die Schafe zu scheren. Die Schäferin macht ihm allerdings klar, dass sie auf seine Hilfe keinen Wert legt - schon gar nicht, wenn er dabei die ganze Zeit hinter ihren Schafen herläuft und immerzu „Bleib doch stehen, du dummes Vieh!“ brüllt.

In Wahrheit gibt es für Primo kaum etwas Langweiligeres, als Schafe zu scheren. Er sehnt sich nach seinem Freund und ist hier auf der Ostwiese, um nach ihm Ausschau zu halten. Doch als die Sonne untergeht, ist von Kolle, Margi, Ruuna und Willert nichts zu sehen. Als die ersten Unnghs der Nachtwandler erklingen, kehrt er missmutig zurück ins Dorf.

Am vierten Tag regnet es, so dass die Monster auch tagsüber die Gegend unsicher machen und die Dorfbewohner in ihren Häusern bleiben. Als seine Freunde abends immer noch nicht zurückgekehrt sind, macht sich Primo ernsthafte Sorgen.

„Ach was, denen wird schon nichts passiert sein“, sagt Golina unbekümmert. „Immerhin haben sie Kolle dabei, der unheimlich stark ist, und Ruuna, die zaubern kann, und Margi, die so viel weiß. Nicht zu vergessen Willert, der geschickt ist und sich mit Gefahren auskennt.“

Primo muss ihr recht geben, dass die vier wohl sehr gut auf sich selbst aufpassen können. Sie brauchen bestimmt keine Hilfe von jemandem wie ihm, der nur dazu taugt, Unsinn anzustellen und andere in Schwierigkeiten zu bringen. Trotzdem ist er nervös.

„Was, wenn ihnen doch etwas passiert ist? Was, wenn ihnen Artrax aufgelauert hat? Oder sie sind in eine Schlucht gefallen? Oder ein unbekanntes Monster ist ihnen begegnet?“

„Hör auf, dir Sorgen zu machen, mein Häschen!“, sagt Golina.

Primo verkneift sich eine Erwiderung. Er mag es nicht, wenn sie ihn so nennt, aber er traut sich nicht, es ihr zu sagen.

In der Nacht liegt er lange wach. Jedes Mal, wenn das Stöhnen eines Nachtwandlers erklingt, zuckt er zusammen. Was, wenn Artrax ausgerechnet jetzt einen Rachefeldzug gegen das Dorf unternimmt? Ohne die Hilfe von Kolle, Willert und Ruuna wären sie einem Angriff schutzlos ausgeliefert. Doch was immer Artrax auch plant, in dieser Nacht lässt er das kleine Dorf unbehelligt.

Primo ist trotzdem nicht beruhigt. Als auch am späten Nachmittag des nächsten Tages immer noch keine Anzeichen seiner Freunde zu sehen sind, sagt er zu seinem Vater, der gerade eine Hacke schmiedet: „Wir müssen sie suchen gehen!“

„Mach dir keine Sorgen“, erwidert Porgo. „Die vier können sehr gut auf sich selbst aufpassen.“

„Ja, das hat Golina auch gesagt. Aber trotzdem: Kolle sagte, sie bleiben zwei Tage, und jetzt sind sie schon seit fünf Tagen fort. Was, wenn sie unsere Hilfe brauchen?“

„Vergiss nicht, dass der Weg bis zu Ruunas Sumpf sehr weit ist. Und möglicherweise gefällt es ihnen so gut an ihren früheren Heimatorten, dass sie ein bisschen länger dort bleiben wollen.“

Das versetzt Primo einen Stich. „Meinst du ... sie bleiben vielleicht für immer dort?“

„Aber nein! Warum sollten sie? Kannst du dir einen schöneren Ort vorstellen als dieses Dorf?“

Auf jeden Fall kann sich Primo interessantere Orte vorstellen. Vielleicht hatten Margi und Ruuna ja Heimweh, weil sie es hier genauso langweilig finden wie er. Vielleicht ...

Ein Ruf erklingt von draußen: „Sie kommen zurück!“ Olum, der Fischer, der wie immer seine Angel am Fluss ausgeworfen hat, kommt ins Dorf gerannt. „Kolle, Margi, Ruuna und Willert kommen zurück!“

Primo stürmt aus dem Haus. „Endlich!“ Er rennt seinen Freunden entgegen, die gerade den Fluss durchqueren. „Wo seid ihr so lange gewesen?“

„Unterwegs“, erklärt Ruuna.

„Wir haben eine wichtige Nachricht“, sagt Margi. „Für Magolus.“

„Für Magolus?“, fragt Primo verblüfft.

„Nun ja, äh ...“ Margi wirkt ein wenig verlegen.

„Wir bekommen Besuch!“, erklärt Kolle.

„Was denn für Besuch?“, fragt Primo. Dann schlägt sein Herz vor Aufregung schneller. „Habt ihr etwa den Fremden getroffen? Kommt der Fremde zurück?“

„Nein, das nicht. Aber ich will nicht alles dreimal erklären. Lasst uns schnell das Dorf zusammentrommeln, bevor die Sonne untergeht.“

Kurz darauf sind alle vor der Kirche versammelt.

„Priester Wumpus aus dem Wüstendorf und eine Delegation werden uns besuchen kommen“, erklärt Kolle.

„Priester Wumpus? Wer soll das denn sein?“, fragt Magolus.

„Er ist der Priester aus dem Wüstendorf, das sagte ich doch schon. Er und einige Begleiter werden morgen hier eintreffen. Wir müssen alles für ihren Empfang vorbereiten!“

Gemurmel erhebt sich unter den Dorfbewohnern:

„Was wollen die denn hier?“

„Man sollte sein Heimatdorf niemals verlassen. Reisen ist ungesund!“

„Das Wüstendorf? Gibt’s das denn wirklich?“

„Klar gibt’s das wirklich. Wo, dachtest du, kommt Margi her? Aus dem Nether?“

„Ruhe!“, kommandiert Magolus. „Was genau ist denn der Anlass dieses Besuchs?“

Kolle druckst ein wenig herum. „Nun ja, äh, sie wollen sich selbst davon überzeugen.“

„Wovon?“

„Davon, dass hier alles viel besser ist als bei ihnen“, erklärt Ruuna. „Das wollten sie Margi nämlich nicht glauben!“

„Margi?“, fragt Primo verblüfft. „Sie hat den Wüstendorf-Bewohnern gesagt, dass hier bei uns alles viel besser ist?“

„Ja, das hat sie!“, sagt Kolle stolz.

„Nun ja, äh ... ich habe vielleicht ein wenig übertrieben“, meint seine Freundin. „Aber ich konnte doch nicht zulassen, dass Wumpus und die anderen sich über dieses Dorf lustig machen.“

„Sich lustig machen über unser Dorf?“, ruft Magolus empört. „Das ist ja wohl die Höhe!“

„Ich dachte, du hattest Heimweh nach der Wüste?“, fragt Primo.

„Hatte ich auch. Aber als wir dann da waren, fand ich es doch etwas trocken und heiß. Ich bin wohl nicht mehr daran gewöhnt.“

„Das musst du auch nicht sein“, sagt Kolle und nimmt sie in den Arm. „Gewöhne dich lieber an mich!“ Sie küssen sich.

„Der Sumpf ist auch nicht mehr das, was er früher mal war“, ergänzt Ruuna. „Ich hab ganz nasse Füße gekriegt!“

„Da siehst du’s!“, raunt Golina, die neben Primo steht, ihm zu. „Alle sind glücklich und zufrieden hier, nur du willst immer bloß weg!“

Primo erschrickt. Wie hat sie das bloß rausgekriegt?

„Na schön!“, ruft Magolus aus. „Dann werden wir den Leuten aus diesem Wüstenkaff mal ein richtiges Dorf zeigen! Wir werden ihnen ein Festmahl bereiten. Birta, du organisierst das.“

„Jawohl, Herr Priester!“

„Kaus, du wirst die Fremden im Dorf herumführen und ihnen alles zeigen.“

„Zeigen?“, fragt Kaus. „Was denn zeigen?“

„Na, die Häuser, die Kirche, den Brunnen, die Felder, die Kühe. Das Dorf eben. Und die Schlucht natürlich. Sowas haben sie bestimmt noch nicht gesehen.“

„Ach so. Na gut, mach ich.“

„Und wo sollen sie schlafen?“, fragt Golinas Mutter Agia.

„Schlafen?“, fragt Magolus. „Was denn, wollen die etwa über Nacht bleiben?“

„Natürlich bleiben sie über Nacht. Es ist ein weiter Weg bis zum Wüstendorf.“

„Kein Problem, sie können bei mir in der Schmiede übernachten“, sagt Porgo. „Primo und ich ziehen dann so lange zu Bendo und seiner Familie. Das ist dir doch recht, Bendo, oder?“

„Ja natürlich, gern.“

„Wie viele kommen denn eigentlich?“, fragt Porgo.

„Drei oder vier vermutlich“, erwidert Margi.

„Gut, das könnte etwas eng werden, aber es wird schon gehen.“

Aufgrund der Tatsache, dass bereits die Sonne untergeht, werden die Vorbereitungen für den Besuch auf den nächsten Tag verschoben. Primo will unbedingt noch mehr darüber wissen, was seine Freunde unterwegs erlebt haben. Er folgt Kolle und Margi zum Haus von Kolles Eltern. „Erzählt mal! Wie war’s? Habt ihr etwas Aufregendes gesehen?“

„Es war schrecklich!“, sagt Margi.

„Schrecklich? Wieso denn das? Magst du die Wüste denn gar nicht mehr?“

„Doch, die Wüste schon! Aber unser Dorf ... Die Bewohner haben mich behandelt, als sei ich eine Fremde. Und Kolle erst! Vor dem hatten sie richtig Angst.“

„Na ja, ich bin eben sauer geworden, als sie Margi nicht ins Dorf lassen wollten“, wirft Primos bester Freund ein, „und da bin ich wohl leicht grün angelaufen.“

„Jedenfalls hat Wumpus gesagt, wer das Wüstendorf verlässt, darf nie wiederkehren“, sagt Margi. „Denn man müsse verrückt sein, um nicht mehr im schönsten Dorf der Welt wohnen zu wollen, und Verrückten sei der Zutritt verboten. Die Regel haben sie aufgestellt, nachdem Ruuna zur Hexe geworden war.“

„Und dann? Seid ihr einfach wieder weggegangen?“

„Nein. Ich hab ihnen erklärt, dass ich überhaupt nicht verrückt bin, weil ich nicht mehr in ihrem Dorf leben will, denn das Dorf am Rand der Schlucht sei viel schöner. Das wollten sie nicht glauben. Sie haben mich gefragt, was denn an diesem Dorf so toll sein soll. Und, na ja, da hab ich eben ein klein wenig übertrieben.“

„Übertrieben?“, fragt Primo. „Inwiefern?“

„Ist doch egal“, mischt sich Kolle ein. „Sie kommen her, sehen, dass es hier weder besser noch schlechter ist als bei ihnen zuhause, und gehen wieder weg. Wer weiß, vielleicht werden ja bei der Gelegenheit neue Freundschaften geschlossen.“

„Wieso hat es eigentlich so lange gedauert, bis ihr zurückgekommen seid, wenn sie euch gar nicht ins Dorf gelassen haben?“

„Wir haben Ruuna und Willert zum Sumpf begleitet“, erzählt Kolle. „Sie hat ein paar Pilze und Kräuter gesammelt, wir haben in ihrer alten Hütte übernachtet und sind am nächsten Tag aufgebrochen. Aber dann, als wir schon fast am Ostfluss waren, ist ihr eingefallen, dass sie die Pilze, die sie am Tag zuvor gesammelt hatte, in ihrer Hütte vergessen hatte. Also haben wir im alten Tempel übernachtet und sind am nächsten Tag zurück zum Sumpf gelaufen.“

„Typisch Frau!“, kommentiert Primo. Als er Margis Blick bemerkt, verbessert er sich rasch: „Ich meinte, äh, Hexe. Typisch Hexe!“

Margi schüttelt bloß den Kopf.

„Als wir dann schließlich einen Tag später zum vierten Mal am Wüstendorf vorbeigekommen sind“, fährt Kolle fort, „ist Wumpus zu uns gekommen und hat uns aufgetragen, wir sollten hier im Dorf den Besuch einer ‚Delegation der höchsten Würdenträger und wichtigsten Bewohner des Wüstendorfs‘ ankündigen. Als ich ihn fragte, ob er denn überhaupt wisse, wie man zum Dorf an der Schlucht kommt, sagte er nein. Also hat Margi ihm eine Karte gemalt.“

„Und du glaubst, die finden den Weg hierher?“

„Na, das werden wir ja morgen sehen. Entweder sie kommen, oder sie kommen nicht. Wie dem auch sei, ich glaube, du solltest jetzt lieber nach Hause gehen, Primo. Die Sonne ist schon untergegangen.“

„Okay. Jedenfalls schön, dass ihr wieder da seid! Bis morgen!“

Als Primo schlafen geht, hat er gemischte Gefühle. Einerseits freut er sich, dass in dem kleinen Dorf endlich mal wieder was los ist. Andererseits hat er so eine Ahnung, dass dieser Besuch nicht ohne Folgen bleiben wird.

Das Dorf: Der Golem (Band 5)

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