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DAVOR Verliebt

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Es ging ganz schnell, das Verlieben in die Berglandwirtschaft. Und es war, wie das immer ist mit den besten Dingen im Leben: nicht geplant.

Im Frühling 2013 spendeten meine Freundin Kathrin und ich der Bergbauernhilfe Südtirol ein paar Urlaubstage und tauschten Büro gegen Stall. Ich war auf der Suche nach einer Möglichkeit, mal so richtig viel Zeit am Stück in den Bergen zu verbringen, viel länger als sonst im Wanderurlaub oder beim Bergsteigen. Dass ich der Berg- und nicht der Meertyp bin, war mir bereits klar. Selbst als ich mal für zwei Jahre in Hamburg mit Ost- und Nordsee praktisch vor der Haustür lebte, war ich kein einziges Mal am Timmendorfer Strand oder in Sankt Peter-Ording.

Zwei Optionen hatte ich mir überlegt: Ich könnte entweder für eine Saison auf eine Alp gehen und von Melken bis Misten auf Bäuerin umsatteln, oder ich könnte in einer Berghütte, so einer Art Alpenvereinshütte, anheuern. Mit dem Ausflug auf den Bergbauernhof in Südtirol wollte ich Option A austesten, wobei der Bergbauernhof zwar keine Alp, aber immerhin ein Bauernhof und immerhin in den Bergen war. Woher sollte ich wissen, ob ich überhaupt für die Landwirtschaft gemacht war? Berghütten hatte ich auf meinen Touren schon viele von innen gesehen. Aber einen Bauernhof, geschweige denn eine Alp, noch nie. Vielleicht würde mich das frühe Aufstehen nerven. Vielleicht hätte ich, im wahrsten Sinne des Wortes, bald vom Ausmisten die Nase voll. Vielleicht würde ich mich ganz schnell fragen, welche Kuh mich da geritten hatte.

Kathrin und ich landeten auf einem Bergbauernhof auf 1.430 Metern gleich unterhalb der Plose, einem Biobetrieb mit Ziegen, Hühnern und einem Esel.

»Aus Frankfurt und Köln kommt ihr, so so«, begrüßte uns Bauer Arnold, als er uns am Bahnhof in Brixen abholte. »Und jetzt kommt ihr also zu uns«, dachte er laut weiter.

»Ja, und wir können zupacken«, versuchten wir Arnold auf der Fahrt nach oben zu überzeugen. Eine halbe Stunde den Berg hinauf hatten wir Zeit, ihn abwechselnd mit Fragen zu löchern und Beweise für unsere Tatkraft zu liefern.

»Ich hoffe, dass wir diese Woche Heu machen können, jetzt, wo ich zwei Helferinnen habe«, erklärte uns Arnold. »Aber wahrscheinlich wird das Wetter nicht mitspielen. Dann gehen wir eben ins Holz!«

Das war unser Stichwort. Wir zwei gebürtigen Siegerländerinnen haben die Holzwirtschaft quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Gut, 35 Meter hohe Bergfichten haben wir selten gefällt – weder Kathrin, wenn sie ihrem Vater beim Brennholzmachen half, noch ich, als ich dabei war, wenn Papa und meine Brüder kleine Fichten umlegten, um damit eine Brücke über den Weiher auf unserem Grundstück zu bauen. Aber wir konnten von der Haubergswirtschaft erzählen, dem jahrhundertealten zyklischen Waldbewirtschaftungsprinzip aus unserer Heimat. Immerhin.

Kaum auf dem Hof angekommen, ging es auch schon los. Der Opa holte die Sense aus dem Schuppen, um rund um das Haus zu mähen.

»Das kann ich doch machen«, rief ich ihm übereifrig zu.

»Kannst du denn mit der Sense umgehen?«, wollte er wissen.

»Ja, das kenne ich von zu Hause«, erwiderte ich, um einen guten Eindruck bemüht.

Aber ehrlich gesagt hatte ich noch nie mit der Sense gemäht. Auch nicht mit einem Rasenmäher. Ich hatte eigentlich noch nie irgendetwas gemäht. Zusammengerecht ja, aufgeladen und abtransportiert, sowas. Handlangerarbeiten eben. Aber gemäht? Aus Angst um die Frösche und sicher auch um mich hatte Papa, der aus Prinzip Rasenmäher verabscheut und sein Lebtag auf die gute alte Sense setzt, mich nie rangelassen. Nun ja, die Geschichte ist schnell erzählt. Alle paar Meter stand mir ein Zaunpfahl im Weg und die Servolenkung der Sense war irgendwie kaputt. Ich scheiterte kläglich. Wortlos nahm der Opa mir die Sense ab, und das Gras war schneller gemäht, als Kathrin und ich gucken konnten. Wir kratzten es dann zu Haufen zusammen.

Danach ging es zum Melken.

»Als Kind war ich oft auf einem Bauernhof hier in der Nähe im Urlaub«, erzählte Kathrin Arnold und mir, während Arnold uns den Ziegenstall zeigte.

»Hast du denn auch gemolken damals?«, wollte unser Chef wissen.

»Klar«, sagte Kathrin, »ist halt nur ein paar Jahre her.«

Ich sagte lieber nichts, denn ich hatte auch noch nie irgendetwas gemolken. Wir hörten aufmerksam zu, als Arnold uns erklärte, wie sein Stall funktionierte. Zwei Bereiche gab es: den großen Laufstall für die Milchziegen und den Kindergarten für den Nachwuchs. 24 Ziegendamen waren zu melken, jeweils sechs auf einen Streich, praktisch im Melkstand, sodass wir uns noch nicht einmal zu bücken brauchten. Mit Kraftfutter lockte Arnold die ersten sechs in den Melkstand. »Bevor wir die Melkmaschine ansetzen, müssen wir kurz von Hand anmelken. So reinigen wir das Euter.« Die Zitzen sahen in Arnolds großen Arbeiterhänden winzig aus. Vorsichtig berührte ich zum ersten Mal ein Euter. Ganz dicht trat ich von hinten an die Ziege, die sich auf ihr Kraftfutter konzentrierte, heran. Warm, ein kleines bisschen ledrig, aber irgendwie vertraut fühlte es sich an. ›Gar nicht so viel anders als meine eigene Haut, nur ein bisschen rauer und ein bisschen fester‹, dachte ich. Während sich meine Finger um eine Zitze schlossen, um ihr ein paar Tropfen Milch zu entlocken, musste ich schlucken. ›Ob ich der Ziege wehtue? Was sie wohl von mir denkt, wenn ich ihr jetzt die Milch stehle, die eigentlich für ihre Zicklein ist?‹

Aber viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Arnold schaltete die Melkmaschine an und zeigte uns, wie die Milch direkt vom Melkstand aus über Edelstahlröhren in einen gekühlten Tank geleitet wurde. Von unten sollten wir die Melkkelche an die Zitzen heranführen und dann über diese stülpen, bis sie sich festgesaugt hatten. Sobald die Hände frei waren, ging’s zur nächsten Ziege. Als wir die ersten sechs gemolken hatten, öffneten wir für sie den Ausgang und trieben sie in einen Wartebereich, holten die nächsten sechs herein, gaben auch diesen Kraftfutter und melkten sie. Kathrin und ich grinsten uns an. »Cool, oder?«, rief ich zu ihr rüber, und wir klatschten uns ab. Kaum waren wir eine halbe Stunde im Stall bei den Tieren, hatten wir die Welt um uns herum vergessen. Köln, Frankfurt, der Ärger im Büro, was zählte das noch? Jetzt ging es einzig darum, uns um die Tiere zu kümmern und unsere Arbeit zu machen. Und plötzlich keimte Zufriedenheit in mir auf. In diesem Moment wusste ich genau, wofür ich mich hier anstrengte – es hatte Sinn! Und ich war durchströmt von der Wärme und Liebe der Tiere. Ja, ich weiß, es muss sich komisch anhören, denn die meisten Ziegen hatte ich nur von hinten gesehen, und ich hatte mich hauptsächlich mit ihren Zitzen beschäftigt. Und Ziegen sind keine Hunde, die sich fast selbstlos an uns Menschen ausrichten, ganz im Gegenteil. So anschmiegsam wie eine Katze, so dickköpfig wie ein Kind in der Trotzphase und so unstet wie die sprichwörtliche Hummel im Hintern. Und dennoch war ich bereits irgendwo in mir drin tief berührt und freute mich riesig auf die nächsten Tage. Nach dem Melken zeigte Bauer Arnold uns den Milchtank und seine kleine Käserei. »Morgen Abend könnt ihr mir beim Käsen helfen«, kündigte er an.

Gerade einmal ein paar Stunden waren wir jetzt hier, einen halben Tag und einen kurzen Abend. Aber mein Leben war schon dabei sich zu verändern. Ich war dabei mich zu verändern. Ich würde als jemand anderes nach Hause fahren. Ich war mir selbst hier, auf diesem ungewohnten Terrain, näher als in all den letzten Jahren in Köln, Hamburg oder sonst wo. Für manches würde es in meinem Leben keinen Platz mehr geben, für anderes plötzlich die Möglichkeit. Ich hatte mich herauskatapultiert aus einem zermürbenden Büroalltag in der Großstadt und hineingeworfen in einen Tagesablauf, der an erster Stelle von den Tieren und vom Wetter bestimmt wurde. Von jetzt auf gleich war mein Terminkalender arbeitslos geworden, und mein iPhone brauchte ich nur noch als Wecker. Meine neuen Arbeitskollegen hatten vier Beine und waren vergleichsweise leicht zu händeln. Statt Kostüm oder Anzug trug ich Blaumann, Gummistiefel und ungekämmte Haare.

Die nächsten Tage auf dem Bergbauernhof vergingen wie im Flug. Wir sammelten den Hühnern die Eier unter dem Hintern weg, gingen mit dem Opa ins Holz, schauten Arnold beim Käsen über die Schulter, rissen den alten Hühnerstall ab und retteten Rehkitze vor dem Motormäher. Wir verkauften die selbst gemachten Bio-Produkte auf dem Wochenmarkt und halfen unserer Gastfamilie bei der Buchhaltung. Wir kochten aus den Südtiroler Bergeiern Siegerländer Eierkäs und stopften Schokoriegel in uns rein, weil wir mit dem Kaloriennachschub nicht hinterherkamen. Wir machten uns schmutzig, schwitzten aus allen Poren und schliefen wie Steine. Wir erledigten, was zu erledigen war, und wenn wir mit einer Arbeit fertig waren, gab unser Chef uns eine nächste. Wir schafften so viel weg wie noch nie in unserem Leben. Wir waren stolz – und glücklich!

Und ich, ich hatte Feuer gefangen. Plötzlich war alles anders! Denn jetzt war mir klar, dass meine Qualen im Büro endlich waren. Ich selbst hatte es ja in der Hand, sie zu beenden! Denn ich würde meine Segel neu setzen! Ich war weniger erschrocken darüber, dass ich das vergessen hatte, sondern einfach nur erleichtert, weil ich es wiederentdeckt hatte. Bei Bauer Arnold waren offensichtlich nicht nur meine Arme und Beine stärker geworden. Nein, die paar Tage voll harter Arbeit hatten meinen Blick geschärft und meinen Willen aufgerichtet. »Ätschibätschi«, rief mir mein inneres Kind jetzt immer häufiger zu, wenn ich mich im Büro ärgerte, »ich kann aber mit der Seilwinde einen Baum aus dem Wald ziehen und aus eigener Kraft dreieinhalbtausend Meter hohe Berge besteigen!« Und wenn ich das konnte, dann konnte ich noch viel mehr. Nein sagen zum Beispiel. Oder Stopp. Oder ja. Oder kündigen.

Mit Option A hatte ich also ins Schwarze getroffen. Dennoch wollte ich mich absichern und mir auch die zweite Lösungsidee, eine Saison auf einer Berghütte, noch einmal aus der Nähe anschauen. Ich buchte für den Sommer eine Hochtour durch die Ötztaler Alpen, die unsere Gruppe auf mehrere Dreitausender-Gipfel führte. Umgeben von Fels und Eis war ich voll in meinem Element. So sehr ich den Wald liebe, oberhalb der Baumgrenze ist auch mein Revier. Die klare, kalte Luft, die reiche Leere und das Gefühl, es aus eigener Kraft bis hier hinauf geschafft zu haben, ließen mein Herz hüpfen. Doch nach dem dritten Hüttenabend wusste ich: Auf einer Berghütte würde ich nicht arbeiten wollen. Kochen, Servieren, Putzen und Betten beziehen konnte ich auch in der Stadt. Aber jeden Tag draußen sein, bei Wind und Wetter, Sonne und Schnee, meine geliebten Berge mit Haut und Haaren erleben, mich im Nebel verlieren, an Kuhbäuchen seufzen und im Duft von Heu einschlafen, das konnte ich nur auf der Alp.

Zurück in Köln träumte ich von jetzt an groß. Längst ging es mir nicht mehr nur darum, einen Sommer in den Bergen zu verbringen. Nichts weniger als mein ganzes Leben wollte ich umkrempeln! Ich wollte frei sein. Den furchtbaren Job an den Nagel hängen. Ausbrechen. Aufbrechen. Eine Coachingausbildung absolvieren. Auf die Alp gehen. Mich selbstständig machen. Und ganz vielleicht, wenn mir das Älplerleben tatsächlich gefallen würde, wieder auf die Alp gehen. Und wieder. Denn diese Freiheit hätte ich ja dann.

Genau kann ich mir nicht erklären, wie es überhaupt passieren konnte, dass ich in einem Unternehmen gelandet war, das zu null Prozent zu mir passte. Vielleicht lag es daran, dass ich von dem Job davor irgendwann auch nur noch wegwollte und dass meine »weg von«-Motivation damals so viel stärker war als das »hin zu«. Ja, wahrscheinlich hatte ich nicht genug sondiert und mich zu schnell auf die neue Stelle eingelassen.

Ich blickte zurück auf mein Studium, das ich mir als »rasende Reporterin« bei einer Tageszeitung finanziert hatte, auf die Praktika bei Audi, L’Oréal und der Krombacher Brauerei, auf Sommerjobs in Kanada, Australien und der Schweiz und auf elf Jahre Angestelltendasein. Der Zufall hatte es gewollt, dass ich nach dem Studium meinen Anker bei einer Flusskreuzfahrtreederei warf. Ich bezog eine kleine Wohnung in Köln und stürzte mich ins Geld- und Renteverdienen. Ziemlich schnell fand ich Gefallen an meiner Aufgabe, an den Dienstreisen, dem Unterwegssein. Ich lernte an Land und an Bord viele Menschen kennen und wurde immer fleißiger und fleißiger. Bald schon kannte ich keine Feierabende und Wochenenden mehr. Einmal musste mir sogar ein Teil meines Jahresurlaubs ausbezahlt werden, so hatte ich mich in meinem Hamsterrad eingerichtet. Aber ich durfte mich »Marketingleiterin und Pressesprecherin« nennen und einiges von der Welt sehen, an wichtigen Meetings teilnehmen und meine Firma national und international repräsentieren. Aus dem ersten Job, den ich zwei, höchstens drei Jahre hatte ausprobieren wollen, wurde schließlich eine kleine Karriereleiter, die ich über acht Jahre lang beschritt.

Nächste Station: das wunderschöne Hamburg! Nun durfte ich mich um die Vermarktung von Hochseekreuzfahrten kümmern und schipperte für Fotoshootings oder Pressereisen auf Schiffen einer anderen Größenordnung durch die Welt. Dass ausgerechnet während meiner Zeit in Hamburg die Costa Concordia untergehen würde, konnte niemand ahnen. Über Nacht hatte unser Büroalltag mit all seinen Finessen – dem Flurfunk, der Gerüchteküche und der peniblen Regelung der Raucherpausen – keine Bedeutung mehr. Wir rückten eng zusammen und gaben alle gemeinsam unser Äußerstes, um diese schwere Zeit zu bestehen. Es war uns eine Ehrensache, den betroffenen Familien so gut wir konnten beizustehen.

Und dann wieder Köln, das mich lebenslustig-kunterbunt willkommen hieß. In meinem Veedel, dem Eigelstein, ließ ich mich vom Multikulti-Treiben anstecken und wurde Stammkundin im marokkanischen Copyshop, vietnamesischen Restaurant und türkischen Gemüseladen. Meine Innenhofterrasse entwickelte sich an lauen Sommerabenden zum geselligen Hotspot, und ich begann, die Erlebnisse bei Bauer Arnold im Herzen, mein neues Leben aufzubauen, je zäher die Stunden im Büro, desto mehr. Als mein Arbeitgeber den mir gesetzlich zustehenden Bildungsurlaub für die Coachingausbildung ablehnte, war das kein Hindernis, sondern eine Extraportion Öl in mein Feuer.

Natürlich hielt ich an meinen Plänen fest und absolvierte in aller Ruhe und an regulären Urlaubstagen die Ausbildung. Im Winter bewarb ich mich bei Familie Aeby in der Schweiz. Im Frühling 2014 legte ich die Abschlussprüfung der Coachingausbildung ab und kündigte Job, Wohnung und Yogakurs. Und dann ging ich auf die Alp.

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